Miles Davis
At The Fillmore 1970 - The Bootleg Series Vol.3
At The Fillmore 1970 Spielzeit: 68:55 (CD 1), 57:59 (CD 2),
66:14 (CD 3), 57:26 (CD 4)
Medium: CD-Boxset
Label: Sony Legacy, 2014 (1970)
Stil: Jazz, Fusion


Review vom 16.04.2014


Wolfgang Giese
Nach den Bootleg Series Vol. 1 und Vol. 2 hat Sony Legacy Music jetzt einen dritten Teil der Musik des Trompeters nachgeschoben. Eigentlich ist die Bezeichnung 'Bootleg' im Titel nicht ganz korrekt, denn im Gegensatz zu den Vorgängern handelt es sich bei diesen Aufnahmen aus dem Fillmore East in New York um offizielle Mitschnitte von Columbia unter Mitwirkung des Produzenten Teo Macero. Nicht um Radioaufnahmen oder private Mitschnitte, allerdings - auf die drei Bonustracks aus dem Fillmore West/San Francisco vom 11. April 1970 bezogen - ist deren Soundqualität dann schon eher dem Albumuntertitel zuzuordnen, denn sie klingen sehr stark nach 'Bootleg', eher etwas 'Lo-Fi', sozusagen . Aufnahmen vom Vorabend kann man im Übrigen auf dem Doppelalbum "Black Beauty", zunächst 1973 nur in Japan veröffentlicht, in guter Qualität genießen.
Bitches Brew war gerade erschienen und hatte sicher bei einigen Musikliebhabern wie eine Bombe eingeschlagen. Nun wurden einige Titel dieser Veröffentlichung live gespielt und boten einem im Fillmore East in New York eigentlich eher Rockmusik gewöhntem Publikum ganz andere und vielleicht befremdlich wirkende Musik, trotz der Öffnung des Musikers zu Elementen des Rock. Der dann noch später folgende intensive Funk von Platten wie "On The Corner" mit seiner radikal wirkenden Ausprägung war noch nicht so intensiv vorhanden. Noch begannen Rock und Jazz auf einführende Art zu fusionieren und öffneten dem Bereich des Funk dazu bereits ein Türchen.
Insgesamt - und das sei eine Warnung - erwartet die Hörerschaft oft wilde und unkontrolliert wirkende leidenschaftlich gespielte Musik, die durchaus auch an den Nerven zerren kann, zwischen fließend und wenig strukturiert oft einfach nur dahinzuschweben scheint, dann aber auch extrem stark bestimmt von kratzig und oft nicht harmonisch klingenden Keyboards - hier gleichzeitig von zwei Tastendrückern, Chick Corea und Keith Jarrett, vorgetragen. Gelegentlich endete das gar in einem Klangbrei. Dazu ein brummelnder E-Bass und wirbelndes Schlagzeug, sodass dies noch heute im Zusammenspiel der Elemente für Verwirrung sorgen kann. Selbst Davis offenbarte manchmal nur bruchstückhafte solistische Ausflüge auf der Trompete, die er mitunter stakkatohaft vortrug. Die meisten Titel sorgten darüber hinaus durch repetitive Muster, etwa durch minutenlang gleiche Bassläufe, für eine tranceartige Atmosphäre, die insofern auch Grenzen der einzelnen Stücke verschwimmen lassen. Kaum hat ein Titel begonnen, findet man sich schon plötzlich im dritten danach wieder.
Für ganz besondere Momente, eine sehr interessante und auflockernde Note sorgte der später bei Weather Report tätige Perkussionist Airto Moreira. Man bemerkt hier bereits Elemente jener Band, die schon bald gegründet werden sollte. Mitunter swingte es auch und dann hoben zum Beispiel einer der Keyboarder, Bass und Schlagzeug ab - zum Beispiel beim Titel "The Mask" finden sich solche Zutaten. Weiterhin ein paar Worte zur Besetzung am Saxofon: Hierzu ist mir aufgefallen, dass mit Steve Grossman ein Saxofonist spielte, der nicht die Ausstrahlung und die Gestaltungsfähigkeit der bisher stark mitprägenden Mitspieler des Trompeters am Saxofon, also John Coltrane und Wayne Shorter, besaß. So verbleiben seine Beiträge knapp bemessen und beschränken sich für mich auf größtenteils wild anmutende Ausbrüche, die spieltechnisch sicher untadelig sind, aber nicht jene besonderen Eindrücke hinterlassen wie es seine Vorgänger vollbrachten, die wesentlich mehr im Vordergrund standen. Grossman sehe ich mehr in der Rolle eines reinen Mitspielers, nicht eines Gestalters.
Ausgewählte Aufnahmen dieser Konzerte erschienen übrigens bereits 1970 auf einer Doppel-LP. Genau gesagt waren es vier Titel, die den jeweiligen Aufnahmetagen zugeordnet waren, also zum Beispiel "Wednesday Miles" etc. Siebzehn Stücke wurden später auf der Doppel-CD "Miles Davis At Fillmore" veröffentlicht und nun gibt es satte achtundzwanzig Stücke jener Tage aus dem Fillmore East/New York City, eingespielt zwischen dem 17. und 20. Juni 1970 - jeweils eine CD für einen Tag, plus die Boni. Das führt natürlich dazu, dass einige Titel mehrfach vorhanden sind. Spitzfindige mögen sich hierbei zur peniblen Nachschau aufgerufen fühlen, worin die Unterschiede zwischen den einzelnen Interpretationen bestehen. Ich lasse die Musik einfach einwirken, dabei geht es mir besser. Zu den Wiederholungen gesellen sich dann allerdings auch einige Einzeltitel, die sich nun genießen lassen, waren diese doch ursprünglich auf der LP nicht vorhanden.
Beim zweiten Konzert gibt es zum Beispiel als Zugabe "Spanish Key" und am Samstag dann aus den Sessions zu "Jack Johnson" den Titel "Willie Nelson".
Diese Musik dringt in Mark und Bein, sie gräbt sich tief in die Seele, man kann sich mitreißen lassen in diesem Strom und wird Wunderbares erfahren: Virtuosität, Leidenschaft, Abwechslung trotz oberflächlich wirkender Gleichförmigkeit. Musik wie ein Vulkan, dessen Lava sich schwer fließend ergießt und alles mitreißt. Dabei spielen alle Musiker ihr professionelles Potenzial aus. Ganz hervorragend beherrscht der Schlagzeuger, Jack DeJohnette, das Wechselspiel der Stimmungen - das Stehenbleiben und Innehalten, das Wiederanfahren, das Vorwärtspreschen, die Umsetzung von Polyrhythmen. Mit scheinbar stoischer Ruhe setzt Dave Holland mit seinem Bass wichtige Akzente. Die wirklich 'Wilden' sind die Keyboarder, die sich beide oft wie die Wahnsinnigen austoben.
Anzumerken ist noch, dass es im Gegensatz zu den ersten beiden Veröffentlichungen dieser Serie nun keine visuelle Unterstützung in Form einer DVD gibt. Dafür sind ein dickes informatives Booklet und ein kleines zusammengefaltetes Poster mit Meldungen des Rolling Stone auf der Rückseite beigelegt.
Line-up:
Fillmore East:
Miles Davis (trumpet)
Steve Grossman (tenor and soprano sax, flute)
Chick Corea (Fender Rhodes electric piano)
Keith Jarrett (electronic organ)
Dave Holland (acoustic and electric bass)
Jack DeJohnette (drums)
Airto Moreira (percussion, cuica, voice)

Fillmore West:
Miles Davis (trumpet)
Steve Grossman (tenor saxophone, soprano saxophone)
Chick Corea (Fender Rhodes electric piano)
Dave Holland (electric bass)
Jack DeJohnette (drums)
Airto Moreira (percussion, cuica, voice)
Tracklist
CD 1: Fillmore East, Wednesday, June 17, 1970
01:Introduction [Bill Graham] (0:04)
02:Directions ([J. Zawinul] (10:23)
03:The Mask [M. Davis] (11:04)
04:It's About That Time [M. Davis] (10:45)
05:Bitches Brew [M. Davis] (13:41)
06:The Theme [M. Davis] (0:35)
07:Paraphernalia [W. Shorter] (From the Fillmore West, April 11, 1970) (11:02)
08:Footprints [W. Shorter] (From the Fillmore West, April 11, 1970) (11:13)
CD 2: Fillmore East, Thursday, June 18, 1970
01:Directions [J. Zawinul] (10:10)
02:The Mask [M. Davis] (11:29)
03:It's About That Time [M. Davis] (12:03)
04:Bitches Brew [M. Davis] (11:58)
05:The Theme [M. Davis] (1:29)
06:Spanish Key [M. Davis] (10:20)
07:The Theme [M. Davis] (0:28)
CD 3: Fillmore East, Friday, June 19, 1970
01:Directions [J. Zawinul] (12:50)
02:The Mask [M. Davis] (10:00)
03:It's About That Time [M. Davis] (11:27)
04:I Fall In Love Too Easily [S. Cahn-J. Styne] (1:48)
05:Sanctuary [W. Shorter-M. Davis] (3:25)
06:Bitches Brew [M. Davis] (12:38)
07:The Theme [M. Davis] (0:38)
08:Miles Runs "he Voodoo Down [M. Davis] From the Fillmore West, April 11, 1970 (13:20)
CD 4: Fillmore East, Saturday, June 20, 1970
01:Directions [J. Zawinul] (10:28)
02:The Mask [M. Davis] (11:15)
03:It's About That Time [M. Davis] (11:03)
04:I Fall in Love Too Easily [S. Cahn-J. Styne] (1:21)
05:Sanctuary [W. Shorter-M. Davis] (3:20)
06:Bitches Brew [M. Davis] (9:39)
07:Willie Nelson [M. Davis] (9:21)
08:The Theme [M. Davis] (0:37)
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