electra / Live
Live
Da wohl die wenigsten mit dem Namen electra etwas anfangen können, hier eine Erklärung zu dieser Rockgruppe, welche aus dem Osten unseres Landes kommt. 1969 formierten sich fünf Studenten der Dresdner Musikhochschule zu einer Band, deren Namen electra war und die 33 Jahre danach noch immer aktiv ist.
Begonnen hat die vom Multiinstrumentalisten Bernd Aust gegründete Gruppe mit dem Nachspielen von großen Hits der Beatles und Beach Boys, was ihnen dank ihrer hervorragenden Musizierweise und ausgefeiltem Satzgesang hervorragend gelang. Dabei zeigte sich die enorme musikalische Substanz, die in dieser Formation steckt. Rockmusik auf hohem Niveau war von Anfang an der Anspruch von electra, welcher sich über drei Jahrzehnte lang durch viele Höhen und wenige Tiefen hindurch immer wieder bestätigt hat, wobei die Band ständig auf der Suche nach neuen Wegen war und noch immer ist.
Wichtig ist es zu erwähnen, dass alle Musiker der ehemaligen DDR eine fundierte Ausbildung an einer Musikhochschule absolvieren mussten und als Abschluss den Berufsausweis erhielten. Es war somit nicht möglich, einfach nur aus reiner Spaß an der Freude eine Rockband zu gründen, ohne diesen Befähigungsnachweis. Man kann also getrost davon ausgehen, dass jeder einzelne Musiker sein Handwert völlig perfekt beherrscht.
Manuel von Senden, der Frontmann, erhielt nach 11-jähriger electra-Tätigkeit sogar ein Engagement an einem großen Opernhaus, nämlich der Dresdner Semperoper. Das dürfte wohl in ganz Europa einmalig sein: ein Rocksänger wird an die Oper berufen. Das zeugt mit Sicherheit von einer sehr hohen musikalischen Qualität.
Für ihn ist übrigens der ausdrucksstärkste Frontmann des Ostrocks, Stephan Trepte, wieder zur der Band zurückgekehrt, in der er seine ersten wichtigen künstlerischen Schritte tat.
Neben den drei Gründungsmitgliedern Aust, Ludewig und Riedel sind auch die anderen gegenwärtigen electra-Musiker Andreas Leuschner (Keyboards), Stephan Trepte (Gesang), Falk Möckel (Schlagzeug) und Eckhard Lipske (Gitarre) noch in anderen Berufen tätig. Sie müssen also nicht mehr des Geldverdienens wegen Musik machen, wodurch die Spielfreude natürlich noch weit größer ist. Diese pure Lust an ausdrucksstarker Rockmusik spürt auch das Publikum und das kommt ganz stark auf dem Doppelalbum "live" rüber.
Was soll man zu jedem einzelnen electra-Song eigentlich sagen? Fest steht erst einmal, dass auch einige Coverversionen auf das Album gepackt wurden. So wird zum Beispiel die erste CD des Doppelalbums mit dem russischen "Säbeltanz" eröffnet, während der Opener für die zweite der "Türkische Marsch" von W.A. Mozart ist.
Weitere Cover sind das hervorragend interpretierte "Still Got The Blues" von Gary Moore. Perfekt umgesetzt lässt es keine Wünsche offen. Des weiteren dürfen die "Helden" der Band, nämlich Jethro Tull, nicht fehlen und finden sich in "Bouree/Locomotive Breath" auf dem Silberling wieder.
Geniale Coverversionen sind ebenfalls "Reach Out I'll Be There", "Good Golly, Miss Molly" sowie "Gimme Some Lovin".
Natürlich muten die deutschen Texte für den Zuhörer, der keinen Zugang zu diesen Songs hat, etwas ungewohnt, ja sogar eigenartig an und entlocken bei diesem oder jenen lediglich ein verwundertes oder verständnisloses Kopfschütteln. Dabei sollte niemals vergessen werden, unter welchen Umständen die Song-Texte entstanden sind.
Erst ein tieferes Hinhören offenbart so manche versteckte Botschaft. Es ist halt kein oberflächliches "Herzschmerzichliebedichlalalatralala", nein, die Zeilen haben sehr viel Tiefe, wie zum Beispiel der Song "Scheidungstag" und Aussagekraft ("Das kommt, weil deine Seele brennt" oder das herrliche, von einer Orgel eingeleitete und mit einem sehr pathetischen Text versehene "Tritt ein in den Dom"), die von der Jugend der damaligen DDR schon verstanden wurden.
Im Kontrast dazu dann wieder das lustige, sogar etwas poppig anmutende "Goldhamster" oder die in ein fettes Soundgewitter eingehüllten "Dicken Bohnen", über deren Lyrics man einfach nur schallend lachen kann.
Es lohnt sich wirklich, genauer hinzuhören.
Einer ihrer größten Hits war u.a. "Nie zuvor...", den ich unweigerlich mit electra verband und der sowohl damals als auch heute seinen Zauber für mich nicht verloren hat und neben dem bereits genannten "Tritt ein in den Dom" einer ihrer schönsten Songs war und noch immer ist. Gänsehautfeeling pur, besser kann ich es nicht ausdrücken.
Neben vielen eigenen Songs gelang electra mit "Die Sixtinische Madonna/Das Bild", damals komponiert zu ihrem 10. Geburtstag, der ganz große Wurf.
Hier ein kurzer Ausschnitt zur Erklärung aus ihrer Biografie:
Zitat:
"Bernd Aust, (Bandchef von electra) beschäftigte sich überaus intensiv mit dem Leben und Werk des italienischen Malers Raffael, dessen Meisterwerk "Die Sixtinische Madonna" in der Dresdner Gemäldegalerie täglich von vielen Kunstfreunden aus aller Welt bewundert wird. Was könnte besser zu electra passen als die Kunst und die Verbundenheit zu ihrer Heimatstadt Dresden auf eine ganz besondere Art zu würdigen. Und es war "Die Sixtinische Madonna", die Bernd Aust seit Ewigkeiten nicht mehr losließ. Wohlan, dann komponiere ich sie halt, war der electra-Chef von seinem Vorhaben nicht mehr abzubringen. Drei Teile - "Der Maler", "Das Bild", "Der Betrachter" - sollte die Rocksuite haben, die Vergangenheit und Gegenwart auf musikalisch eindrucksvollste Weise verbindet.
So flossen Elemente der Renaissance, folkloristischer Bauerntanz und ein Madrigal von Orlando Di Lasso ins klangvolle Rock-Basement. Als Texter konnte Kurt Demmler, mit dem schon eine jahrelange Zusammenarbeit bestand, gewonnen werden. Ihm gelang es hervorragend, die musikalische Hommage mit ausdrucksstarken Texten zu versehen und Bernd Aust setzte exzellent auf die Bildhaftigkeit der Sprache und die Bildhaftigkeit der Komposition. Das Novum eines Madrigals in einem großangelegten Rockwerk ging mit einem weiteren Novum in der DDR-Rockgeschichte einher. Ein 60-köpfiger gemischter Chor der Dresdner Technischen Universität sang bei der LP-Produktion und bei ausgewählten Konzerten Orlando Di Lasso's unter die Haut gehendes Madrigal. Auf Tournee gelingt den virtuosen electra-Musikern dieses kaum vorstellbare Klangwunder.
Manuel von Senden, der mehrfach in Fernsehsendungen ganz allein das berühmte Largo aus der Händel-Oper "Xerxes" sang, übernimmt als Tenor die Sopranstimme, Bassist Wolfgang Riedel die Altstimme (was bei Männern in Kopfstimme singend möglich ist), Schlagzeuger Peter Ludewig singt in Tenorlage und Gitarrist Gisbert Koreng die Bass-Stimme. Spätestens seit dieser faszinierenden Rocksuite galten die electra-Musiker als die hochkarätigsten Diamanten des Ostrock." Zitatende
Damit, finde ich, ist sehr gut beschrieben, welche Arbeit in diesem Song steckt.
Musikalisch wird in diesem Mammutstück die ganze Palette geboten und rundet sich kompositorisch am Ende: mal klingt es barock, mal rockig, mal jubiliert ein Chor, mal rockt die E-Gitarre, mal gibt es Flöte zum Marschrhythmus, und immer wieder schöne fette und melodische Synthie- und Orgelsounds. Die Teile werden allerdings durch ausgedehnte Chor-/Instrumentalintermezzi miteinander verbunden.
Aber er ist nur einer von vielen, sehr guten Songs, die auf dem Album "live" zu finden sind.
Es lohnt sich, einfach mal reinzuhören und man wird noch viele andere Diamanten neben "Die Sixtinische Madonna/Das Bild" entdecken.
Übrigens, Stichwort: melodisch. Bei allem Pomp und Anspruch spielen electra doch vor allem wunderschöne Melodien.
Ich lege "live" allen, die bisher wenig oder gar keinen Zugang zu Ostrock hatten, wärmstens ans Herz. Hier erlebt man Spielfreude pur
Die Produktion der CD ist sehr gut und das Booklet mit Fotos der verschiedenen Akteure sowie einer Kurzbiografie versehen. Meine Empfehlung: einfach nur kaufen und sich an den genialen Songs sowie des perfektes Spiels derselben erfreuen.
Spielzeit: 113:41, Medium: Do-CD, BuschFunk, 2002
CD 1: 1:Säbeltanz (3:53) 2:Scheidungstag (6:44) 3:Löwenzahn (6:23) 4:Wenn die Blätter fallen ( 5:26) 5:Goldhamster (4:35) 6:Wie im Film (11:27) 7:Die Sixtinische Madonna/Das Bild (6:01) 8:Still Got The Blues (6:59) 9:Bouree/Locomotiv breath (7:25) 10:Nie zuvor (4:26)

CD 2: 1:Türkischer Marsch (7:37) 2:Weiter, weiter (3:43) 3:Das kommt, weil deine Seele brennt (2:31) 4:Der grüne Esel (4:19) 5:Reach Out I'll Be There (inkl. Mampe Solo: Hava Nagila) (9:54) 6: Tritt ein in den Dom (6:01) 7:Einmal ich, einmal du (3:17) 8:Good Golly, Miss Molly (2:36) 9:Dicke Bohnen (4:14) 10:Gimme Some Lovin (4:14) 11:Seh in die Kerzen (2:18)
Ilka Czernohorsky, 20.06.2003