Copperhead / Live & Lost
Live & Lost
Gleich vorneweg: Um keine Illusionen bei Fans der Band um den verstorbenen John Cipollina zu wecken, hier geht es nicht um Aufnahmen aus den Jahren 1970-73. Es handelt sich um Material aus dem Archiv der Southern-Hardrock Band Copperhead aus den frühen 90ern.
Wer sich mit dem Titel Prof. dr. dr. hc. im international anerkannten Universitätsfach Südstaaten-Rock schmückt (ob ordentlicher, privater oder emeritierter Professor, spielt keine Rolle), darf den folgenden Abschnitt mit der Bandgeschichte überspringen.
Die Band wurde anno '86 in der Kleinstadt Morganton, North Carolina ins Leben gerufen. Der Umstand, dass nur einen Steinwurf entfernt ein noch kleineres Kaff namens Salem liegt, veranlasste die Band nicht dazu, den Stil des ehemaligen Outlaws-Gitarristen Freddie Salem (solche Songs sind zum Glück längst 'Long Gone') zu kopieren. Viel mehr orientierten sie sich an den legendären Blackfoot zu deren Glanzzeit 1979-1982, gepaart mit einem noch druckvolleren, schwermetalligen Sound der späten 80er á la Tesla.
"'Southern Rock with a Metal edge", wie es eine Zeitung in den USA treffend auf den Punkt brachte.
Schließlich spielten sie 1992 ihr - heute als Kult geltendes - Debüt für das Major-Label 'Polygram' unter der Leitung des Produzenten-Magiers Tom Dowd und des Königs des Mischpults, Rodney Mills (auch Co-Produzent) ein, die seit den Aufnahmen zum Skynyrd-Album "Street Survivors" geradezu verfeindet waren. Die Band führte sich mit Tourneen als Support von Molly Hatchet und 38 Special in die Southern-Rock-Szene ein, die damals aber längst keine so große Anhängerschaft wie noch 10-15 Jahre früher besaß. Trotz gelegentlichem Radio-Airplay konnten es Copperhead auf dem Höhepunkt der Grunge-Hype nicht schaffen, mit ihrem Hardrock kommerziell erfolgreich zu sein. 1994 verließ Sänger, Gitarrist und Haupt-Songwriter Neil Carswell aus persönlichen Gründen die Band und nicht lange darauf löste sie sich auf. Wie ungerecht diese Welt doch ist...
Wie Phönix aus der Asche stieg Anfang des neuen Jahrtausends jener Carswell wieder auf, und mit ihm tauchte wie durch ein Wunder 2002 diese CD mit zwölf bislang unveröffentlichten Songs auf, die vier Live-Stücke und acht Studiosongs enthält. 'Live & Lost', bedeutet aber beileibe nicht 'Alive & Well', denn Copperhead sind Geschichte.
Die anderen vier ehemaligen Mitglieder sind in anderen musikalischen Projekten involviert. Der ehemalige Lead-Gitarrist Jon Byrd und ex-Bassist Tony Hawkins spielen in einer Band namens Hybrid zusammen und machen einen Alternativ-Krach, der fast schon weh tut.
Genaue Informationen über das Entstehungsjahr der Aufnahmen gibt es leider nicht, es ist aber anzunehmen, das sie aus den Jahren 1991-94 stammen. Als alleiniger Produzent fungierte Rodney Mills und folgerichtig gibt es am Sound nichts auszusetzen, der ist fast noch besser als auf dem Debüt von 1992. Bei allen Songs wirkte die Originalbesetzung mit, wie es dem Booklet - u.a. dem 2002 verstorbenen Tom Dowd gewidmet - zu entnehmen ist.
Die vier Konzertaufnahmen mit Titeln von der '92er CD wurden für eine Live-EP mitgeschnitten, die aber damals - aus welchen geheimen Gründen auch immer - in den Archiven verschwanden. Die Songs, in einem Club in heimatlichen Gefilden eingespielt, lassen nichts zu wünschen übrig, denn die fünf Musiker zeigen sich in absoluter Spiellaune. Schade, dass eine Zeitreise nicht möglich ist und wir uns nicht wünschen können, noch wenigstens "The Scar", "Busted", "Brown's Gold" und "Highway" undundund auf dieser CD in ihrer Live-Pracht erleben zu dürfen. Wie ungerecht diese Welt doch ist...
Die äußerst eingängige Mitgröl-Hymne "Hard Livin'" mausert sich zwischenzeitlich - mit der Herausnahme des Tempos und der Lautstärke sowie dem interessanten Solo von Brad Durden an der Orgel - zum künstlerisch wertvollen Geheimfavoriten. "Born Loser" wird durch ein wunderschönes Gitarrensolo veredelt, während man beim melodischen "Keepin' On" den wunderbaren Twin-Gitarren und einem Basssolo lauschen darf. Carswell klingt wie eine um Nuancen rauhere, dreckigere Ausgabe von Rickey Medlocke und kann mit seinen Ansagen - ähnlich wie der frühere Blackfoot-Häuptling - das Publikum auf seine Seite ziehen. Dazu immer wieder diese Slide!
Der glatte Wahnsinn ist aber die Live-Version von "Whiskey". Freunde, vergesst "Whiskey Man" und "Whiskey Rock-A-Roller", dies ist der ultimative Song über den beliebten Stoff der Southern-Rock-Bewegung . Die im ersten und letzten Drittel des Stückes ausgetragenen, von der Studioversion abweichenden Gitarrenduelle sind vielleicht nicht die anspruchsvollsten ("Song For You" von den Outlaws ist noch zu überbieten), man wird aber von der Intensität schier überwältigt, hier vor der heimischen Anlage. Wie muss es wohl vor Ort zugegangen sein?! Verflixt, ich darf bei dieser Nummer nicht zum fünfzigsten mal die Repeat-Taste drücken, sonst werde ich nie fertig mit dieser Rezension. Wie ungerecht diese Welt doch ist...
Es wäre aber auch nicht fair, die gleiche Messlatte bei den acht restlichen Songs anzulegen, denn natürlich kann der eher cleane Studio-Sound mit der Live-Atmosphäre nicht mithalten. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass es sich hier um irgendwelche drittklassige Demos handelt, die aufgrund songwriterischer oder sonstiger Mängel (ansonsten eine Politik, die von unzähligen miserablen Reissues und aufgeblasenen Boxsets bekannt ist) erst 2002 das Licht der Welt erblickt haben. Das sind alles sauber produzierte und schön arrangierte Songs. Die Namen Copperhead und Rodney Mills bürgen für Top-Qualität. Lesen die von der 'Stiftung Warentest' die RockTimes oder sind die nur mit den WM-Stadien beschäftigt?
Da wir diese brennende Frage nicht endgültig klären können, wenden wir uns wieder der Musik zu. Die einzige Nummer die etwas aus dem Rahmen fällt, ist das an den Bereich Power-Metal grenzende Instrumentalstück "Stricken". Nur mit dem klitzekleinen Unterschied, dass es in eben jenem Genre keine Nummer gibt, in der es gleichzeitig Twin-Gitarren, Orgel und eine kurze Slide-Einlage gibt. Heftig rockt auch "Get Out Of My Way". "Drift Away" hingegen ist eine schöne Soul-Pop Nummer - ein Dobie Gray-Cover - mit akustischem Intro und Outro, vielen Gitarrensoli, aufgemotzt auf Southern-Art eben.
Trotz der heavy Gitarren bleibt das Boogie-Feeling bei "Whiskey Mama" (im Original von ZZ Top) erhalten und beim fast schon mystischen (mythischen?) "Raging Fire" - von Terry Eckard, einem in N. Carolina lokal bekannten Musiker komponiert - geht wieder die Post ab. "Free Man" bietet psychedelische Riffs und Gitarren-Einlagen, die fast schon hypnotisierend wirken. Erst wenn am Ende diese beiden Äxte zu einem doppelstimmigen Solo zusammenkommen, wird der liebe Hörer aus dem Wachkoma aufgeweckt. In diese Psycho-Richtung geht auch die Ballade "Voices In The Night".
Doch halt, noch bevor jemand wegen dieser Platte in die Klapsmühle kommt! Das Highlight unter den Studio-Songs ist "I'll Get By", dessen erster Teil mit akustischer Gitarre, Slide und Gospel-Orgel unter dem Motto 'back to the roots' steht, um danach mit einigen himmlischen Gitarrensoli loszurocken, ohne dabei die wunderbare Grundstimmung zu gefährden. Wer diesen Roadsong über Sinn und Unsinn des Lebens als (Southern) Rock-/Blues-/Country-Fan - also alle Menschen, die mit etwas Ratio ausgestattet sind - nicht kennt, hat verloren.
Alles in allem ist das eine sehr schöne Veröffentlichung, für Southern Rock-Aficionados ein Muss, aber auch Hardrock- und Heavy Metal-Fans zu empfehlen. Wer noch nicht überzeugt ist, kann auf der Copperhead-Homepage reinhören. Wer sich aber auch fragt, was Neil Carswell aktuell treibt, sollte seine Homepage besuchen und seine neuen Songs kennen lernen, die er mit diversen illustren Gästen einspielte und in diesem Jahr unter dem Titel "South Wind" veröffentlichen möchte.
Es scheint sich aber eher um ein laues Lüftchen als um ein Hurrikan zu handeln, denn die Stücke ähneln stark dem momentan in den USA populären New Country-Bereich. Na ja, eigentlich kein Wunder, dass der ehemalige Copperhead-Shouter den Crooner gibt, denn er residiert inzwischen im Mekka der Country-Musik, Nashville. Wie ungerecht diese Welt doch ist...
Na ja, falls es in der Wahlheimat doch nicht mit der große Karriere klappen sollte, können wir eventuell doch auf eine 30th-Anniversary Reunion-Tour im Jahre 2022 (alternativ: 2032) hoffen. Dann wäre die Gerechtigkeit auf dieser Welt wieder hergestellt. Bis dahin: "Live & Lost" in vollen Zügen genießen!


Spielzeit: 50:49, Medium: CD, Eastwinds Records, 2002
1:Stricken 2:Get Out Of My Way 3:Hard Livin' (live) 4:Born Loser (live) 5:Whiskey (live) 6:Keepin' On (live) 7:Drift Away 8:Whiskey Mama 9:Raging Fire 10:I'll Get By 11:Free Man 12:Voices In The Night
Janos Wolfart, 02.03.2006