Silent Lucidity / Positive As Sound
Positive As Sound Spielzeit: 47:02
Medium: CD
Label: WMMS, 1996
Stil: Progressive Rock / Progressive Metal


Review vom 27.05.2009


Ulrich Simon
Irgendwann wird jemand - hoffentlich - ein dickes Buch über Queensrÿche schreiben, so dass der Musikbegeisterte sich nicht nur mit Einblicken zu Queensrÿches Operation: Mindcrime »as an evolutionary step in rock opera« bescheiden müsste, wie sie eine amerikanische Universitätsschrift von 1994 immerhin bietet. In jenem noch ungeschriebenen Buch würde das umfassendste Kapitel Ausflüge in Queensrÿches Nachruhm und ihren Einfluss unternehmen, es würde gleichwohl nur andeutungsweise zeigen können, wie sehr diese Gruppe einen Sound und einen musikalischen Standard geprägt hat, würde womöglich erwähnen, dass auch in den späten 2000er Jahren wenig im Bereich Progressive auf den Markt gekommen ist, bei dem nicht Queensrÿche sehr hörbar mitklingt, gerade bei so großartigen Produktionen wie Ivanhoes Lifeline (und noch deutlicher bei deren Vorgänger "Walk in Mindfields"). Kurz, die musikgeschichtliche Bedeutung von Queensrÿche ist derzeit schwerlich zu überschätzen.
Eine ausführliche Fußnote in jenem wünschenswerten Buch sollte darauf hinweisen, dass es etwa von 1990 bis wohl 2000 eine deutsche Band gegeben hat, die sich nach Queensrÿches erfolgreichstem Song benannt hat: "Silent Lucidity".
1996 erschien "Positive As Sound" (WMMS 078), die einzige CD des Quartetts aus der Nähe von Tübingen; Ausschnitte von vier Songs der zweiten CD stehen seit dem Jahr 2000 auf der Bandpage. Dort wird auch noch immer das Demo-Tape "Brightness Falls" für '10 Mark' angeboten. Die neue Platte werde gerade eingespielt, teilte die Band im Frühjahr 2000 mit. »So be prepared - this will take some time!«
Seither ist der Euro eingeführt worden und sehr viele Kassettenrekorder sind in den Elektroschrott gewandert. Aber weiteres von Silent Lucidity ist nicht erschienen - und weil diese Musiker zwar vor 13 Jahren einige gute Rezensionen geerntet haben, aber nicht Metallica sind, gibt es auch keinen "Some Kind Of Monster"-Dokumentarfilm, der uns wissen ließe, was seither geschah. So hat sich eine Formation bis auf wenige Spuren aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt, noch bevor sie trotz vielversprechender Ansätze den Status des Geheimtipps überwunden hatte. Und das ist schade. Denn die Gruppe klingt viel eigenständiger, als ihr Name vermuten lassen könnte, sie klingt - zumindest aufs erste und zweite Hören - viel weniger nach Queensrÿche als etwa Galahads nun wirklich originelles "Empires Never Last".
Andreas Jäger (b), Jens Christoph Maurer (dr), Joachim Reichl (voc & g) und Volker Zeeb (g) präsentieren auf "Positive As Sound" fünf Songs, keiner kürzer als 7:30 Minuten.
Am konventionellsten klingt noch der Aufmacher, "A Different View", mit langem Intro und Glockengeläut sowie progtypischem Songaufbau. Aber auch dieses Stück käme womöglich besser weg, würden es nicht die folgenden vier übertreffen. Was beeindruckt und in den Bann zieht, ist die Gabe von Silent Lucidity eine Unzahl von Ideen zu präsentieren, ohne überladen und überambitioniert zu wirken. Zugegeben, es sind weniger Ideen als auf Rushs "Moving Pictures", dafür werden sie beiläufiger in sehr unterschiedlichen Tracks dargeboten. Nicht nur der mitunter Yes-artige Gesang ruft beim Hören häufig die 1970er Jahre ins Gedächtnis, auch sonst werden sehr viele Elemente des Hard- und Art Rock zwanglos kombiniert mit den musikalischen Genrefreiheiten der 1990er; lange ruhige Passagen werden mit abrupten harten Riffs kontrastiert, nicht ganz so exzessiv wie bei Sieges Even und deren Produktionen zwischen 1995 und 1997, aber effektiv.
Klare, mitunter ins Exotische changierende sowie verzerrte Gitarren befruchten sich wechselseitig, Voice- und Halleffekte, selbst Streicher unterlaufen regelmäßig jede Erwartungshaltung: Gerade noch Jazz Rock, klingt es vier Takte später doch eher nach Heavy Metal. Ähnlich wie Queensrÿche könnte man in Silent Lucidity eine musikalische Brücke sehen: Queensrÿche sind u. a. eine umfassend kanonisierte Verbindung, Drehkreuz zwischen dem Bombastrock der 1970er und Heavy Metal, Silent Lucidity sind ein Schleichweg, eher ein Trampelpfad zwischen nahezu unübersehbar vielen härteren und weicheren Strömungen, die es seit 1965 gibt - sie werden von der Mitte der 1990er Jahre aus angegangen. (Die Texte, "Restraints" etwa, erinnern gelegentlich eher an die 1980er, etwa an
Ozzy Osbournes "The Ultimate Sin".)
Die eigentliche Qualität dieser Songs ist mit solchen Beschreibungen allerdings nur unzulänglich erfasst. Sie lässt sich auch als Auschlussverfahren beschreiben.
Wenn man sich durch viele Neuerscheinungen hört, stellt sich häufig der Eindruck ein: Nett, klingt aber penetrant nach Metallica / Blind Guardian /Dream Theater/(to whom it may concern)... Bei "Positive As Sound" ist mein Assoziationsgang umgekehrt: Klingt das nicht nach - halt! Oh, schon wieder eine ganz andere Idee, die früheren Takte und ihre Klangräume abgelöst, ohne aufdringlich so ganz neu und so anders klingen zu wollen. Anspieltipps? Das Instrumental "Atmosfears", ach nein, lieber doch: "Walls Of Silence".
Insgesamt ist "Positive As Sound" eine tendenziell ruhigere Scheibe mit etlichen überzeugenden Ausbrüchen, gerade die zahlreichen Tempo- und Dynamikwechsel verführen dazu, sie beinahe kontemplativ zu hören - wären da nicht die vielen Brüche. Es ist die Sorte Platte, die man, falls sie den eigenen Geschmack trifft, bedenkenlos viermal hintereinander hören kann und bei der man auch beim fünften Mal noch Neues entdeckt.
Heute ist Silent Lucidity nahezu vom Erdboden verschwunden, weder bei Youtube zu finden noch bei MySpace. Wikipedia weiß nichts zu sagen, selbst Indiepedia nicht, lediglich Amazon lässt "Positive As Sound" anbieten. So schnell und so gründlich kann man aus der Gegenwart fallen. (Ich selber habe "Positive As Sound" mal zufällig in einem Secondhand-Laden gefunden.) Und deswegen bleiben die Hörer allein mit der gemeinsten aller so gearteten Fragen: Wie wäre wohl erst die zweite, dritte und vierte CD einer Band geworden, deren Erstling (von kleinen Schwächen abgesehen) bereits derart zu beeindrucken vermag?
Line-up:
Andreas Jäger (bass)
Jens Christoph Maurer (drums)
Joachim Reichl (vocals, guitars)
Volker Zeeb (guitars)
Tracklist
01:A Different View (10:40)
02:King Of Paris (7:30)
03:Walls Of Silence (10:30)
04:Atmosfears (8:00)
05:Restraints (7:55)
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