The Perc / Electric Kindergarten, Rarities Vol. 1
Electric Kindergarten, Rarities Vol. 1
Was assoziiert ihr mit Kühe im Nebel und Pissrinne?
Was immer ihr jetzt denkt, falsch, ganz falsch. Wir befinden uns nicht in der Landwirtschaft, sondern es geht um einen Raritätensampler.
Tom 'The Perc' Redecker hat wieder zugeschlagen und ganz tief in die Kiste gegriffen. In die Kiste, in der sich sein Tonarchiv befindet, welches ca. 30 Jahre deutsche Undergroundmusik dokumentiert.
Dem Sinn und Zweck der Veröffentlichung angemessen, hat er die alten Bänder sanft überarbeitet, aber nicht digital verzerrt. Die Authenzität sollte erhalten bleiben.
Sieben Tracks des Samplers sind - erstmals auf CD - die Titel der EP "Before He Met The Hidden Gentlemen". Daneben gibt es das bisher unveröffentlichte Demo "Sleeping Dog". Diese Nummer war ursprünglich für das 2te Album von The Perc Meets The Hidden Gentleman vorgesehen.
Weiterhin findet sich mit "Paralyse Man" ein 'Carola' Song auf dem Sampler. Carola ist keine Frau, wurde aber sicher auch sehr 'geliebt', denn Carola ist der Name, den Tom seinem 'Casio MT400V' gegeben hat. Carola war (ist?) ein mit Rauschfiltern arbeitender Analog Sythesizer.
Das zehnte Stück, welches Einzug im "Electric Kindergarten" fand, heißt "Lovin' Baby Boy", stammt von Melanie Safka und wurde 1996 zusammen mit Ralf Krieger für einen Sampler des Magazins 'Harakiri' aufgenommen.
Underground Musik: Ja unzweifelhaft, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass es auch nur eines der Stücke geschafft hat, einem breiteren Publikum bekannt zu werden.
"Manson Was A Fool" von Gipsy Rover feat. The Perc ist 'ne kurzer Nummer mit einfacher Orgellinie, in die dann Ralf Krieger seine Gitarre einbrechen läßt. Gerade wenn man sich an den simplen Rhythmus gewöhnt hat, startet The Perc mit "The Farmer" in Form von quiekenden Schweinen. Minimaistische Orgel- und Keyboardklänge, immer wieder von Schweinegeschrei untermalt. Dazu die ruhige und sonore Stimme Tom's mit einer wunderschönen Melodie. That's Underground pur, Folks.
Es folgt "Inhaler" und wenn ich es nicht wüsste: ich würde auf Kraftwerk tippen. Elektronische Effekte all over und in dem simplen Fundament liegt für mich auch das Besondere, weil die darübergelegten Effekte so richtig zur Geltung kommen.
Jetzt wird's heavy. Sagt jemand Zappa wäre strange, oder Thrash Metal die Musik, die sämtliche Schwiegermütter dieser Welt in den Wahnsinn treiben würde? Vergesst es, denn die Kühe im Nebel feat. The Perc sind richtig starker Tobak. "Dwarf": Einfacher, aber bestimmender Grundrhythmus, dazu Schreie, ein Trommelfeuer eines 'ich weiß nicht ob es ne Trommel oder ein Synthie ist' Instrumentes.
Auch von den Kühen ist "Flesh & Blood Society". Syntetische Percussion, sakrale Orgelklänge, wirre, monsterhafte Geräusche, irgendwo probt ein Flügel- oder Waldhorn. Vielleicht ist es auch eine Posaune. Grummelt da vielleicht ein Schiffsdiesel? Wahnsinn, zu was dieser Song im Stande ist: Mein Vogel verlässt kreischend das Zimmer, meine Frau und Kollegin Ilka, ansonsten Fan der ganz harten Metalltönen fragt: "Was haben denn 'die' geraucht?" und ich antworte nur, dass es was Gutes gewesen sein muss, während Gesprächsfetzen und Autohupen die Klangcollage erweitern.
Fast dachte ich, dieser Track schafft es in meiner Liste der extremsten Titel aller Zeiten, den ersten Platz einzunehmen. Platz zwei ist er allemal, Platz eins bleibt nach wie vor den Aphrodite's Child mit " ∞" vorbehalten. Ist wahrlich auch schwer zu toppen.
"Sleeping Dog" - ich höre Melodie. Frau tritt und Vogel flattert wieder ins Zimmer.
Hey, akustische Gitarrenakkorde eröffnen "Lovin' Baby Boy" von Pissrinne feat. The Perc. Starke Gitarre auch im Mittelteil der Nummer. Keine wilden Soli, sondern ohrgefällige Dur-Akkorde und eingestreute, leicht psychedelische Licks. "Broken Tune", auch von der Pissrinne ist da wieder mehr Underground. Das Instrumentarium scheint auf einer Party der 'Untoten' aufzuspielen und die Vocals, ganz passend und Zombie-like rufen "I need you, I want you". Schaurig schön das Ganze.
Einsatz für 'Carola': "Paralyse Man". Ich schrieb ja, das dieses Stück zu den ersten 'Carola' Nummern gehört. Ich bin mir nun sicher, 'Frau Synthie' auch schon bei den vorhergegangenen Liedern gehört zu haben. Schöner, altmodisch wabbernder, nach Kirchenorgel klingender Sound.
"Everybody's Like The Other", wieder von der Pissrinne beendet noch mal in aller Konsequenz ein Album, welches tiefen Einblick in eine musikalische Szene gibt, die den meisten von uns wohl bisher verborgen war. Tom sei Dank, ändert sich das nun und mit Freude warte ich auf die für Mitte 2006 geplante Fortsetzung der Reihe "Electric Kindergarten".
Keine leichte CD. Mit Sicherheit nicht, aber man sollte den "Electric Kindergarten" im Hause haben, um auch diese Facette deutscher Musikgeschichte zu kennen. Authentischer und aus berufenerer Feder wird man dieses Kulturgut wohl schwerlich finden.


Spielzeit: 42:14, Medium: CD, Freiland, 2006
1:Manson Was A Fool (Gipsy Rover feat. The Perc) 2:The Farmer (The Perc) 3:Inhaler (The Perc) 4:Dwarf (Kühe im Nebel feat. The Perc), 5:Flesh & Blood Society (Kühe im Nebel feat. The Perc) 6:Sleeping Dog (The Perc) 7:Lovin' Baby Boy (Pissrinne feat. The Perc) 8:Broken Tune (Pissrinne feat. The Perc) 9:Paralyse Man (The Perc) 10: Everybody's Like The Other (Pissrinne feat. The Perc)
Ulli Heiser, 07.01.2006