The Velvet Underground & Nico / Same
The Velvet Underground & Nico Spielzeit: 48:51
Medium: CD
Label: Polydor (Universal) 1996 (1967)
Stil: Rock


Review vom 22.12.2012

  
Markus Kerren
Wenn man an die legendären Klassiker der sechziger Jahre denkt, wandern die Gedanken oft automatisch an die 'großen Fünf' aus England (Rolling Stones, Beatles, The Who,
The Small Faces und The Kinks) oder auch amerikanische Künstler wie etwa The Doors,
Bob Dylan, The Beach Boys, Janis Joplin oder Jimi Hendrix. Ein weiterer Klassiker, der allerdings zum Zeitpunkt seines Erscheinens völlig unterging, ist das hier vorzustellende Debütalbum von The Velvet Underground. Erschienen im März 1967, verkaufte sich die Scheibe in den folgenden Monaten (oder Jahren?) ca. 132 Mal, entwickelte sich aber in den sich anschließenden Jahrzehnten zu einem absoluten Kultalbum und Klassiker.
Und das vollkommen zu Recht, da die darauf vertretenen elf Tracks nicht nur unzählige junge Musiker inspirierten, ihr eigenes Ding zu starten, sondern auch bereits (damals mehr oder weniger) gestandene Künstler wie etwa David Bowie (um nur mal ein Beispiel zu nennen) vollkommen verblüfften und Wege zeigten, mit einem gänzlich anderen Ansatz ans Songwriting heranzugehen.
Lou Reed erschuf mit den Songs dieses Albums ein Bild des dunklen Amerika, er erschuf ein extremes Gegenbild zu Frankie Boys großartigem Welt-Hit "New York, New York". Der ehemalige Literatur-Student eröffnete uns einen kleinen Einblick in die ganz finsteren Gassen des Big Apple. Hier geht es um Paranoia, Sado-Masochismus, gewisse Ladies von der Straße, die naive Jünglinge morgens zum Frühstück verspeisen, harten Drogenkonsum und eine alles umfassende Einsamkeit des Individuums inmitten einer Millionenstadt.
Nehmen wir zum Beispiel das lethargisch-psychedelisch-albtraumhafte "Venus In Furs" über einen offensichtlich verwirrten und zugeknallten Protagonisten, dessen einziges Heil nur noch darin zu bestehen scheint, auf den Knien vor einer minderjährigen, mit Leder und Peitsche ausgestatteten Herrin zu kriechen, nur um nicht aufgrund verschiedener Drucksituationen im 'normalen Leben' total den Verstand zu verlieren.
»I am tired, I am weary
I could sleep for a thousand years
A thousand dreams that would awake me
different colors, made of tears«
Oder "There She Goes Again", bei dem der Protagonist seine Ex-Freundin (durchs Fenster?) beobachtet, wie sie wieder draußen auf der Straße rumstolziert und nach neuen Eroberungen Ausschau hält. Was dann bei ihm umgehend unkontrollierte Gewaltfantasien (»...you better hit her!!«) hervorruft...
Sehr hart und treibend - so wie auch der Text extrem getrieben rüberkommt - bohrt sich "Waiting For The Man" ins Bewusstsein des Hörers. Ein Junkie, der bereits dabei ist, auf Entzug zu kommen, macht sich auf in die extremeren Viertel der Millionenstadt, um seinen Dealer (»...he's never early, he's always late, first thing you learn is that you always gotta wait...«) zu treffen. Sehr eindringlich wird hier deutlich gemacht, in welchem Wahn - ohne Blick nach links und rechts - der Protagonist durch die Straßen hastet auf der Suche nach einem kurzen Glück, nur um zu wissen, dass am nächsten Tag dasselbe Spiel wieder von vorne losgehen wird.
Die Steigerung dazu und den dramatischen Höhepunkt des Albums stellt dann die Nummer "Heroin" dar. Textlich gesehen fasst sie lediglich ein paar Gedanken im Leben eines Junkies zusammen, die musikalisch aber adäquat und mitreißend in einer wahren, langsam anrollenden, immer mehr Fahrt aufnehmenden und dann geradezu explodierenden Höllenfahrt zusammengefasst werden. Bis dann am Schluss alles (inklusive des Protagonisten) wieder in sich zusammenfällt... Nein, Frieden gibt es auf dieser Scheibe nicht. Weder finden ihn die Protagonisten der Songs, geschweige denn machen sie ihn mit sich selbst.
Und dennoch gibt es wunderschöne, fast zärtliche Momente. Zum Beispiel bei dem von Nico (geb. als Christa Päffgen in Frankfurt, Schauspielerin und Musikerin) gesungenen "I'll Be Your Mirror", das eine so vollkommen andere Klangfarbe zu den davor beschriebenen Stücken setzt. Mit markant dunkler Stimme lässt sie hier Anzeichen dafür aufblitzen, dass es in der kaputten Welt dieses Albums doch noch so etwas wie Menschlichkeit, Mitgefühl oder Liebe gibt. Einen Schritt zurück in die Dunkelheit stellt dagegen das ebenfalls von ihr gesungene "All Tomorrow's Parties" dar, das von Unsicherheit, Isolation und fehlenden Zukunftsvisionen handelt.
Bei "Femme Fatale" gibt sie mit ihrer tiefen Stimme hingegen den Vamp von der Straße, mit dem man sich besser erst gar nicht einlässt (»...little boy, she's from the streets, before you start you're already beat...«). Und das sehr abgebrüht, einerseits spöttisch, aber auch warnend... schlicht durch die Bank überzeugend.
Das sanft gesungene und musikalisch wunderschön eingespielte "Sunday Morning" war eigentlich auch für Nicos Gesang vorgesehen, aber am Tag der Aufnahme kam Lou Reed dann ins Studio und legte eine mit samtiger Engelszungen-Stimme gesungene Version vor, die schlicht und ergreifend als zu gut befunden wurde, um sie außen vor zu lassen. Und dennoch: So lieblich hier alles auf den ersten Eindruck erscheint, ist die Nummer tatsächlich eine zu Fleisch gewordene Paranoia-Attacke nach einem (und sicher nicht dem ersten) wilden Drogen-Wochenende inklusive dem Genuss der offensichtlich für den Protagonisten falschen Pülverchen...
Ach ja, und wenn man wirklich über die Ursprünge bzw. Gottväter des Punk Rock diskutieren möchte, dann sollte man geflissentlich erst alles andere vergessen und sich nochmal "The Black Angel's Death Song" und "European Son" anhören. Beim Erstgenannten fehlen zwar die harten Gitarren und auch der aggressive Gesang, dennoch geht es darum, alle vorherig gekannten Strukturen wie Melodien etc. zu zerstören und das Klangbild einer äußerst verwirrten Seele darzustellen.
Bei "European Son" ist dann bereits alles da, was den späteren Punk Rock ausmachte, selbst wenn der (sicher nicht optimale) Sound hier noch auf dem Stand von 1966 ist. Musikalisch gilt der Standpunkt 'Macht kaputt was euch kaputt macht' (um mal einen alten Ton Steine Scherben-Schlachtruf zu verwenden) und auch der Wutanfall von John Cale (als der im Studio einen Stuhl in den Catering-Tisch pfefferte) ist festgehalten. Selbst wenn The Velvet Underground bezüglich der Verrohung ihres Sounds auf dem Folgealbum "White Light/White Heat" (1968) noch ein paar Schritte weitergingen, so liegt doch hier der Ursprung eines ganz neuen Gedankens, einer neuen Idee.
Nachdem Lou Reed nach dem zweiten Album "White Light/White Heat" (1968) den Rauswurf von John Cale erzwang, änderte sich auch die musikalische Ausrichtung der Band. Punkige bzw. avantgardistische Einflüsse waren auf den folgenden beiden Alben "Same" (1969) und "Loaded" (1970) nur noch begrenzt zu hören. Nachdem Lou Reed im Sommer 1970 selbst das Weite suchte, war das Ende der Band dann vorprogrammiert.
Im Jahr 1993 kam es (ausgelöst durch den Tod von Andy Warhol) zwar noch einmal zu einer Reunion der Original-Besetzung und einer Europa-Tour, aber Reed und Cale hatten sich innerhalb kürzester Zeit schon wieder so dermaßen gegenseitig am Hals, dass das letzte Kapitel dieser Band ganz sicher bereits geschrieben ist. Vor allem auch deshalb, weil Gevatter Tod hier ebenfalls bereits gewütet hat.
Christa Päffgen alias Nico verstarb am 18. Juli 1988 und Sterling Morrison folgte ihr am 30. August 1995.
Line-up:
Lou Reed (guitars, lead vocals)
John Cale (bass, piano, viola, celeste, vocals)
Sterling Morrison (guitars, bass, vocals)
Mo Tucker (drums & percussion)
Nico (lead vocals - #3,6,9)
Tracklist
01:Sunday Morning
02:I'm Waiting For The Man
03:Femme Fatale
04:Venus In Furs
05:Run Run Run
06:All Tomorrow's Parties
07:Heroin
08:There She Goes Again
09:I'll Be Your Mirror
10:The Black Angel's Death Song
11:European Son
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