Europe / Live From The Dark
Live From The Dark
Ich weiß, ich weiß, es ist ja so abgedroschen, dermaßen ausgelutscht und abgestanden, aber ich kann es nicht lassen:
Dädädä-dä-dädädädädäm - ... welch ein Keyboardintro, selbst knapp 20 Jahre später sitzt es so fest im Gehörgang wie hartnäckiger Ohrenschmalz.
Und dann diese Langhaarpudelfrisuren, so unvergessen wie unverzeihlich! Aber das ist alles Schnee von gestern. Zwar haben die Franzosen und Niederländer die europäische Verfassung zunächst beerdigt, dafür sind aber immerhin die schwedischen Miniplirocker von Europe wieder auferstanden, und mit ihnen der unvermeidliche und scheinbar doch ewig finale Countdown.
Im Herbst letzten Jahres brachte die Band mit "Start From The Dark" ihr erstes Album seit 1991 auf den Markt, und das sogar in Originalbesetzung.
Weg waren die göttlichen Frisuren, weg war auch der stadien- und partykompatible melodiöse (Bombast)Schablonenrock, den die einen als Melodic-Hardrock empfanden und die anderen als klassischen Fall von 'Kinderrock'.
Hier und jetzt sind normales Leder- und Jeansoutfit angesagt, die Haare eher halblang und selbstredend nicht dauergewellt, und der Sound ist um mehrere Oktaven tiefergelegt und rockt mittlerweile tatsächlich.
Dies ist nun auf der brandneuen Doppel-DVD "Live From The Dark" dokumentiert, deren Hauptbestandteil der Mitschnitt des letztjährigen Abschlusskonzertes der Europatour im Londoner 'Apollo Hammersmith Theatre' ist.
Immerhin 6 Stücke, also das halbe Album, vom aktuellen Longplayer sind beim festgehaltenen Gig im Programm. Und sie sind, das muss so klar gesagt werden, bis auf die Ballade "Hero" ziemliche Fremdkörper. Denn sie zeichnen sich alle durch vermeintlich moderne Düsternis aus, d.h. der Bass übernimmt die Rolle einer hammerharten Rhythmusgitarre und auch Gitarrero John Norum lässt die Saiten quasi aus dem Frequenzkeller erklingen. Das kommt für Europe-Verhältnisse vergleichsweise hart rüber und klingt recht zeitgemäß, hat aber mit ihrem sonstigen Programm herzlich wenig zu tun.
Dieses setzt sich wiederum in größten Teilen aus den beiden wohl erfolgreichsten Alben "The Final Countdown" (1986) und "Out Of This World" (1988) zusammen, da jeweils 4 Songs Bestandteil der Setlist sind. Und es sind alles Stücke der bekannteren Art, da sie überwiegend, wenn nicht sogar komplett, ehemals als Single erschienen sind.
Ergänzt wird die Mahlzeit durch "Seven Doors Hotel" vom 1983er Debütalbum "Europe", "Wings Of Tommorrow", dem Titelsong der gleichnamigen zweiten LP (1984), "Girl From Lebanon" vom ehemals letzten Album "Prisoners In Paradise" (1991) und "Yesterday's News" (auch "Yesterdaze News" geschrieben), B-Seite der 1992er Abgesangssingle "Halfway To Heaven".
Europe performen ihr Repertoire sehr frisch und engagiert, aber die alten Songs können eine gewisse Schablonenhaftigkeit in ihrer Struktur und ihrem Aufbau nicht leugnen. Sie offenbaren bei allem interpretatorischen Bemühen und Können der Band ein letztlich zu enges Korsett, um wirklich spannend zu werden. Dabei könnte ich mir vorstellen, dass die Band selten zuvor so schlackefrei agiert hat, mit einer druckvollen und gut aufeinander abgestimmten Rhythmsection (Ian Haugland - drums, John Levin - bass), Tasteninstrumenten, die zumeist lediglich schmückendes Beiwerk sind (Mic Michaeli), einem fulminanten 'Gibson Les Paul'-Liebhaber mit diversen Effektgeräten (John Norum) und einem bestens aufgelegten Frontmann und Sänger (Joey Tempest), der die ganze Sache vollkommen im Griff hat.
Ausgerechnet die beiden letztgenannten Songs, die ursprünglich in einer Phase entstanden waren, als die Kariert-Flanell gewandete 'Grungewelle' Europe und ihre 'Brothers In Mind' erbarmungslos hinfort spülte, entpuppen sich meiner Meinung nach als absolute Highlights des Konzerts. Vielleicht oder gerade deshalb, weil sie etwas aus dem Rahmen fallen und das scheinbar selbstauferlegte Doppelkorsett (alte Songs versus neue Songs) durchbrechen. "Girl From Lebanon" besticht durch hervorragende Vocals von Joey Tempest, eine betörende Melodieführung, die jederzeit ihre Spannung halten kann und einem ausgesprochen gefühlvoll agierenden John Norum, der das Teil mit einem gitarristischen Instrumental-Showcase namens "Milano" furios einleitet. Zwischendurch groovt und rockt der Song per excellence und punktet somit durch Tempi- und Rhythmuswechsel.
"Yesterdaze News" wiederum beweist, dass Europe mittlerweile nicht nur richtig rocken können, nein, sie rollen sogar! Hier wird endlich mal der freischwebende Groovehammer geschwungen und als Krönung gar das klassische 'Call And Response'-Spiel ausgepackt, in diesem Fall zwischen Sänger und Gitarristen. Sehr gelungen! Darüber hinaus gibt es kurze Solobreaks für die Keyboards und das Schlagwerk. Am Ende des Titels hält die Band für mindestens 15 bis 20 Sekunden inne, um dann mit voller Wucht das Finale hinzubrettern. Wow, that's really Rock 'n' Roll and I like it.
Auf der zweiten DVD gibt es dann noch Nachschlag.
Wir bekommen die Videos von "Got To Have Faith" und "Hero" zu sehen, die mir im Clip-TV gar nicht aufgefallen sind (bei aller Plastik- und Newrockmucke nie gesendet oder was?), erfahren dabei ganz nebenbei, dass Europe große Thin Lizzy-Verehrer sind, werden bei zwei Songs Zeuge des Soundchecks für das Konzert auf DVD 1 ("Spirit Of The Underdog" vom aktuellen Album und "Heart Of Stone" vom Countdownalbum), fahren Taxi durch London und lauschen den Monologen diverser Bandmitglieder, lassen uns von selbigen ausführlich ihr Bühnen-Equipment erklären und genießen eine feine Doku über die 'Start From The Dark'-Tour, wo sehr authentisch das Leben 'On The Road' gezeigt wird und die Phase nach einem Konzert, wo die Musiker vollkommen euphorisiert in die Garderobe kommen, um 2 Stunden später den beinhart ausharrenden Fans noch Autogramme zu geben.
Es präsentiert sich hier eine sehr sympathische und bodenständige Band, in der nicht zum ersten Mal der Drummer als Stimmungskanone und Pausenclown auffällt.
Ich denke, dass nicht umsonst der Schlagzeuger einer Band mit dem Torwart einer Fußballmannschaft verglichen werden darf, denn alle beide müssen irgendwie ein bisschen verrückt sein und halten ansonsten den Laden zusammen.
Abgerundet wird die zweite Disc noch durch eine ausführliche, aber sehr klein geschriebene Biografie, eine Discografie und Videografie.
Die Tonqualität ist auffallend gut, sehr dynamisch, räumlich authentisch und mit Hauptaugenmerk auf Gesang und Gitarre. Das Schlagzeug ist dagegen etwas in den Hintergrund gemischt, was aber kleineren Abhörräumen durchaus zugute kommt (nur zweikanalig gehört!).
Das Bild dagegen ist eher enttäuschend, ziemlich grobkörnig mit dem Charme der alten VHS-Kassette. Für die Interviewpassagen sind leider keinerlei Untertitel abrufbar.
Fazit:
Für alle Leute, die dieser Formation schon immer wohlgesonnen waren, ist dies ohne Zweifel eine Pflichtanschaffung, aber auch Rockfans, die bisher beim Namen Europe nur Fön-Dauerwelle, Rumgepose und Hard-Rock light im Kopf hatten, sollten ruhig mal ein Ohr und Auge riskieren, diese Formation hat vom Potential her mehr drauf, als sie bisher hat verlauten lassen!
Technische Ausstattung:
Format: DVD Video 9 -PAL; Bildformat 4:3, 16:9; Tonformate: DTS 5.1 Digital Surround, Dolby Digital 5.1 Digital Surround und Dolby Digital 2.0 Stereo Mix


Spielzeit: 230 Min., Medium: Do-DVD, Sanctuary Records, 2005
DVD 1: Concert Performance
01:Got To Have Faith 02:Ready Or Not 03:Supersticious 04:America 05:Wings Of Tomorrow 06:Let The Good Times Rock 07:Animal Crossing/Seven Doors Hotel 08:Hero 09:Wake Up Call 10:Sign Of The Times 11:Milano/Girl From Lebanon 12:Carrie 13:Flames 14:Yesterdays News 15:Rock The Night 16:Start From The Dark 17:Cherokee 18:Final Countdown

DVD 2:
Bonus Material Behind The Tour:
Opening/Leaving Tilburg Concert Theatre/Arriving London/Entering London Concert Theatre/Audience Interviews/Band Going On-Stage - Final
Taxi Diaries:
John N and John L/Ian Haugland/Mic Michaeli/Joey Tempest
On-Stage Interviews:
John Norum/Mic Michaeli/John Leven/Ian Haugland
Spirit Of The Underdog (Soundcheck)/Heart Of Stone (Soundcheck)/Got To Have Faith (Music Video)/Hero (Music Video)/Biography/Discography/Videography/Credits
Olaf "Olli" Oetken, 17.11.2005