Gedanken eines Wanderers durch alle Zeiten
Interview
Homo Erraticus heißt das neue Album von Jethro Tulls Ian Anderson und erscheint zum Verblüffen aller Fans bereits ungewöhnlich schnell nach dem Megaerfolg von TAAB2. Wer allerdings denkt, dass Anderson damit eine Trilogie geschaffen hat oder den Beginn einer unendlichen Geschichte seines Protagonisten Gerald Bostock, der irrt, denn dieses neue Album widmet zwar einen kleinen Teil Gerald, doch die hauptsächlichen Themen der sechzehn Songs drehen sich um Dinge, die Anderson im täglichen Leben berührt haben.

Mein Kollege Mike Kempf und ich treffen Ian Anderson zu einem Gespräch im Rahmen der Veröffentlichung von "Homo Erraticus" in einem äußerst stylischen und futuristischen Hotel in Berlin. Ohne die üblichen Begrüßungsfloskeln geht es unverzüglich zur Sache. Mit einem Mitarbeiter eines Online-Radios teile ich mir das Frage- und Antwortspiel und der eröffnet sogleich den Reigen.


Interview vom 18.03.2014

       
Mike Kempf                   Holger Ott
Lange habe ich mir im Vorfeld Gedanken darüber gemacht, einen ausgewogenen Fragenkatalog zusammenzustellen, aber Mr. Anderson wirft bereits nach zwei Minuten meine Pläne völlig über den Haufen. Auf Fragen über sein neuestes Werk hat er anscheinend überhaupt keine Lust und somit nutzt er die 'kleine Bühne' seines futuristischen Hotelzimmers, das mich eher an die Kommandozentrale der Enterprise erinnert, um sich wie ein Politiker im Dauerreden zu üben. Am Ende des fünfundvierzig Minuten langen Interviews habe ich seine Ansichten über Politik, die aktuelle Weltwirtschaftssituation, die Entwicklung der Bevölkerung und die damit zusammenhängenden Probleme, gleichgeschlechtliche Beziehungen, den Weltraum, sowie Auszüge aus seinem Privatleben gehört - größtenteils Themen, mit denen sich Andersons in seinem brandneuen Album, "Homo Erraticus", auseinandersetzt. Seine humorvolle Seite lerne ich im Verlauf des Interviews ebenfalls kennen, als er eine Frage des anderen teilnehmenden Redakteurs (eines Online-Radios) mit einem dermaßenen trockenen, britischen Humor abblockt, dass es reif für den Monty Python's Flying Circus gewesen wäre.
Ian Anderson Ian Anderson weiß, dass er den betreffenden Kollegen am Schopfe gepackt hat und der arme Mann macht fortan keinen Stich mehr. Eine anschließende Frage bleibt völlig unbeachtet. Das weitere Gespräch findet somit nur noch zwischen Ian und mir statt. Leider bin ich dabei ebenfalls derjenige, der so gut wie nicht zu Wort kommt. Jegliche Ansätze, das Gespräch zu unterbrechen, um etwas aus meiner Fragenlitanei unterzubringen, scheitern kläglich. Nur in ganz seltenen Momenten gibt mir Ian die Möglichkeit, etwas zum Thema zu fragen. Somit beschränke ich mich darauf, gespannt zuzuhören und nur wenige zustimmende Einwürfe zu bringen, wenn Ian zwischendurch tief Luft holt. Enttäuscht, meine Fragen nicht beantwortet zu bekommen bin ich aber keinesfalls, im Gegenteil. Da er frohen Herzens immer munter vom Leder lässt und nahtlos von einem zum nächsten Thema wechselt, ist die Informationsflut riesengroß und ich bin erstaunt, was diesem Menschen alles durch den Kopf geht. Ich hätte mich nie gewagt, auch nur einen dieser Punkte anzusprechen, da Themen wie Politik oder Intimitäten - absolute Tabus für ein Interview - dabei sind.
Das Gespräch hat nach einer dreiviertel Stunde den Charakter eines munteren Beisammenseins angenommen. Es wird gelacht und gealbert, bis der begleitende Manager das Zeichen zum Finale setzt. Mitten im Satz und wie von der Hornisse gestochen, springt Anderson auf und beendet somit das Interview. Meine letzte Frage, die mir schon minutenlang auf den Lippen liegt, muss ich deshalb mit den weiteren fünfzehn unbeantworteten begraben. Eigentlich wollte ich noch wissen, ob Jethro Tull nun endgültig Geschichte ist und wie es um seine Freundschaft zu Martin Barre steht. Somit steht dieses weiterhin im Raum.
Aus meinem Stapel LPs, CDs und DVDs darf ich mir eine einzige Aussuchen, die mir Ian Anderson signiert. Dazu erhalte ich eine persönliche Lehrstunde, als er mich flüsternd zur Seite zieht, um mir die Wertigkeit eines Autogrammes zu erläutern. »Kennst Du Cliff Richard?« »Ja kenn ich« »Ich habe vor langer Zeit mal ein Autogramm von ihm bekommen. Es hat bei mir einen Ehrenplatz, denn Cliff gab mir damals zu verstehen, dass er immer nur EIN Autogramm gibt! Das fand ich und finde es immer noch so gut, dass ich es mir genauso annahm und deshalb wirst Du heute von mir ebenfalls nur eine Signatur bekommen« Genau in diesem Moment habe ich von diesem weisen Mann etwas für den Rest meines Lebens gelernt...
Rocktimes: Der (Radio)Kollege stellt fest, dass der Titel des neues Albums "Homo Erraticus" übersetzt so viel wie Wanderer oder Tramp bedeutet.
Ian Anderson: Als ich die ersten Zeilen vom ersten Song "Doggerland" geschrieben habe, ist mir dieser Begriff durch den Kopf gegangen. Ich hatte plötzlich in Gedanken das Gefühl, mit großen Fußstapfen durch die Doggerlands zu laufen. Diese Doggerlands sind ein Gebiet, das seit der letzten Eiszeit zu den britischen Inseln gehört, allerdings unter Wasser liegt. Es ist nicht zu verwechseln mit der Doggerbank, die ein bekannter Fischgrund ist, in dem seit Menschengedenken nach Nahrung in Form von Fisch gejagt wird. Seit der Urzeit ist der Mensch ein Jäger auf alles, was sich zum Essbaren verwerten lässt. Das ist die Geschichte der Menschen. Was ich getan habe, ist, den Wanderer auf seinen Weg zu schicken. Es ist nicht in dem Sinne, von wegen, wo könnte ich heute einfach mal so hinlaufen, sondern mehr im militärischen Sinn zur Eroberung neuer Länder. Ich sehe diesen Wanderer in vieler Hinsicht. Auch als Mensch, der stets bestrebt ist, Neues zu entdecken, um sich geistig weiter zu entwickeln. Man kann diese Person in alles hineininterpretieren, was einem persönlich wichtig ist. Allerdings muss man mit dem Ausdruck Eroberer etwas vorsichtig sein. Die Briten und die Amerikaner sind nicht unbedingt Vorbilder, wenn sie mit Gewehren in der Hand fremde Länder erobert haben. Sie können zwar die Länder erobern, aber nicht die Kultur. Erinnern wir uns doch nur an die Zeit von Königin Victoria, als die Briten alles eroberten, nur in der Absicht so viel Geld wie möglich für das Königreich zusammenzuraffen. Es ist die Geschichte von allen. Du bist nicht von hier, ich bin nicht von hier. Wir alle kommen von irgendwo her. Man kann dabei nicht nur über die Entstehung der Menschheit reden, die ja irgendwo in Afrika stattgefunden und sich dann in alle Richtungen verbreitet hat, auch bis zu uns nach Nordwest Europa. Denkt an die Geschichte in der Bibel, als der Turm zu Babel einstürzte, die Menschen in alle Richtungen verstreut wurden und sich anschließend die vielen unterschiedlichen Sprachen gebildet haben. In dieser Geschichte, lange nach der Eiszeit, bin ich ein Mensch geworden, der einfach nur progressiven Rock spielt und das bereits seit eintausendundeine Million Jahren und einigen Minuten.
Ian Anderson im Interview Rocktimes: Der geschätzte Kollege fragt weiterhin, wie lange er für die Komposition der Songs auf "Homo Erraticus" benötigt und wann er damit begonnen hat. Anderson nutzt, wie in der Einleitung beschrieben, seinen trockenen Humor und spielt dem Kollegen einen Ball zu, den dieser leider nicht stoppen kann.
Ian: Ja also, ich habe damit genau am 1. Januar 2013, exakt um Punkt 9.00 Uhr am Morgen begonnen. Ich wollte unbedingt ein neues Projekt am ersten Tag des neuen Jahres starten. (Anderson hat dabei ein verschmitztes Lächeln im Gesicht). Es musste unbedingt dieser Tag sein, damit ich mit Beginn des neuen Jahres absolut nichts in meinem Kopf habe. Somit habe ich mich um 9.00 Uhr hingesetzt und begonnen, einige einfache Sachen auf der Flöte zu spielen. Nach ein paar Minuten hatte ich weitere Ideen und nach einer Stunde einen kompletten Song fertig. Ich habe dann noch den Rhythmus darauf gelegt und mir ein Demo für mein I-Phone gemacht. Am Nachmittag habe ich begonnen einige Akkorde auf der Gitarre zu spielen und plötzlich war der Titel "Doggerland" in meinem Kopf. Am Nächsten und dem folgenden Tag habe ich Texte dazu geschrieben und mir dann überlegt, wohin die Reise gehen soll.
Ich wollte etwas über die Bewegung der Menschheit schreiben, nicht nur über die Doggerlands, das bereits 8000 Jahre in der Geschichte zurückliegt. Meine Handlung springt ständig durch die Zeit.
Man darf dabei nicht vergessen, dass die britische Arbeiterklasse nie so viel Geld verdient hat, um durch Europa zu reisen. Sie konnten sich keine Überfahrten mit Fähren leisten und es gab damals noch keine Billigflüge. Es ging nicht mit ihren geringen Mitteln mal schnell in die Sonne nach Spanien zu fliegen, oder sich nach dem Time-Share-System ein Appartement oder Haus zu leisten, nach dem Motto 'lassen wir mal schnell alles zurück und leben eine Weile in Spanien'. Du weißt, Mallorca und so. Auch heute haben in unserem Land viele einfache Menschen diesen Wunsch, aber es bereitet mir Angst in die Zukunft zu sehen und zu erkennen, dass es vielen von Jahr zu Jahr schlechter geht.
Stell dir einfach mal vor, dass in fünfzig Jahren von jetzt an gerechnet, etwa neun Billionen Menschen auf dem Planeten Erde leben könnten. Woher sollen diese vielen Billionen denn Essen herbekommen? Wir alle haben nur diesen einen Planeten und es läuft uns einfach die Zeit davon. Wenn wir mit dieser Geschwindigkeit weitermachen, dann kann man sich ausrechnen, dass in einhundert oder zweihundert Jahren nicht mehr genügend Lebensmittel und Wasser für die Menschen vorhanden sein werden und schon gar nicht produziert werden kann. Das ist das Szenario, auf das wir uns einstellen müssen. Dann ist es natürlich auch nicht mehr denkbar, dass die Menschen aus dem Süden von England einfach mal so nach Spanien gehen können, um dort zu leben, weil dort wegen des Klimas bessere Möglichkeiten zur Nahrungsgewinnung herrschen. Trotzdem müssen und werden die Menschen dann eine gewaltige Völkerwanderung unternehmen, um dorthin zu gehen, wo es etwas zu essen gibt. Das sind die Szenen, die ich für die Zukunft in meinem Kopf habe.
Gestern, zum Beispiel, habe ich in den Nachrichten gesehen, dass fünfhundert Menschen in diese spanische Exklave in Marokko eingedrungen sind. Egal, wie hoch dort die Zäune sind, sie würden alles auf sich nehmen, in der Hoffnung ein besseres Leben zu haben. Dieser Zustand wird sich rasend schnell vermehren und ist nicht mehr zu stoppen. Es kann sich niemand hinstellen und die eindringenden Menschen mit Maschinengewehren einfach abknallen, nur weil man es nicht mehr will und nicht mehr kann, sie in den wohlhabenderen Ländern aufzunehmen. Das ist ja nur eines der Probleme, die sich in der nächsten Zeit verstärken werden.
Was ist denn mit der Klimaveränderung? Schau dir den Golfstrom an, dessen Wasser immer mehr abkühlt. Was wird denn geschehen, wenn dieser Strom aufhört zu fließen, was ja in bereits absehbarer Zeit passieren wird? Wir werden eine neue Eiszeit bekommen. Denk mal an die Siebziger zurück, welche Mengen Schnee wir damals hatten und welche langen und kalten Winter. In Anbetracht der Aussicht auf eine neue Eiszeit ist mein Land keine gute Wahl für Rumänen und Bulgaren, um dorthin zu gehen. Allerdings wäre Rumänien und Bulgarien aufgrund der Temperaturen ein gutes Land für die Briten. Stell dir vor, dass sieben Millionen Briten an deren Tür klopfen und sagen 'Lass mich bitte rein'. Und die sagen einfach 'Fuck Off' und 'verschwindet wieder'. 'Wir wollen und wir brauchen euch nicht'. Das ist die Szenerie, die unsere Enkel und Großenkel haben werden. Ein gewaltiges ärgerliches Dilemma. Im Moment handelt es sich ja nur ein paar Hunderttausend hier und ein paar Hunderttausend dort. Die Zukunft dahingehend ist für mich eine unglaubliche Vorstellung. Meine persönliche Meinung ist: 'Weniger ist mehr'. Man kann einfach nicht für alle Menschen Arbeit schaffen und nicht alle ihre Wünsche befriedigen, die sie nun mal haben, weil es ihnen ständig vorgegaukelt wird, dass wir im Paradies leben. Natürlich müssen wir uns daran gewöhnen, mehr zu teilen und mehr abzugeben. Wir werden auch nicht um eine weltweite Geburtenkontrolle herumkommen. Sieh dir die Statistiken an, wie die Geburtenraten in den verschiedenen Ländern sind. Du lebst in einem Land, dessen Durchschnitt bei 1,5 liegt. In meinem Land ist es noch darunter. Aber schau dir mal die Länder an, in denen es normal ist fünf oder weit mehr Kinder zu haben. Die machen sich absolut keine Gedanken darüber, wie sie die Kinder ernähren sollen und was aus denen mal werden wird. Es kann niemals genug zu essen geben und es kann niemals genug Arbeit geben. Da helfen selbst keine Wohltätigkeitsveranstaltungen, um diese Probleme zu bewältigen. Es ist für mich eine absolute Horrorvorstellung, wie das Mal enden soll. Es ist einfach nicht schön. Ich bin nicht hier um anderen Menschen vorzuschreiben, wie viele Kinder sie haben sollen und ich bin nicht hier um anderen Menschen zu sagen, dass es nicht erlaubt ist, in unser Land einzureisen. Ich will nur den Anstoß dazu geben, darüber nachzudenken, wann und wie wir einen Schlussstrich ziehen können und müssen. Wir müssen unser Sozialverhalten grundlegend ändern. In diesem Moment sind die Menschen wütend und böse und schreien alles heraus.
Rocktimes: Was machst du persönlich, um an diesem Problem aktiv mitzuarbeiten? Spendest du viel? Engagierst du dich in sozialen Projekten? Hilfst du dabei, dass die Menschen in fünfzig Jahren noch genug zu essen haben? Hilfst du so gut du kannst?
Ian Anderson im Interview Ian: Man muss dem Problem erst einmal auf anderer Ebene begegnen. Sieh dir an, wie sich in den letzten Jahren die Veränderungen beim Wetter eingestellt haben. Der Januar war der regenreichste Monat seit Menschengedenken in England. Dieses enorme Hochwasser hatte das Land noch nie. Viele Menschen haben einfach alles verloren, leben von heute auf morgen in Armut, wissen nicht, wie sie Lebensmittel bekommen sollen und haben kein Dach mehr über dem Kopf. Das war bislang bei uns unvorstellbar. Daran müssen sich die Menschen erst einmal gewöhnen. In den kommenden Jahrzehnten wird es noch deutlich mehr solcher Probleme geben und das nicht nur in unseren Regionen, sondern weltweit. Schau dir Amerika an mit diesen unglaublichen Schneestürmen. Das nimmt ebenfalls von Jahr zu Jahr zu. Seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen sind in so kurzer Zeit keine solchen gravierenden Veränderungen festgestellt worden. Ebenso nimmt in vielen Teilen der Welt die Hitze im Sommer zu.
Schau dir das Coverfoto an. Ich nenne ihn Speermann, den Überlebenden. Er bewegt sich in einer Welt, die mal eine war. Über trostlose Flächen, verdorrt und nicht mehr fähig um Leben gedeihen zu lassen. Im Hintergrund Rauch am Horizont, der wie aus einem Vulkan hervor steigt. Eine Kulisse, wie aus einem Endzeitfilm, wie aus Utopia. Es sieht ein wenig aus wie ein Motiv, zwar nicht unbedingt aus der Hölle, aber dennoch sehr beängstigend. Auf der Rückseite des Albums ist dann das zu sehen, wohin der Überlebende gehen möchte. Hin zu blühenden Landschaften mit wieder aufgebauten Städten. Alles sehr friedlich und vielversprechend. Das ist es, wonach er sucht. Wir alle sind eigentlich im Leben nur auf einer Suche.
Jeder sollte dorthin gehen, wo er glaubt, zu finden, wonach er sucht. Meine eigenen Kinder, sofern sie nicht in England überleben könnten, klopfen plötzlich an deine Tür. Das könnten sie, denn sie sind in der Lage, machen zu können, was sie möchten. Ich könnte ihnen ein Boot bauen, oder ein Flugzeug besorgen. Sie haben die Möglichkeit überall hinzugehen, wohin sie möchten, aber so viele andere Menschen auf der Welt sind nicht in der Lage dazu. Sie können nicht gehen wenn die Flut alles überschwemmt, oder die Dürre ihnen das Essen raubt. Ich denke sehr viel über diese Probleme nach und möchte am liebsten noch viel mehr helfen. Ich versuche meine Hilfe, sei es in Form von Geld oder Sachspenden, so gut wie möglich zu verteilen. Ich gebe nicht nur einer Organisation oder einzelnen Menschen, sondern ich versuche, so viele wie möglich zu erreichen. Dabei lerne ich enorm viel. Es gibt jede Menge Menschen, die mir Bettelbriefe schreiben. Meistens beginnen sie mit »Lieber Mr. Tull« oder »Lieber Jethro«. Diese kann oder will ich nicht ernst nehmen, denn das sind Leute, die sich an mir bereichern möchten. Ich lese diese Briefe so gut wie nie. Schreibt mir aber jemand »Lieber Mr. Anderson«, berührt mich das mehr als wenn dann solche oberflächlichen Schreiben kommen. Ich nehme mir dann die Zeit, lese es und hoffe darin erkennen zu können, dass dieser Mensch wirklich Hilfe benötigt.
Im Laufe der Jahre bin ich sehr vorsichtig geworden und prüfe schon genau, wer einen guten Job macht und eine Hilfsorganisation betreibt, bei der man erkennen kann, dass das Gespendete auch bei denen ankommt, die es wirklich nötig haben. Wie viele Hilfsfonds gibt es, die ständig Geld sammeln, man aber nie Taten sieht. Denen würde ich niemals mein Geld geben, denn ich denke, sie machen keinen guten Job. Mein Schwiegersohn zum Beispiel ist Schauspieler. Im Moment hat er Arbeit und ich weiß genau, dass er einen Teil seines Verdienstes spenden wird. Erst vor zwei Tagen haben wir uns darüber unterhalten, dass wir beide eigentlich nicht genug Steuern bezahlen. Üblich sind bei uns etwa fünfundfünfzig Prozent. Es gibt Leute, die verdienen zehn, zwanzig oder fünfzig Millionen Pfund oder Dollar im Jahr, zahlen achtzig Prozent Steuern und jammern dann herum. Reichen einem Menschen keine zwanzig Millionen Verdienst im Jahr? Diese Leute sollten doch glücklich sein, dass sie von ihren einhundert Millionen zwanzig Millionen behalten können und achtzig Millionen spenden können. Jeder, dem es so gut geht, müsste morgens aufwachen und zu sich selbst sagen, was für ein glücklicher Mensch bin ich, so viel Geld zu besitzen und damit machen zu können, was ich will. Bernie Ecclestone gibt alleine schon so viel Geld für seine Töchter aus. Hörst du mal, dass er was spendet? Solche Leute brauchen wir nicht. Zu denen sage ich nur 'Fuck Off' (macht dabei den typischen Mittelfingergruß). Die sollten mal alle ordentlich Steuern bezahlen und nicht aus ihren Ländern in Steueroasen flüchten.
In meinem Bekanntenkreis habe ich einen Mann, der in der Labour-Partei im Parlament sitzt. Wir haben schon oft darüber diskutiert, warum es in unserem Land kein gestaffeltes Steuersystem gibt. Dadurch könnte viel mehr Geld in Krankenhäuser und soziale Einrichtungen fließen. Wir könnten eine Kurve erstellen, an der jeder sehen kann, wo er steht. Ich meine damit das Verhältnis zum Verdienst und den gezahlten Steuern. Wenn jemand nur Eintausend verdient, dann sollte er vielleicht zehn Prozent Abgaben haben. Verdient jemand Zehntausend im Monat, dann eben im Verhältnis mehr Prozent und immer so weiter. Sieh dir mal die Superreichen in unserem Land an. Durch unser veraltetes System geht es diesen Leuten viel zu gut. Ich bin ein praktizierender, sehr sozial engagierter Mensch. Meinem Sohn habe ich von klein auf erklärt, sozial zu sein. Ich habe ihm immer erklärt, wie wichtig es ist, Steuern zu zahlen. Ich habe ihm immer versucht nahezubringen, dass er sich bitte vorstellen möchte, was es für ein gutes Gefühl ist, die Straßen in seinem Land entlang zu laufen, nach links und rechts zu sehen und dabei festzustellen, dass er mit seinem Geld dazu beigetragen hat, dass es so ist wie es ist. Schau uns beide an. Wir verdienen beide Geld und geben etwas davon dem Staat, damit es uns allen besser geht. Es macht mich aggressiv zu sehen, wie in Monte Carlo Partys gefeiert werden, die nur auf Verschwendung ausgerichtet sind. Ich glaube nicht an Kapitalismus. Ich glaube an ein soziales System. Leider wird es immer schwerer, soziales Verhalten umzusetzen, nicht auf einem Planeten mit neun Billionen Menschen. Bei drei Billionen würde es wohl noch gehen. Glaub an Economie und denke immer daran, weniger ist mehr.
Vertraue den Norwegern, die machen es richtig. Ich kann dir noch ein Beispiel geben. Mein Penis ist drei Millimeter kürzer als der Durchschnittspenis. Meine Frau hat sich noch nie beschwert. (Allgemeines Gelächter und ich nutze die Situation, um das Gespräch mit einer Frage in eine andere Richtung zu lenken. Noch während der Fragestellung fällt er mir erneut ins Wort und ich verspreche ihm, die Sache mit dem Penis niemanden zu erzählen. Anschließend kann ich die Frage wiederholen und zu Ende stellen)
Rocktimes: Ist "Homo Erraticus" die Fortsetzung einer niemals endenden Story über Gerald Bostock? In so kurzer Zeit nach "TAAB2" könnte man das vermuten.
Ian Anderson und Holger Ian: Nein, so ist es nicht vorgesehen. Ich habe als Texter die Möglichkeit jeden Charakter in meine Geschichten einbringen zu lassen. Mit der nächsten Veröffentlichung könnte ein völlig neuer Charakter geschaffen werden. Vielleicht über ein ganzes Album oder einen einzelnen Song. Ebenso könnte ein bereits Vergessener wieder auftauchen. Es ist jedes Mal eine Überraschung zur Freude der Fans. Ich nenne es eine Hintergrundgeschichte. Lass uns mal in Richtung Osten blicken. Mr. Putin ist gerade dabei, in die Ukraine einzufallen. So sieht es zumindest aus, wenn man die Angelegenheit einseitig betrachtet, wie zum Beispiel in der amerikanischen Version. Um es aber richtig zu verstehen, benötigt man viel mehr Hintergrundinformationen. Nur Menschen, die sich intensiv damit beschäftigen, kennen die Zusammenhänge zwischen Russland und der Ukraine. Es genügt dabei nicht, wenn man die oberflächlichen Nachrichten von BBC oder CNN ansieht. Man benötigt viel mehr Wissen.
Zu Hause sitze ich jederzeit mit der Fernbedienung unseres Fernsehers in der Hand. Meine Frau hasst das. Ich schalte mich durch die Sender und versuche so viel Informationen wie möglich zu bekommen. Hin und her zwischen CNN und VOX TV, welches ein ultrarechter Sender ist. Sky TV ist nur auf Popularität aus und BBC ist meistens völlig neutral. Oft schaue ich Russia Today. Da wird immer ordentlich über die USA hergezogen. Natürlich suchen die nur die negativen Sachen heraus. Ist ein typischer Sender, der vom Kreml gesteuert wird. Ebenso wie Press TV, ein Sender aus dem Iran. Wiederum völlig anders. Ich liebe es, mich ständig zu informieren, ständig die Meinungen anderer Menschen zu hören. Ich möchte immer wissen, was auf der Welt los ist. Täglich verbringe ich mindestens eine halbe Stunde mit dem Verarbeiten von Nachrichten. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als Neil Armstrong auf dem Mond gelandet ist. Ich habe das die ganze Zeit vor dem Fernseher verfolgt. Auch er war ein Wanderer, ein Wanderer im Weltraum, auf der Suche danach, was Außerirdische für eine Botschaft für ihn haben könnten. Neil, Buzz and Michael waren ein Team. Tapfere Männer, die ihr Leben gelassen hätten um das erleben zu können, wovon Millionen nur träumen. Ich finde es schade, dass niemand mehr investiert hat, damit mehr Menschen auf den Mond fliegen können. Selbst in die ISS wird nicht mehr so viel Geld investiert und in einigen Jahren wird sie in tausend Stücke zerfallen. Der einzige Weg zurzeit um hoch und runter zur ISS zu kommen, ist mit einer russischen Sojus Rakete. Ein sehr waghalsiges Unterfangen, wie ich finde, in Anbetracht der veralteten Technik. Vermutlich wäre es besser und sicherer mit einem Porsche Turbo in den Weltraum zu fliegen, und mit weniger Emissionen verbunden. Eine meiner Flöten ist mit einer Sojus in den Weltraum geflogen und ist mit dem vorletzten Space Shuttle unbeschadet zurückgekommen. Ich weiß, wie viel das gekostet hat. Das wird in Kilo gerechnet und kostet 35.000,- US-Dollar pro Kilo. Die Flöte wiegt etwas um fünfhundert Gramm, plus einige Gramm für die Verpackung. Astronauten dürfen maximal zwei Kilo an persönlichen Gegenständen mit hinauf nehmen. Mit allem Drum und Dran hat der Transport und der Aufenthalt meiner Flöte im All etwa 50.000,- Dollar gekostet.
Rocktimes: Wäre es dein Wunsch gewesen, einmal selbst im Weltraum zu sein?
Ian: Nein, auf keinen Fall. Neulich hat meine Frau gesagt, dass ich etwas aus dem Garten holen soll und bereits ab der zweiten Stufe auf der Leiter wurde mir schwindelig. Ich habe auch große Flugangst. Wenn ich daran denke, dass wir anschließend nach Köln fliegen, werde ich jetzt schon leicht nervös.
Rocktimes: Glaubst du, dass die Landung auf dem Mond echt war oder ein Fake?
Ian: (Er lacht laut) Ja, ich bin mir sicher, dass es echt war. Ich glaube, es ist viel komplizierter zum Mars zu fliegen. Das könnte wirklich eine Mission ohne Wiederkehr werden. Viele Menschen würden das trotz aller Gefahren gerne machen. Es gibt sehr viele Zivilisten, die sich schon angemeldet haben, und bei denen Geld keine Rolle spielt. Aber ob das in der Zeit, in der sie noch zu Leben haben verwirklicht werden kann, bezweifele ich. Ich glaube, selbst in der Zeit, in der meine Kinder leben, wird es schwer, das zu realisieren. Wir müssen erst einmal nach besseren Antriebsmöglichkeiten forschen um weite Entfernungen überwinden zu können. Vielleicht finden wir ein Wurmloch, das uns in ein Paralleluniversum transportiert. Dann können wir anfangen darüber nachzudenken andere Planeten zu besiedeln. Solange das nicht der Fall ist, müssen wir erst einmal vor unserer eigenen Haustüre kehren und die Probleme in den Griff bekommen. Ich glaube ja an die Zukunft und ich glaube daran, dass die Menschheit eines Tages vernünftig wird. Die Menschen und speziell die Politiker müssen an sich selbst arbeiten.
Wie lange sind Obama und Cameron an der Regierung? Passiert ist seitdem nichts. Die wollen doch ein positives Bild in den Geschichtsbüchern abgeben. Tony Blair, das war ein guter Premierminister. So empfinde nicht nur ich. Trotzdem wird er in den Geschichtsbüchern negativ aufgeführt. Denk mal an den Irak. Er selbst ist wütend, dass er nicht an seinen positiven Eigenschaften gemessen wird. Er hat viel Gutes für Großbritannien getan, wird aber nur mit dem Irak in Verbindung gebracht.
Sieh mal jetzt Afghanistan. Fast die gleiche Situation, nur ein anderes Land. Warum müssen sich immer alle einmischen? Lasst doch die Leute dort in Ruhe. Jahrhunderte vorher haben es auch alle geschafft, ihre Probleme selber zu lösen. Vielleicht bekommt die Ukraine dadurch jetzt auch noch einen West- und einen Ostteil. Wir könnten ja das Gleiche mit Schottland machen. Die Engländer schicken Männer mit Stiefeln und Gewehren nach Schottland und nehmen denen nicht nur das Öl weg und versuchen sie dann auch noch zu zivilisieren.
Ian Anderson und Mike In England gibt es einen Spruch, der heißt »In for a penny, in for a pound« und bedeutet so viel wie, dass man aus wenig mehr machen kann, oder mit dem zufrieden sein soll, was man hat. Ich habe das mit dem Ende des Albums verbunden, um den Menschen wieder ein wenig Optimismus zu geben. Auf "Homo Erraticus" habe ich viele Dinge an den Pranger gestellt, aber nicht ohne dabei ein Lächeln im Gesicht zu haben. Einiges sollte man nicht zu ernst nehmen, aber über anderes sollte man schon intensiver nachdenken. Ich hoffe, dass es dadurch vielen Leuten einfacher fällt, den Prozess des Nachdenkens anzuregen. So etwas kann man nicht mit drei Minuten langen Songs ausdrücken, die höchsten zweihundert Buchstaben im Text haben. Wir haben die Möglichkeit, uns mit unserer Sprache auszudrücken, die zwar in verschiedenen Sprachen gesprochen wird, aber immer das Gleiche meint. Ich möchte meine Gedanken mit meinen Zuhörern teilen und sie dazu anregen selbst zu denken. Wenn ich zweiundvierzig Jahre zurückdenke, als ich "Thick As A Brick" geschrieben habe, da haben sich die Menschen darüber aufgeregt und gesagt, dass Ian Anderson die Menschen zum Denken anregen will. Ich habe dann die Journalisten angesehen, ein verdutztes Gesicht aufgesetzt, und einfach 'Ja' gesagt. Natürlich will ich euch zum Nachdenken anregen. Sicher doch, was ist den falsch daran? Bob Dylan und John Lennon haben nichts anderes getan. Sie haben Musik zum Nachdenken geschrieben. Na klar waren da auch ein paar Songs dabei, mit denen sie Geld verdient haben, aber in erster Linie hat ihnen etwas anderes am Herzen gelegen. Was sie getan haben, ist nicht predigen, sondern einfach nur, den Menschen die Augen zu öffnen, um über Missstände nachzudenken. Durch Reden setzt man Dinge in Gang und durch Handeln kann man wieder mehr Freude empfinden. Wir können uns an Kindern erfreuen und daran, Babys in die Welt zu setzen. Allerdings müssen wir darüber nachdenken wie viele. Meine Frau und ich haben uns dazu entschlossen, zwei Kinder zu bekommen. Wir haben diese Entscheidung gemeinsam getroffen, als ich Anfang dreißig war. Nun sind wir gesegnet mit einem Jungen und einem Mädchen. Wozu brauchen wir mehr? Du hast die Option dich sterilisieren zu lassen und du hast die Option Verhütungsmittel zu benutzen, oder du gehst zu David Furnish. (Er lacht laut)
Mach was immer du willst, egal, auch wenn du Homosexuell bist. Ich denke, wenn man seine sexuellen Neigungen auslebt, kann man viel mehr Freude im Leben haben. Leider ist das alles bei vielen Menschen noch nicht angekommen. Schau dir die verschiedenen Länder auf der Welt an, bei denen es immer noch ein Statussymbol ist, so viele Kinder wie möglich zu haben. Andere Paare haben dafür das Pech keine bekommen zu können. Trotzdem haben sie die Option welche zu adoptieren, zum Beispiel aus Ländern, in denen große Armut herrscht. Sicher ist das immer eine schwere Entscheidung. Ich brauchte darüber nie intensiv nachdenken und ich bin froh darüber. Zum Glück gibt es nun auch die Möglichkeit, dass homosexuelle Paare, egal ob schwul oder lesbisch, Kinder adoptieren können. Warum soll das denn auch für Kinder schlecht sein? Diese Kinder wachsen doch trotzdem in einem Umfeld auf, das nicht nur aus gleichgeschlechtlichen Paaren besteht. Sie spielen mit Jungen und Mädchen, gehen in gemischte Schulen und ich denke, dass sie dadurch viel toleranter und weltoffener erzogen werden können. Als Kind schaust du doch deinen Eltern auch nicht beim Sex zu, also spielt es doch keine Rolle, ob das Paar, welches dich aufzieht gleichgeschlechtlich ist. In den vergangenen Jahren haben sich somit zum Glück Grenzen geöffnet. Natürlich gibt es in vielen Ländern der Welt noch große Probleme damit. Ich habe letztens eine Fan-Webseite in den USA gelesen, dass Ian Anderson mit seiner neuen CD "Homo Erraticus" bestimmt große Probleme bekommen wird. Die lesen nur das Wort 'Homo' und verbinden es mit etwas Negativen. Ich frage mich ernsthaft, welche Species von Menschen das ist, die nicht wissen, was das Wort 'Homo' bedeutet. Sind das welche vom Schlag 'Canus Lupus' oder 'Philus Cattus'? Wo leben die denn heute? Kennen die denn den Begriff 'Homo sapiens' nicht? Ich frage mich nur, was diese Typen für eine Schulbildung haben. Ich habe da absolut kein Verständnis für. Ich schätze solche Leute sogar als sehr gefährlich ein. Wie auch immer. (Er springt auf und beendet wie aus dem Nichts das Gespräch)
RockTimes bedankt sich bei Iris Klabunde und Marco Linke von CMM für das Zustandekommen des Interviews.
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