Grobschnitt / Grobschnitt 2008 Live
Grobschnitt 2008 Live Spielzeit: 68:39
Medium: CD
Label: Eigenproduktion, 2008
Stil: Krautrock


Review vom 24.10.2008


Günther Klößinger
Alles beginnt mit einem Knall: Wer den Volume-Regler versehentlich zu hoch gedreht hatte, wird beim Start der CD eventuell weggeblasen, denn vom ersten Ton an macht "Powerplay" seinem Namen alle Ehre. Die Verwunderung, die letzte Zugabe am Start des Albums zu hören macht bald einem Grinsen Platz. Das sind eben Grobschnitt, wie wir sie kennen und lieben, stets für eine Überraschung gut. Nach Tonis immer wieder ergreifender Variante von »Get up on my cycle....« gleich die nächste Überraschung. Man erwartet naturgemäß eine Jubelorgie des Publikums, anstatt dessen schließt sich "Film im Kopf" nahtlos an - druckvoll, mit wirbelnden Gitarrenläufen - kein Vergleich zu der (auch sehr geschätzten) Studioversion. Aus einer nachdenklichen Ballade mit einigen kraftvollen Einschüben ist eine druckvolle Rocknummer mit einigen nachdenklichen Stellen geworden. Schon bei der '87er Fanntasten-Tour kam das Stück mit mehr Power rüber als auf der damals gefeatureten Platte, aber die Inkarnation aus dem neuen Jahrtausend bietet noch flotteres Kopfkino - besser kann's kaum noch werden!
Das "Medley" - wieder einmal ein Beweis für die unglaubliche Stilvielfalt der Band: Mehrstimmiger Gesang zu Beginn, eine folkig gepickte Akustik-Gitarre als Begleitung zu der einstigen Synthie-Pop-Hymne "Wir wollen leben", danach ein weiterer Zeitsprung ins düstere Mittelalter. Der "Morning Song" wird zart intoniert, um dann der fulminanten, virtuosen Gitarrenduo-Zelebration des schönen "Waldeslied"s Platz zu machen. Sowohl stimmlich wie instrumental ist dieses Potpourri ein einziger Genuss.
Dann "Könige der Welt", das Finale aus dem umstrittenen "Kinder & Narren"-Album. Live für mich schon immer ein Höhepunkt und ich muss mich wahrhaft zurückhalten, nicht die Regler bis zum Anschlag zu drehen. Das Arrangement dieses Liedchens hat den Song zur elegischen Monumentalnummer mit zahlreichen Ethnoeinflüssen mutieren lassen - tatsächlich nun über neun Minuten lang, baut sich hier ein tropisches Panorama vor dem inneren Auge auf, Text und Musik werden zu einer Einheit - der eindringlichste Appell zur Erhaltung unserer Umwelt, den ich seit langem gehört habe. Den sollte der WWF als Soundtrack für seine Werbespots nutzen! Die Steigerung des Stücks von zunächst sphärischen Klängen, Tiergeräuschen, langsam eintretenden exotischen Sounds über die sehr emotional gehaltenen Gesangspassagen bis zum schweißtreibenden Finale mit einem Gitarrenregen, der sich über den tropischen Wald ergießt, sucht seinesgleichen - da wurde aus einer gelungenen Popnummer der 80er eine Ethno-Prog-Nummer vom Allerfeinsten.
Wer nun denkt, das Ganze ließe sich an dieser Stelle nicht mehr steigern, hat sich leider (oder gottlob) getäuscht: "Solar Music", in der 2008er "Sonnentanz"-Fassung ist das unbestrittene Highlight dieser CD. Schon allein die Tatsache, dass die 85er Version wegen rechtlichen Heckmecks bis heute nicht veröffentlicht werden kann, macht dieses Stück auf der aktuellen Scheibe ganz besonders wertvoll. Und, um mal bei literarischen Kollegen zu klauen, da kann man nur schreiben: »Sonnentanz - nie war er so wertvoll wie heute«.
Zeigten bereits die vorherigen Tracks, dass die "Next Party" keine Retro- oder Nostalgie-Nummer ist, wird dies bei "Solar Music" noch um ein Vielfaches deutlicher: Das Stück wurde erneut weiterentwickelt, ist weit davon entfernt, nur eine Coverversion oder gar ein Abklatsch des Originals zu sein - es wird dort angesetzt, wo man Anno '89 aufgehört hatte. Es lebt und atmet, verändert sich von Konzert zu Konzert. Die Band hat hier viel Freiraum für Improvisationen und Soli - und das wird genutzt, ohne die Geschlossenheit des Gruppenklangs aufzugeben. Atmosphärisch unglaublich dicht wird hier wieder das Kino im Kopf aktiviert: Die Welt versinkt in Explosionen, eine Ära des Dunkels bricht an. Es folgen Versuche, das Licht zurückzuholen: Durch Schwingschleifer, swingenden Sonnentanz oder den Laserschwertkampf und die Beschwörung des Sonnengottes. Es ist ein Gesamtkunstwerk aus Musik, Licht, Schatten, Feuer und Explosionen - und diese Klangkonserve zaubert dieses hoffnungsfreudige Stück Endzeitfantasy mit positivem Ausgang direkt in das Herz des Hörers! Die virtuose Solo-Arbeit der einzelnen Bandmitglieder hier zu analysieren, würde wohl den Rahmen einer Rezi sprengen - das muss man einfach hören!
Danach ist die Scheibe leider zu Ende - man kann natürlich vor dem Abspielen die Repeat-Taste aktivieren, dann folgt nach "Solar Music" immerhin die Zugabe "Powerplay" - ich übernehme allerdings keine Garantie, dass man danach einfach abschalten kann...
Sicher, die Scheibe ist keine Dokumentation eines Liveauftritts der "Next Party"-Ära - aber sie ist viel mehr: Ein echtes, richtiges Album, das eben den dramaturgischen Gesetzen eines Albums folgt - von der Länge her immerhin eine Doppel-LP, also fast 'ne Doppelvolle-Molle! Und die Scheibe zeigt eine Band auf der Höhe der Zeit, keine verstaubte Nostalgie-Revue. Klar ist die Erinnerung an frühere Zeiten erlaubt und erwünscht - das musikalische Konzept von Grobschnitt 2008 weist aber deutlich nach vorn - sicher auch ein Verdienst der zweiten Generation auf der Bühne. Aber auch die Älteren machen nicht gerade den Eindruck, nur noch Seniorenzentren rocken zu wollen! 'Time for another journey', würde ich da sagen!
Der Sound ist ja schon ausgiebig gelobt worden hier, und Bully hat wirklich 'nen bulligen Job abgeliefert - transparent, volle Bässe, feine Höhen... wenn nicht, sollte man mal seine Anlage überprüfen oder den Kühlschrank schließen. Weitere Tipps: »change your dealer, kill your canary, throw away the Tröte or write to the Salvation Army!«
Natürlich hätte jeder noch 'nen Wunschtitel für diese Scheibe gehabt, der ja evtl. auch noch locker drauf gepasst hätte. In meinem Fall wäre der Favorit "Komm und tanz" gewesen, schon allein wegen Demians unglaublich geschmeidigen Schlagzeugspiels mit Möller in rhythmischer Harmonie - Power pur - vielleicht als Bonustrack auf der Zweitauflage? ☺
Aber wie gesagt: Jeder hätte hier wohl seinen ganz persönlichen zweiten Lieblingssong drauf gehabt.
Trotzdem bleibt mein Fazit: Eine würdige Fortführung des Gesamtwerks in der Bandgeschichte der Groben, das sich hinter nichts, was bislang erschienen ist, verstecken müsste - in keiner Form! Das macht Hoffnung auf weitere grandiose Platten und schürt natürlich vor allem die Vorfreude auf weitere Liveerlebnisse!
Daher: »Go for another journey.«
Tracklist
01:Powerplay Finale (4:05)
02:Film im Kopf (8:16)
03:Medley (4:11)
04:Könige der Welt (9:27)
05:Sonnentanz 2008 (42:40)
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