Rush / Presto (Audio Fidelity Edition)
Presto Spielzeit: 52:28
Medium: Hybrid-SACD
Label: Audio Fidelity (Atlantic), 2014 (1989)
Stil: Prog Rock


Review vom 16.09.2014


Boris Theobald
25 Jahre nach der Erstveröffentlichung wird dieses Album im Rahmen der Hybrid-Reihe von Audio Fidelity nochmals auf die Bühne gebeten, akustisch aufpoliert auf SACD, nummeriert und in limitierter Edition. Das bietet "Presto" ganz kurz die Chance, beim ein oder anderen Rush-Liebhaber - und wenn bloß der neue Sound der Anreiz ist - aus dem unverdienten Nischendasein herauszutreten. Okay, "Presto" ist kein Großklassiker wie "2112" und kein Jahrhundertwerk wie "Moving Pictures" - aber in welchem Atemzug sollen wir es denn nennen? Live hat die Band in der Vergangenheit oft nur sehr wenige Stücke des Albums berücksichtigt. "Presto" beinhaltet einerseits "The Pass"; den Song hat Geddy Lee mal als einen der besten Tracks bezeichnet, den die Band je geschrieben habe. Andererseits bezeichnete er einst in einem Interview die Songs als interessant, aber »not great«. Neil Peart meinte gar ganz offen, die Band sei mit diesem Album ihrem Potenzial nicht gerecht geworden.
Huch? Als eingerushter Fan darf und muss man sich wundern. Es gibt hier keine qualitative Magerkost. Ganz im Gegenteil - die Station "Presto" darf in Rushs musikalischer Reise nicht fehlen. Traditionell schloss die Band rückbetrachtet immer eine Ära von vier stilistisch zusammenhängenden Studioalben mit einem Live-Output ab. Nach "A Show Of Hands" von 1989 müsste "Presto" demnach eine große Bedeutung zukommen: eine neue 'Ära' einzuleiten. Und? Tatsächlich bildet das Album zusammen mit dem ähnlich ausgerichteten, aber von vielen höher bewerteten Nachfolger "Roll The Bones" (1991) den Übergang von der Keyboard-betonten, oftmals schwer produzierten Schaffensphase der 80er hin zu wieder deutlich rockigeren und von synthetischen Klangwänden befreiten, auf Basics konzentrierten Gefilden ab "Counterparts" 1993.
Obwohl der "Presto"-Klang noch klar den 80ern zuzurechnen ist, stehen Alex Lifesons Gitarren gegenüber den Keyboards (endlich) wieder klar im Vordergrund, auch wenn Geddy Lees Tastenarbeit noch keineswegs aus der Musik wegzudenken ist und vielen der Sound zu wenige Kanten haben dürfte. Doch selbst bei "Red Tide" mit seinem Keyboardintro und markanten Synthesizerakzenten hält sich Lifeson nicht lange im Hintergrund. Und auch obwohl das Stück als einziges mit Bombast-Atmosphären etwas an "Grace Under Pressure" erinnert, so sind die brachialen Atmosphären hier deutlich stärker Gitarren-getrieben als ein paar Jahre zuvor. Weiteres Anzeichen für den Wandel: In jedem Song, auch bei den zunächst sehr ruhig anmutenden "Presto" und "Hand Over Fist", wird an irgendeiner Stelle einmal richtig gerockt. Die Stücke dieses Studiowerks sind ungeheuer vielseitig!
Auf engstem Raum ist die Band enorm wandlungsfähig und stattet ihre Songs voller kleiner und großer Breaks mit vielen emotionalen Farben aus. Bei einigen, wie dem verträumten Titeltrack "Presto", überwiegt die ruhigere Gangart, bei anderen wie "War Paint" oder "Superconductor" sind es heavy Gitarrenriffs. Zwei Jahre zuvor auf "Hold Your Fire" hätten diese Songs noch so gar nicht gepasst - ein gutes Zeichen! Soli oder sonstige Instrumentalpassagen gibt es wenige auf "Presto", das großen Wert auf songdienliche Strukturen legt. Dennoch sorgt besagte Vielseitigkeit der Songs dafür, dass immer mal wieder Raum und Zeit bleibt, damit Geddy Lee in Breaks atemberaubende Basslines spielen ("Show Don't Tell"!) oder Alex Lifeson mit den tollsten Arpeggios der Welt und natürlich auch gefühlvollen (Kurz-)Soli im Flow der Stücke glänzen kann. Und da glänzt so viel! Insbesondere "The Pass" und "Available Light" stechen mit aufstrebenden, träumerischen Melodien hervor. Aber auch Neil Peart darf glänzen und scheinen. Die filigranen Drums bei "Scars" wurden beispielsweise gänzlich ohne Overdubs aufgenommen; Peart hat den kompletten Song in Echtzeit eingespielt, mit acht verschiedenen Pads. Und dazu Bass- und Snaredrum mit den Füßen.
Apropos Peart - dessen Job beginnt ja nicht erst am Drumset, sondern schon mit offenen Augen und Ohren und der wundervollen Gabe, seine Gefühle, seine Gedanken und auch seinen Humor in passende Texte zu wandeln. "Superconductor" lehnt sich mit seinen ironischen Untertönen Richtung Radiobusiness ein wenig an "Spirit Of Radio" an. "Scars" handelt von schlimmen und auch positiven Narben. "The Pass" betritt mit dem Thema Selbstmord unter Jugendlichen ganz schön schwieriges Terrain - laut Neil Peart einer der herausforderndsten Texte, die er je geschrieben habe. Und "Anagram" ist einfach nur ein witziger Versuch, welche neue Wörter man durch Umstellen von Buchstaben erzeugen kann (»take heart from earth and weather, the brightness of new birth«). Der Zusatz "for Mongo" nimmt den 1974er Mel Brooks-Film 'Blazing Saddles' ('Der wilde wilde Westen') aufs Korn. Dort gab es ein 'Candygram for Mongo', einen geistig umnachteten Hilfssheriff (gespielt von Ex-Footballprofi Alex Karras), der sich auf die Süßigkeiten freut, aber in Wirklichkeit eine Bombe in die Hand gedrückt bekommt.
Um sichtbare und unsichtbare Masken der Menschen geht es in "War Paint"; auf dem schmalen Grat zwischen Wahrheit und Täuschung wandert "Show Don't Tell" ('Schauplatz' ist ein Gerichtssaal). Und "Chain Lightning" ist die pure Faszination über ein Wetterphänomen. Da ist der Weg nicht weit zu Pearts Warnung vor der Zerstörung unserer Erde ("Red Tide") und dem Traum von einer besseren Welt. Den träumen wir mit dem Titeltrack "Presto" [zu deutsch ungefähr 'Simsalabim!']) und mit "Available Light" - was für ein schönes Bild, dem Wind um die Erde herum nachzujagen!

»The restless wind has seen all thing in every kind of light
Rising with the full moon to go howling through the night

The sleepless wind has heard all things between the sea and sky
In the canyons of the city you can hear the buildings cry

Oh the wind can carry all the voices of the sea
Oh the wind can carry all the echoes home to me

Run with the wind and weather to the music of the sea
All four winds together can't bring the world to me
Chase the wind around the world
I want to look at life - In the available light«
Line-up:
Alex Lifeson (electric and acoustic guitars)
Neil Peart (drums and electronic percussion)
Geddy Lee (bass guitar, vocals, synthesizers)
Tracklist
01:Show Don't Tell (5:02)
02:Chain Lightning (4:33)
03:The Pass (4:51)
04:War Paint (5:24)
05:Scars (4;07)
06:Presto (5:46)
07:Superconductor (4:48)
08:Anagram [For Mongo] (4:00)
09:Red Tide (4:31)
10:Hand Over Fist (4:11)
11:Available Light (5:15)
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