Herbie Hancock / The Warner Bros. Years (1969-1972)
The Warner Bros. Years (1969-1972) Spielzeit: 43:14 (CD 1), 57:21 (CD 2), 52:13 (CD 3)
Medium: CD-Boxset
Label: Warner Music, 2014 (1969, 1971, 1972)
Stil: Jazz Rock


Review vom 10.08.2014


Steve Braun
An Herbie Hancock mögen sich vielleicht die Geister des Jazz und seiner Freunde scheiden. Die einem werfen ihm vor, sich jedem kommerziellen Trend angebiedert zu haben - die anderen sehen ihn als Fidel Castro des Jazz: gemeinsam mit Miles Davis 'die ewige Revolution' des Genres vorantreibend. Den Grundstock dieses Weges legte Hancock wohl in seiner Zeit bei Warner Brothers, also von 1969 bis 1972 und damit in die Phase des bahnbrechenden Bitches Brew fallend. Warner Music legt diese Trilogie, die als eine der fruchtbarsten Perioden Hancocks angesehen werden darf, nun in einer überaus edlen 3-CD-Box neu auf.
Die Klappbox enthält drei Pappschuber, die liebevoll dem originalen Artwork derjeweiligen Platte nachempfunden wurden. Jedes Album wurde mit Bonustracks zusätzlich aufgewertet. Prunkstück ist das 32-seitige Booklet, das mit einem Essay von Bob Gluck, dem Verfasser der Biografie "You'll Know When You Get There: Herbie Hancock And The Mwandishi Band", zu glänzen versteht.
Bei der Bewertung von Hancocks Hinwendung zum Funk, Soul und R&B sollte der gesellschaftliche Kontext der damaligen Zeit in den US berücksichtigt werden. Sein Weg war Ausdruck eines zunehmenden Stolzes der Afroamerikaner - inmitten allgegenwärtiger Diskriminierungen - auf ihre afrikanischen Wurzeln. Cassius Clay hatte sich einen entsprechenden 'Nom de Guerre' zugelegt und kolportierte die Legende, wonach er angeblich seine olympische Goldmedaille in den Ohio River geworfen habe - Black Panther hielt nicht mehr die 'andere Wange' hin, sondern schlug zurück - die Farbigen wagten es, einen Traum zu haben - Hancock nannte sich Mwandishi [übersetzt: 'Komponist', vgl. Spiegel-Interview von 1991], seine Band gab sich ebenfalls 'Kampfnamen' und gemeinsam lehrte man dem vom weißen Establishment dominierten Jazz, dass die 'Schwarzen' einfach den besseren Groove draufhaben...
Fat Albert Rotunda Drei Alben - drei Jahre - trotzdem könnten die Songkollektionen kaum unterschiedlicher sein! Den Reigen eröffnet "Fat Albert Rotunda" von 1969 - rund ein halbes Jahr vor "Bitches Brew" erschienen und mindestens ebenso epochal - und von den dreien das am stärkten im Funk Jazz/Jazz Rock verwurzelt, dem sich Hancock wenige Jahre später vermehrt widmen sollte. Hörer, die - wie ich - im Laufe der zweiten Hälfte der Siebziger zum Jazz gefunden haben, sollten diese Aufnahmen sicherlich vorzüglich gefallen.
Gleich die beiden eröffnenden Nummern, "Wiggle-Waggle" und "Fat Mama", grooven unter enormen Zug der Rhythmusfraktion in satt bratenden Funk Jazz. Fettes Gebläse setzt immer wieder 'wütende' Nadelstiche, während sich der Meister selbst an seinem Fender Rhodes vergleichsweise eher zurückhält. Beide werden übrigens als Bonustracks nochmal als Single-Versionen im Monoformat dargeboten - jawollja, damals gab es noch erfolgreiche Jazz-Singles, in heutigen Tagen nur noch schwer vorstellbar.
"Tell Me A Bedtime Story" klingt wie ein Vorgriff auf die jazzrockigen Siebziger - sehr cremiges Gebläse und toller Flöteneinsatz von Joe Henderson. Enorm schwerblütig 'kommt' "Oh! Oh! Here He Comes" daher. Auch hier reicht dem Maestro ein 'jazzfunkiges' Fender Rhodes für seine solistischen Exkursionen - eine druckvolle Bass-Linie zielt über die gesamte Länge voll auf den Solarplexus. Das stille "Jessica" besticht dagegen durch bezaubernde Grand Piano-Figuren, weiche Flügelhorn- und Flöteneinsätze sowie entspanntes Bar-Feeling. Auch der Titelsong und "Lil' Brother" dokumentieren Hancocks radikale Abkehr von der Jazzgrundlage früherer Alben, hin zu einer eher funkig-souligen, enorm tanzbaren Basis und outet "Fat Albert Rotunda" als ein wahres Gesamtkunstwerk. Fraglos einer DER Jazz Funk-Klassiker schlechthin!!
Mwandishi "Mwandishi" ist wohl das essentiellste Album Herbie Hancocks; jedenfalls das, was am häufigsten bei seiner Namensnennung mit ihm assoziiert wird. Und eines, das in der Musikwelt bombenmäßig einschlug, weil der Pianist hier alle traditionellen Jazzphrasierungen aufbrach und ein neues, sehr kreatives Idiom in das Genre einbrachte. Hierbei hat ihn ganz sicher die Arbeit mit Miles Davis für dessen "In A Silent Way"-Album (1969) stark beeinflusst. Der schematische Aufbau der Songs, auf dem Vorgänger noch vorherrschend, wurde mit "Mwandishi" völlig aufgebrochen. Die Themen - bzw. eigentlich ist es eher eine ganze Palette von Klangfarben - fließen hier ebenso frei wie die (teils ziemlich freejazzigen) Improvisationen und die drei Stücke strömen derart machtvoll ineinander, dass "Mwandishi" als Einheit anzusehen ist. Damit entwickelt es eher den Charakter einer dreiteiligen Suite.
Ich kann mich noch (augenzwinkernd) erinnern, wie wir in WG-Zeiten zu "Mwandishi" immer das Licht dimmten, selbstgebackene Kekse mit sehr speziellen Cerealien mampften, dazu aufdringlich duftenden indischen Tee schlüften und uns von stinkenden Stäbchen beweihräuchern ließen... und irgendwie habe ich einen Flash Back, während ich "Mwandishi" - anlässlich dieser Wiederveröffentlichung - nun erstmals seit Jahrzehnten wieder richtig intensiv hörte. Ein richtiges Schmankerl für einen gefühlsechten Abend...
Die beiden Bonustracks machen richtig Laune, weil sie bis dato noch nie veröffentlicht wurden. Es handelt sich um eine sehr kompakte Promoversion von "Ostinato" und das im gleichen Jahr entstandene "You'll Know When You Get There", ebenfalls eine Aufnahme zu Promozwecken. Letzteres hat straffere Strukturen als die drei Originalstücke und deshalb wohl seinerzeit keine Berücksichtigung für "Mwandishi" gefunden. Trotzdem passt es stimmungsmäßig hervorragend zu den Aufnahmen - ist vielleicht sogar der zugänglichste der fünf Titel.
"Mwandishi" entpuppt sich dank des furios aufspielenden Mwandishi Sextet - wenig überraschend - als der zweite Klassiker dieser Box.
Crossings "Crossings" nimmt den Faden von "Mwandishi" bereitwillig auf und spinnt ihn konsequent weiter. Die Strukturen bleiben erneut weit geöffnet, allerdings lässt Herbie Hancock wesentlich dynamischere Rhythmen zu. Jedes Bandmitglied, die Besetzung nahezu identisch mit der von "Fat Albert Rotunda", hat hierbei seinen Beitrag mit Percussion-Instrumenten beigesteuert - selbstredend, dass hier auch wieder mehr 'funkige' Elemente Einzug hielten, allerdings wesentlich 'freier'. Man höre (und spüre) diesbezüglich nur einmal nach, wie der das Album eröffnende "Sleeping Giant" langsam erwacht. Patrick Gleeson steuert hier einige Bassparts mit dem wenige Monate zuvor in den Handel gekommenen Minimoog bei und hinterließ damit, wie auch mit zirpenden Figuren beim freejazzigen "Quasar", einen nachhaltigen Eindruck bei Hancock, der im Folgenden mit Synthesizern aller Art zu experimentieren pflegte. "Crossings" stellt also die Büchse der Pandora dar: Die elektronischen Einflüsse bestimmten daraufhin maßgeblich des Meisters Arbeiten - nicht unbedingt zu jedermanns Entzücken.
Persönlich bin ich bezüglich "Crossings" eher zwiegespalten - bei aller kompositorischer Genialität: Mellotronparts, wie in "Water Tortures", brauche ich nicht zwingend für musikalischen Hochgenuss im Jazz. Ein Fender Rhodes (mehr war es in "Mwandishi" nicht!) reicht mir da völlig aus... Dessen ungeachtet ist "Crossings" natürlich keinesfalls 'das hässliche Entlein' unter diesen drei Platten - im Gegenteil.
Abgerundet werden diese Aufnahmen mit zwei Singles als Boni: den Titelsong, bereits deutlich auf die Funk- und Soul-Charts fixiert, und ein ganz vorzügliches Exzerpt von "Water Trouble". Wahnsinn, wie man vierzehn Minuten auf ganze drei (und damit auf das Wesentliche) 'eindampfen' kann.
All dieses 'Geschwafel' zu "The Warner Bros. Years (1969-1972)" kann man natürlich auch auf drei kleine Wörtchen reduzieren: muss man haben!!!
Line-up:
"Fat Albert Rotunda":
Herbie Hancock (piano, electric piano)
Joe Henderson (tenor sax, alto flute)
Joe Farrell (tenor sax)
Garnett Brown (trombone)
Johnny Coles (trumpet, flugelhorn)
Joe Newman (trumpet)
Buster Williams (electric and acoustic bass)
Albert 'Tootie' Heath, Bernard Purdie (drums)
Eric Gale (guitar)

"Mwandishi":
'Mwandishi' Herbie Hancock (electric piano)
'Mchezaji' Buster Williams (bass)
'Jabali' Billy Hart (drums)
'Mganga' Eddie Henderson (trumpet, flugelhorn)
'Mwile' Bennie Maupin (bass clarinet, alto flute, piccolo flute)
'Pepo Mtoto' Julian Priester (tenor trombone, bass trombone)

"Crossings":
Herbie Hancock (piano, electric piano, mellotron, percussion)
Eddie Henderson (trumpet, flugelhorn, percussion)
Billy Hart (drums, percussion)
Julian Priester (bass, tenor and alto trombone, percussion)
Buster Williams (electric and acoustic bass, percussion)
Bennie Maupin (soprano saxophone, alto flute, bass clarinet, piccolo, percussion)
Patrick Gleeson (Minimoog)
Victor Pontoja (congas)
Tracklist
"Fat Albert Rotunda" (CD 1):
01:Wiggle-Waggle (5:51)
02:Fat Mama (3:48)
03:Tell Me A Bedtime Story (5:01)
04:Oh! Oh! Here He Comes (4:08)
05:Jessica (4:13)
06:Fat Albert Rotunda (6:29)
07:Lil' Brother (4:26)
Bonustracks
08:Wiggle-Waggle [mono] (5:48)
09:Fat Mama [mono] (3:45)
"Mwandishi" (CD 2):
01:Ostinato [Suite For Angela] (13:05)
02:You'll Know When You Get There (10:15)
03:Wandering Spirit Song (21:30)
Bonustracks
04:Ostinato [promo edit] (6:13)
05:You'll Know When You Get There [promo edit] (6:28)
"Crossings" (CD 3):
01:Sleeping Giant (24:49
02:Quasar (7:25)
03:Water Torture (13:58)
Bonustracks
04:Crossings [stereo] (2:32)
05:Water Torture [stereo] (3:03)
 
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