Dream The Electric Sleep / Heretics
Heretics Spielzeit: 73:14
Medium: CD
Label: Eigenproduktion, 2014
Stil: Progressive Rock

Review vom 17.02.2014


Steve Braun
Das Zweitlingswerk der US-Progger Dream The Electric Sleep, "Heretics", ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Da wäre zunächst einmal die Provenienz der drei Musiker, die aus Kentucky stammen. Ein Landstrich der USA, der nun wahrlich für völlig andere musikalische Stilrichtungen und vor allem seine Bibelfestigkeit und -treue bekannt ist.
Vor diesem Hintergrund ist es schon reichlich spektakulär, dass sich das Konzept des vorliegenden Albums um das lehrende Wirken herausragender weiblicher Persönlichkeiten dreht, die zu ihrer Zeit von Teilen der Gesellschaft als ketzerisch verfemt wurden. Die schillerndste Figur stellt wohl die Wanderpredigerin Sojumer Truth (1798-1883) dar. Von dieser bedeutenden farbigen Vorkämpferin gegen Sklaverei und Sexismus ist der wunderschöne Satz »Jesus ist der Sohn von Gott und Maria - Männer hatten damit nichts zu tun!« überliefert - ein Schlag ins Gesicht bigotter evangelikaler Heuchler, in Kentucky und natürlich auch anderswo...
Ein Konzept um neun Vorkämpferinnen - die bekanntesten darunter dürften Virginia Woolfe und Emily Dickinson sein - des Feminismus gestrickt, die allesamt - wie Christine de Pisan und die Heilige Brigitta von Schweden - ihrer Zeit weit voraus waren? Alles andere als eine schlechte Idee...
Bemerkenswert ist zudem die Tatsache, dass sich Dream The Electric Sleep (im Folgenden nur DTES genannt) nicht darauf beschränken, die üblichen Verdächtigen des 'klassischen' Prog und seiner Neo- und Art-progiggen Epigonen zu zitieren. Streckenweise wirkt "Heretics" von (britischem) Post- und Alternative Rock geprägt, wie wir ihn von Radiohead oder Muse kennen. Vor allem Ed Kowalczyks Band Live scheint in den härteren Passagen tiefe Spuren bei dem Trio hinterlassen zu haben. Auch U2 (auffällig vor allem bei Gesang und Chören) und Rush dürften in den Plattenregalen der drei Musiker zu finden sein. Gelegentlich kommt ein bedrohlich düster wirkender 'Ton' dazu, der dann zwar etwas sperrig wirkt, sich aber gut in den Gesamtkontext einfügt.
Obendrein - auch das eher untypisch für das Prog-Genre - kommt DTES völlig ohne den Einsatz von Keyboards aus. Dafür sorgen ein Cello bzw. French Horn gelegentlich für (überaus aparte) Auflockerungen. Matt Page setzt zudem des Öfteren sein Banjo zur höchst spannend-progressiven Melodieführung ein. Völlig ungewohnte Töne für jemanden, der dieses Instrument hauptsächlich vom Bluegrass her kennt...
Kurze, aber bildhafte und kraftvolle Texte paaren sich mit mächtigen Soundkulissen. Allerdings 'erschlägt' oder überfordert beides den Hörer nicht, da sich unterschwellig und hintergründig sehr viele Freiräume für Filigranes wie Atmosphärisches finden lassen. Die Mehrzahl der Songs weisen eine komfortable Länge auf, die genügend Raum zur Entfaltung bietet. So darf sich "Utopic" - eher wehmütig - zu einem wahren Utopia entwickeln, "The Name You Fear" kann all die epische Breite auffahren, wie man sie von den besten U2-Nummern kennt und auch bei "It Must Taste Good" kommt das ganz große Besteck - die Grenze zum Bombast touchierend - zum Einsatz.
Kompakt knackig, erneut ganz nach Art von Bono und The Edge, kommt dagegen "Fist To Face" daher - eindeutig die natürliche Single. Ein- und Ausstieg in das Album sind mit "Heretics" bzw. "Ashes Fall" platinschwer, aber keinesfalls ohne Finesse. Mit jedem Hördurchgang entdeckt man neue, reizvolle Geheimnisse von DTES...
Mein Lieblingsstück ist das balladeske "To Love Is To Leave" - ein geradezu quälend langer Klageschrei des Schmerzes, des Verlustes, der mit seinem abwechslungsreichen Arrangement einer Berg- und Talfahrt des Seelenlebens gleicht...
Überaus erfrischend, mal mit einem Album konfrontiert zu werden, bei dem es nicht an allen Ecken und Enden 'floydelt' oder gar 'genesist'!! "Heretics" überzeugt auf breiter Front, auch wenn gelegentlich etwas zu dick aufgetragen wird und die Melange in diesen (wenigen) Momenten vielleicht eine Spur zu sperrig, zu klotzig wirkt. Aber sicherlich haben sich Dream The Electric Sleep auch hierbei etwas gedacht...
Unterm Strich darf hier ein überzeugender Nachfolger des 2011er Debüts "Lost And Gone Forever" vermeldet werden - eine brechend gefüllte Prog-Scheibe der (erfreulicherweise) etwas anderen Art, die ein sehr kluges, spannungsgeladenes Konzept zur Grundlage hat.
Line-up:
Matt Page (lead vocals, guitars, banjo)
Chris Tackett (bass)
Joey Waters (drums, background vocals)

Additional Musicians:
Seth Meyers (cello - #1,3,7,11)
Nathan Williams (french horn - #1,4,8,10,11)
L.A. Watson (spoken excerpts - #11)
Tracklist
Heresis:
01:Heretics (4:50)
02:Elizabeth (8:22)
A Room Of One's Own:
03:Utopic (6:38)
04:To Love Is To Leave (8:01)
The Yellow Wallpaper:
05:The Name You Fear (6:10)
06:It Must Taste Good (8:32)
Cornered:
07:I Know What You Are (6:43)
08:Fist To Face (4:15)
Waiting:
09:Lost Our Faith (2:06)
10:How Long We Wait (9:29)
11:Ashes Fall (8:08)
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