Frequency Drift / Over
Over Spielzeit: 75:26
Medium: CD
Label: Gentle Art Of Music, 2014
Stil: Prog Rock


Review vom 22.02.2014


Boris Theobald
»... beim nächsten Album vorsichtig sein, um sich nicht zu wiederholen und in eine kreative Sackgasse zu geraten ...« soll Frequency Drift-Vordenker Andreas Hack. So endete meine Rezension zum vorherigen Album der Band, "...Laid to Rest" bereits mit einer vorab zurecht gelegten potenziellen Kritik für den Nachfolger. Der heißt "Over", ist Studioalbum Nummer fünf und lenkt die Aufmerksamkeit zunächst auf die Besetzungsliste. Da hat sich einiges getan - aber es wird auch gleich klar, dass zentrale Klanggeber des Frequency Drift-Sounds erhalten geblieben sind. Das sind neben Andreas und Christian Hack auch Jasper Jöris mit dem Gemshorn und Nerissa Schwarz mit (akustischer und) elektrischer Harfe. Sängerin Antje Auer ist nicht mehr dabei, dafür Neuentdeckung Isa Fellenbacher und als Gast Agathe Labus ...
... Und was für wunderschöne Stimmen das sind! Isa Fellenbacher macht den Anfang auf "Run". Sinnlich und leicht, aber zugleich kraftvoll und ungeheuer präsent. Das ist ein Zauber vom ersten Ton an. Eine melancholische Atmosphäre nur mit Cello und Viola macht den Anfang - das kommt freilich nicht unerwartet. Den Gesangseinstieg begleitet die E-Harfe und zeichnet gleich diese so typisch-bittersüßen Klangbilder. Der dazugehörige Groove ist Gänsehaut erregend. Und schon nach gut anderthalb Minuten wird der Song plötzlich ganz, ganz groß. Wie aus heiterem Himmel treffen einen episch verzerrte Riffs und dramatisch gesteigerter Gesang.
Um den Höreindruck zu beschreiben, gebietet es sich, zu heftigeren sprachlichen Mitteln zu greifen: Man erstarrt in Ehrfurcht - das ist ergreifend gut. Allein schon diese plötzliche 'Schwere', einschließlich späterer Experimente mit beinahe dissonant spannenden Harmonien, setzt gleich hinter den ersten Track des Albums ein großes Ausrufezeichen. "Run" hat alles. Es zerfällt zwischenzeitlich fast zu Staub und errichtet seine zerklüfteten Klanglandschaften aufs Neue. Ohne Effekthascherei. "Run" ist unaufgeregt und damit um so eindringlicher. Der Dreivierteltakt der Strophe bleibt genau so erhalten, wenn plötzlich der Chorus hereinbricht. Mit beinahe stoischer Geradlinigkeit führt uns dieser Siebenminüter schwebend über steile Klippen und durch neblige Täler.
Die ansatzweise Kritik am Vorgänger ist schon im Ansatz dahin. Natürlich haben auch weniger erschütternde und aufwühlende Nummern ihren Platz. Zerbrechliche Stücke wie "Once" oder auch "Wave" verlängern merklich die Spannungsbögen. Solche Gegensätze sind auf "Over" erfreulich stark herausgearbeitet. Unfassbar, wie kurzweilig diese 75 (!) Minuten dadurch werden. Und auch diese retardierenden, verklärt-verzaubernden Stücke werden zu Highlights, wenn sie wie im Falle von "Them" Melodien entfalten, die einfach zum Heulen schön sind. Fast heimlich spielt im Hintergrund noch ein Cello mit - selten war musikalische Wehmut so schön. Man könnte die Atmosphäre als schillernd-düster beschreiben. Zudem ist "Them" ein Duett beider Sängerinnen; auch das erklärt dessen besondere Strahlkraft.
Bei "Adrift" hat Agathe Labus ihren ersten Soloauftritt. Auch der hinterlässt großen Eindruck. Mit technischen Feinheiten setzt sie gesangliche Akzente, bei denen es einem ganz heiß und kalt wird. Die Stimmung ist beklemmend: Schwere, schwarze, lange nachhallende Heavy-Akkorde legen sich fast doomig über die angespannte Idylle der E-Harfe. Man wähnt sich plötzlich in einer unwirklichen akustischen Parallelwelt. Die Wirkung ist nahezu hypnotisch - welch ein Kontrast zur malerischen, introvertierten Gemshorn-Studie in ein und demselben Track ... "Over" ist mit einer Dichte an fesselnden Überraschungsmomenten ausgestattet wie bislang kein anderes Frequency Drift-Album.
Apropos Überraschungen ... mit immenser Bannwirkung kommen auch die temporeicheren, sehr dynamischen Drives der Hooklines von "Sagittarius A*", "Suspended" oder "Driven" daher. Sie erinnern eher an die beiden Personal Effects-Alben der Band - aber nur zum Teil. Man nutzt die Chance eines höheren Tempos und eingängiger (traumhaft schöner!) Gesangsmelodien, experimentiert aber ausgiebiger und tiefgründiger mit Klängen aus verschiedenen Epochen und Kontinenten - orientalisch, barock, Mittelalter, Folk. Und 'Heavy Folk'? - Beeindruckend, wie "Suspended" zwischen federleichter Gesangsmelodie und gedankenversunkener Introspektiven plötzlich an Fahrt aufnimmt mit aufgeregter, virtuoser Querflöte und richtig rockiger und frickelnder Gitarre.
Unbedingt erwähnt werden müssen die Seelen reinigenden Melodien von "Wander", das mit Marimba-Klängen überrascht. Tempi, Tonhöhen, Notenwerte und nicht zuletzt Anmutung von Marimba und Cello, von tieftönigem Piano und glitzernder Harfe konterkarieren einander derart kunstvoll, dass "Wander" alles zur gleichen Zeit zu sein scheint: optimistisch und nachdenklich, energisch mitreißend und federleicht. Das Highlight hebt man sich trotz allem bis zum epischen "Memory" auf, das die Facetten der Band um einen aufregenden instrumentalen Prog-Mittelteil ergänzt, den man so eher von Bands wie Arena oder Pendragon erwartet hätte. Und plötzlich öffnen sich Frequency Drift atmosphärisch - keine Spur mehr von Melancholie. Außerdem ist das Outro-Solo von Martin Schnella (Flaming Row) einfach großartig.
Das Album wird abgerundet durch das mehr als außergewöhnliche Artwork mit Fotografien der Ukrainerin Alina Rudya. Sie stammt aus der Stadt Prypjat, die nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl komplett evakuiert wurde und in der sich heute die Natur ihren Raum zurückholt.
Mit "Over" haben Frequency Drift ihr bisheriges Glanzstück abgeliefert. Selten gibt es Bands, die derart unverwechselbar klingen. Andreas Hack und seine Mitmusiker haben es außerdem geschafft, dass auch das Album "Over" unverwechselbar ist mit allem, was davor kam. Respekt!
Line-up:
Andreas Hack (keyboards, guitars, bass)
Isa Fallenbacher (vocals - #1,2,4,5,6,7,8,9,11,12)
Nerissa Schwarz (acoustic & electric harps)
Christian Hack (guitars, bass, duclar, wavedrum)
Tino Schmidt (bass)
Sibylle Fritz (cello)
Ulrike Reichel (violin, viola)
Jasper Jöris (gemshorn, marimba)

Guest musicians:
Agathe Labus (vocals - #3,4,10)
Martin Schnella (acoustic & electric guitars - #10)
Steve Hohenberger (guitar solo - #6)
Phil Raul Rissettio (drums)
Kalle Wallner (bass)
Tracklist
01:Run (7:06)
02:Once (6:07)
03:Adrift (4:39)
04:Them (7:52)
05:Sagittarius A* (5:51)
06:Suspended (8:29)
07:Wave (3:42)
08:Wander (5:33)
09:Driven (4:55)
10:Release (6:48)
11:Memory (10:00)
12:Disappeared (4:23)
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