Billie Joe + Norah / Foreverly
Foreverly Spielzeit: 45:34
Medium: CD
Label: Reprise Records (Time Warner), 2013
Stil: Country, Folk

Review vom 21.01.2014


René Francke
Das erste Mal von dem hier besprochenen Duett las ich ehrlich gesagt mit gemischten Gefühlen - irgendwas zwischen Überraschung und Verstörung waberte in mir. Überraschung, weil jene beiden Künstler in ihren jeweiligen Metiers ungefähr so weit voneinander entfernt sind wie der Andromedanebel von der Milchstraße. Da haben wir zum einen den rotzigen Pop Punk-Bengel, und zum anderen die Easy-Listening-Chanteuse mit samtweicher Elfenstimme - beide Koryphäen ihres Fachs. Doch: Können deren Stimmen überhaupt miteinander harmonieren? Zur Beantwortung dieser Frage komme ich gleich. Zunächst möchte ich noch den Grund meiner Verstörung erklären: Denn als großer Green Day-Fan befürchtete ich zunächst, dass Billie Joe Armstrong, der die eine Hälfte dieses Duetts ausmacht, nach dem Desaster der Album-Trilogie "Uno!", "Dos!", Tré!" seiner Band und nach seiner vorangegangenen Entziehungskur nun jedes imagesteigernde Projekt angehen würde, das ihm in den Sinn käme, nur um im Gespräch zu bleiben. Doch, so viel kann ich vorwegnehmen, erwies sich diese bösartige Unterstellung als ungerechtfertigt. Und Norah Jones, die andere Hälfte dieser Kollaboration und ihres Zeichens mehrfache Grammy-Gewinnerin sowie Tochter der indischen Musikerlegende Ravi Shankar, braucht bereits mit zarten 35 Jahren erst recht niemandem mehr etwas beweisen.
Eben jene beiden kamen also zusammen, um in nur neun (!) Tagen ein ganz besonderes Werk neu aufzunehmen: Die 1958 veröffentlichte Platte Songs Our Daddy Taught Us der Everly Brothers. Die Brüder Phil und Don Everly gehören zu den einflussreichsten Künstlern der Popgeschichte und sind die erfolgreichste Gesangsgruppe vor der Beatles-Ära. Dank ihrer zahlreichen Hits wie "Bye, Bye Love", "Wake Up Little Susie" und "All I Have To Do Is Dream" waren sie Ende der 50er Jahre im Rock'n'Roll-Olymp. Als die beiden Geschwister allerdings 1958 statt einer weiteren Rock'n'Roll-Platte jene Country-Folk-LP aufnahmen, steckte dahinter Kalkül: Sie schuldeten ihrer damaligen Plattenfirma Cadence Records noch ein Album. Und so spielten sie ein dutzend uralte Country-Balladen und Folk-Klagelieder in schlichten Arrangements ein, die sie als Kinder von ihrem Vater, dem Countrymusiker und versierten Fingerpicking-Gitarristen Ike Everly, gelernt hatten und die sich vorwiegend um düstere Themen wie Mord, Tod, Trauer und sonstiges Leid drehen. Die Brüder wollten nicht, dass man von dem Album eine Single auskoppeln konnte und hielten die aufgenommenen Stücke für nicht massentauglich (was sich mit dem Folk-Revival Anfang der 60er, das sie mit diesem Silberling quasi vorwegnahmen, als falsch herausstellen sollte). Vor wenigen Jahren stolperte Billie Joe Armstrong über dieses Album und entdeckte es für sich: »Ich war wie besessen von dieser Scheibe. Und ich dachte mir, wie schön es doch wäre, all diese Songs mit einer Sängerin im Duett noch einmal neu aufzunehmen«, so der Pop-Punker.
Armstrongs Ehefrau Adrienne schlug ihm daraufhin vor, er solle Norah Jones fragen seine Duettpartnerin zu werden. Gesagt, getan. Armstrong und Jones kannten sich von den Grammys 2005, wo sie zusammen mit Stevie Wonder, Bono und Alicia Keys eine eigenartige All-Star-Interpretation des Beatles-Klassikers "Across The Universe" performten. Nun nahm Armstrong den Kontakt wieder auf und konnte Jones sofort für dieses Projekt gewinnen. Herausgekommen ist eine bezaubernde Neuinterpretation des Everly-Originals, fernab von Glitzer und Glamour, ohne Kitsch, Pathos oder sonstigem beweihräuchernden Beiwerk. Es trägt den verneigenden Titel "Foreverly".
Hierauf übernimmt Armstrong den Leadgesangspart von Don Everly, während Jones die hohen Harmonien von Phil Everly singt. So ermöglicht es die halbakustische Begleitung Armstrong, in einem weitaus breiteren Tonumfang zu singen, als man das von ihm kennt. Und Jones bringt ihren einzigartigen Feenschimmer ein; zu ihrem Repertoire gehört seit jeher Countrymusik und diese füllt sie mit ihrer ganzen Seele aus. Beide Stimmen zusammen versuchen nicht einfach plump, den makellosen Gesang der Everly Brothers steif zu imitieren, sondern sie bahnen sich ihren eigenen Weg und bleiben doch den originalen Melodieläufen weitestgehend treu. Mit ihren haargenauen Harmonien und ihrer Sänger-Sängerin-Dynamik lassen sich diese uralten Stücke neu entdecken. Und die sparsamen Retroarrangements aus erdigen Percussions, vereinzelten Blues-Harp-Einschüben und dem Klangzauber einer Pedal Steel-Gitarre sind teilweise eine Reminiszenz an die späten "American Recordings" von Johnny Cash.
Eröffnet wird die Platte mit "Roving Gambler", ein mit Banjo und Mundharmonika begleitetes Tanzlied im traditionellen, erfrischend-freudigen Countrybeatgewand. Es folgt die erste Singleauskopplung "Long Time Gone", eine Mitsingcountrynummer, die stark an das Duo Johnny Cash und June Carter erinnert. "Lightning Express" ist ein aufwühlendes Wiegenlied mit weihnachtlich klingenden Anleihen und handelt von einem Jungen, der nichts anderes möchte, als schnellstens mit dem Zug nach Hause zu seiner im Sterben liegenden Mutter zu fahren, sich aber kein Ticket leisten kann. "Silver Haired Daddy Of Mine", ein beschwingter Gene Autry-Hit aus dem Jahr 1935, ist eine Upbeat-Bluesgrass-Nummer. Was Armstrong und Jones hier gesanglich liefern, ist eine fantastische Glanzleistung - wunderschön!
Das langsame "Down In The Willow Garden" klingt zwar wie ein Liebeslied, ist aber tatsächlich ein morbides Liedchen, dessen Protagonist seine Freundin umbringt und ihren toten Körper in den Fluss wirft. Was für kranke Wiegenlieder haben denn die Everly Brothers gesungen?! Doch bevor der Zuhörer das Leid dieser Welt im Alkohol ertränkt, bekommt er mit "Who's Gonna Shoe Your Pretty Little Feet?" eine kindersüße Melodie wie eine warme Decke um die schweren Schultern gelegt. Gerichtet ist dieser Track an ein Neugeborenes und soll uns alle daran erinnern, dass das Leben immer weiter geht und in seinen vermeintlich einfachsten Momenten doch am schönsten ist.
Mit "Oh So Many Years" folgt ein das Herz zum Singen bringender, altmodischer Liebesschlager. Begleitet von Gitarren, Klavier und einem Walking Bass beeindrucken hier abermals die wundervoll stimmigen Harmonieparts. "Barbara Allen", ein walzerähnlicher Song, dessen Wurzeln bis ins Mittelalter zurückreichen und mein absolutes Lieblingsstück dieser Platte ist, singt Armstrong fast solo und fabulös, während Jones nur gelegentlich Backup Vocals einwirft. In diesem Evergreen steckt so unendlich viel Traurigkeit und Hingabe, dass ich jedes Mal eine Gänsehaut bekomme.
Eine weitere traurige Geschichte erzählt das vom ergreifend-reinen Gesang getragene "Rockin' Alone (In An Old Rockin' Chair)". Mit einer tiefen Südstaatenstimme gibt Jones in "I'm Here To Get My Baby Out Of Jail" die Geschichte von einer todkranken Mutter wieder, die als letzte gute Tat ihren Sohn aus dem Gefängnis holen will. Im Karl Davis-Bluesgrass-Song "Kentucky" bringt Norah Jones die Sehnsucht nach ihrer geliebten Heimat zum Ausdruck. Und das goldene "Put My Little Shoes Away" mit dem tief im Hintergrund brummenden Harmonium schließlich bringt den Hörer dazu, seine Augen zu schließen, sich zurückzulehnen und dem kirchenähnlichen Gesang zu lauschen, während es als Abschiedsode einen verstorbenen Jungen auf seiner letzten Reise gen Himmel begleiten soll.
So unterschiedlich die musikalische Herkunft dieser beiden Superstars auch sein mag, so überwältigend und wundervoll ist "Foreverly" gelungen. Norah und Billie Joe haben den Zauber der Everly Brothers-Harmoniegesänge eingefangen und zauberhaft in unsere Zeit übertragen - ein Geschenk!
Nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung von "Foreverly" Ende 2013 verstarb am 3. Januar 2014 der jüngere der beiden Everly Brothers, Phil, kurz vor seinem 75. Geburtstag. Über das, was er vorab von "Foreverly" gehört habe, sagte er in seinem letzten Interview für das Paste Magazine: »Die zwei Stücke, die ich gehört habe, sind wirklich, wirklich sensationell, wirklich gut. In der Anfangszeit des Rock'n'Roll gab es immer Innovation. Jeder Künstler hat immer versucht, etwas Neues zu machen, etwas Anderes. Und ich finde, das trifft auch für Billie Joe Armstrong zu - das er diese Platte gemacht hat ist sehr ungewöhnlich.« Man kann Billie Joe Armstrong und Norah Jones nur beglückwünschen und ihnen danken, dass sie diese voller Wunder steckende Musik neu aufgenommen haben, um sie jüngeren und zukünftigen Generationen zugänglich werden und neu entdecken zu lassen. Die Musik der Everly Brothers lebt weiter, Foreverly.
Line-up:
Billie Joe Armstrong (vocals, electric guitar, acoustic guitar, pump organ)
Norah Jones (vocals, electric guitar, acoustic guitar, 6 string banjo, chimes, pump organ, piano)
Dan Rieser (drums, percussions)
Tim Luntzel (bass)
Charlie Burnham (violin, mandolin, harmonica)
Jonny Lam (pedal steel guitar)
Tracklist
01:Roving Gambler
02:Long Time Gone
03:Lightning Express
04:Silver Haired Daddy Of Mine
05:Down In The Willow Garden
06:Who's Gonna Shoe Your Pretty Little Feet?
07:Oh So Many Years
08:Barbara Allen
09:Rockin' Alone (In An Old Rockin' Chair)
10:I'm Here To Get My Baby Out Of Jail
11:Kentucky
12:Put My Little Shoes Away
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