Beggars Opera / Lose A Life (A Nano Opera)
Lose A Life Spielzeit: 47:32
Medium: CD
Label: Repertoire Records, 2010
Stil: Progressive

Review vom 24.06.2011


Steve Braun
Beggars Operas neuestes Werk "Lose A Life (A Nano Opera)" hat mich kürzlich im Urlaub begleitet. Die Impressionen sollten mich für dieses, nach dieser Auszeit zu schreibende Review inspirieren. Man muss sich das einmal bildlich vorstellen: Man sitzt mitten im zentralen Südfrankreich in herrlichster Umgebung und allerfeinster Urlaubsstimmung. Plötzlich zersägt morbider Elektrosmog die anmutige Szenerie und gallig anklagender Gesang lässt den Wein im Glas 'verkorksen'... [Ich suche noch immer den redaktionsinternen Schmerzensgeldantrag]
Ricky Gardiner hat gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Sängerin und Keyboarderin Virginia Aurora Scott mit "Lose A Life (A Nano Opera)" ein Konzeptalbum erschaffen, um das Bewusstsein gegenüber dem Phänomen der Elektrosensibilität zu schärfen. Grundlage für den Stoff sind persönliche Erfahrungen Gardiners. In Zeiten hoch komplizierter Elektrotechnik, die in die Haushalte Einzug gehalten hat, und vor allem dichter, hoch moderner Informationsnetze (hier sei das Stichwort Mobilfunkmasten genannt), leiden immer mehr Menschen an den körperlichen Auswirkungen der Strahlungen, zumeist ohne es zu wissen. Hochproblematisch ist, dass dieses Phänomen - man nennt es auch Elektrosmog - in der Wissenschaft kontrovers diskutiert wird und die Betroffenen somit vor allem in medizinischer und psychologischer Hinsicht erheblich unterversorgt sind, weil die Therapien derzeit noch nicht anerkannt sind.
Ricky Gardiner spricht von seinem »Nightmare of Electrical Sensitivity« und der Leser möge es dem Schreiber nachsehen, wenn er ausnahmsweise einmal eigene Erfahrungen beisteuert. Dies dient ebenfalls ausschließlich der Sensibilisierung für dieses Thema.
Schnelldurchlauf: Nach einem Umzug in eine neue Wohnung, konnte ich monate-, ja man kann durchaus sagen jahrelang nicht mehr schlafen. Zwei, allerhöchstens drei Stunden am Stück, dann war die Nachtruhe vorbei. Der Schlafentzug, in diktatorischen Staaten übrigens eine beliebte Foltermethode, führte zu ernsthaften körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen. Ein Besucher machte mich auf die direkt über das Haus verlaufende Hochspannungsleitung aufmerksam, die ich wohl registriert, aber niemals als Ursache in Betracht gezogen hatte. Lange Rede - kurzer Sinn: Eine Messung des Elektrosmogs ergab hohe, gesundheitsbeeinträchtigende Werte, die letztlich einen Umzug unumgänglich machten.
Vielerorts wehren sich Anwohner gegen die massenhafte Errichtung von Mobilfunkmasten und werden oftmals als technikfeindliche Spinner belächelt. Es ist hohe Zeit, dass das Problem der Elektrosensibilität - von dem zum Glück die Mehrzahl der Menschen nicht betroffen ist - stärker wahrgenommen und möglichst schnell von den Krankenkassen als therapiewürdig anerkannt wird. Soweit dieser Exkurs...
"Lose A Life (A Nano Opera)" ist definitiv kein Beggars Opera-Album. Es handelt sich offensichtlich um ein Solowerk des Ehepaares Gardiner-Scott. Nichts, nicht eine Spur von dem, was epochale Alben Waters Of Change (1971) oder "Pathfinder" (1972) ausmachten, ist hier zu hören. Diese progressiven, luftig gewobenen Klänge, die leichten, psychedelischen, oft gar 'folkigen' Einschübe - allesamt Fehlanzeige. "Lose A Life" erschlägt den Hörer mit überaus düsteren, depressiven und kalt-synthetischen Soundwänden. Bei jedem einzelnen Ton ist zu hören: Ricky Gardiner leidet - der Mann ist krank! Angeblich soll er ja fast ausschließlich im Speicher seines Hauses, völlig abschottet von jeglichen Elektrogeräten, die Elektrosmog auslösen könnten, leben. Für das Album ließ er sich gar in einem 'Schutzanzug' ablichten. Das wirft natürlich berechtigte Fragen auf. Wie sind bspw. seine gitarristischen Beiträge im Studio entstanden; in einer Räumlichkeit also, in der elektromagnetische Strahlungen in überaus großer Menge vorhanden sein müssen. Seine Gitarre elektronisch zu verstärken, muss wohl ebenfalls eine körperliche Qual gewesen sein. Es ist schon klar: Ein musikalisches Pamphlet gegen Elektronik im Allgemeinen kann man unmöglich in ein rein akustisches Gewand kleiden. Und trotzdem bleibt "Lose A Life" nicht nur wegen der Instrumentierung widersprüchlich.
Das Album müsste eigentlich - wie es bei Tabakwaren bereits üblich ist - mit einem medizinischen Warnhinweis versehen werden: Nicht konsumieren bei Depressionen mit suizidalen Tendenzen!! Man sollte also in dieser Hinsicht 'kerngesund' sein, bevor man den Player mit "Lose A Life" füttert.
Düster und bedrohlich steigt die Rest-Bettleroper - Gardiner ist Gründungsmitglied und Scott stieg wenig später ein - mit "Electrofire Invasion" in "Lose A Life" ein. Virginia Aurora Scott, die alle Songs komponiert und betextet hat, erzeugt auf ihren Keyboards eisige Klangwände über die Ricky Gardiner im Mittelteil in Gilmour'scher Manier 'ätzt'. "Electro Half Light" beschreibt die erzwungene völlige Isolation von der modernen Welt an und Gardiner lässt seine Gitarre zum Marschrhythmus seines Sohnes Tom (drums) schauerlich anklagen. Auch wenn die Keyboards nicht im einzelnen im Booklet aufgeführt werden, kann man davon ausgehen, dass Scott - wie in den frühen Siebzigern - ihr Mellotron des Öfteren einsetzt. Das hört man den zittrigen Chören und Stimmen sowie den wimmernden Streichern gelegentlich deutlich an. Ansonsten setzt die Dame auf Piano und moderne polyphone Elektrosmogschleudern... äh, will sagen Synthesizer.
Der Longtrack "Masts On My Roof" ist am abwechslungsreichsten arrangiert worden. Allerdings schlagen auch hier wieder die 'hölzern' anklagenden Texte unangenehm zu Buche. Es gibt anscheinend nur Schwarz oder Weiß im Hause Gardiner-Scott - ein Phänomen, dass bei vielen chronisch kranken und deshalb verzweifelten Menschen zu beobachten ist. Da ist's regelrecht 'erwärmend', wenn die Gitarre der Sängerin beispringt - ein zwiespältiger Moment wie eigentlich das gesamte Album...
"Cosmic Tango" könnte in den instrumentalen Passagen auch aus der Floyd'schen Feder stammen. Es fällt auf, dass mit diesem Song die Stimmung von "Lose A Life" zu kippen beginnt. Sollte da doch so etwas wie Hoffnung bei den Gardiners aufkeimen? Offensichtlich hat man bei "Dr. Carlo" endlich 'ein offenes Ohr' gefunden - jetzt kommt mit herrlichen Twin-Läufen der Gitarren musikalisch sogar ansatzweise ein Funken optimistischer Lebenshaltung auf. Trotzdem ist man als Hörer geneigt, tief aufzuatmen, wenn das Martyrium mit "Tango For The End Of Time" endlich sein rein instrumentales Ende findet.
Boah, das war ein verdammt hartes Brot. Ein durchaus ernstzunehmendes Anliegen wird auf höchst unverdauliche Weise in die Musikwelt gebracht.
Als Fan der 'alten' Beggars Opera hält man sich wohl am besten nicht allzu lange mit "Lose A Life" auf, denn sonst könnte man dieses tatsächlich in den depressiven Klangwelten verlieren. Halten wir uns lieber an die (optimistischeren) Perlen früherer Tage...
Line-up:
Ricky Gardiner (guitars)
Virginia Aurora Scott (keyboards, vocals)
Tom Gardiner (drums)
Tracklist
01:Electrofire Invasion (11:53)
02:Electro Half Light (06:11)
03:Masts Of My Roof (11:24)
04:Cosmic Tango (06:49)
05:Dr. Carlo (07:00)
06:Tango For The End Of Time [Instrumental] (04:34)
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