Jethro Tull
Nothing is easy: Live at the Isle of Wight 1970
Nothing is easy: Live at the Isle of Wight 1970
Als die beiden 20-jährigen Schotten Ian Anderson und Glen Cornick zusammen mit Mick Abrahams und Clive Bunker Ende 1967 ihre Formation Jethro Tull gründeten, war schon fast vorauszusehen, dass sie bald zur ersten Garde aufsteigen würden. Die Tatsache, einer Querflöte als (mit-)bestimmendes Instument den Weg in die (Rock-)konzerthallen ebnen zu wollen, war ebenso ungewöhnlich wie letztendlich erfolgreich.
Als Troubadouren gekleidet (allen voran Ian Anderson) und natürlich mit einer gehörigen Portion Musikalität gesegnet, konnte die Band in den ersten beiden Jahren ihres Bestehens sofort auf sich aufmerksam machen. Nach umjubelten Auftritten im Londoner Marquee Club und als Support eines "Free Concerts" von Pink Floyd im Hyde Park unterschrieb die Band beim 'progressiven' Island Label.
Als Mick Abrahams im März 1969 ausstieg, teils weil er unter Flugangst litt, teils weil ihm die Musik nicht mehr so passte, (er gründete Blodwyn Pig) war man auf der Suche nach einem neuen Mann an den 6 Saiten. Tony Iommy schien bei den wenigen gemeinsamen Shows nicht so recht zu passen (dafür ein dreiviertel Jahr später bei Black Sabbath umso mehr!). Die Wahl fiel auf Martin Barre, mit ihm gelang es, drei Singles hintereinander (!) in den Charts zu landen ("Living in the Past", "Sweet Dream" und "The Witches promise"). Wie damals auch so üblich, gab es diese Songs nicht auf Alben - es waren eben 'Singles'.
Darüberhinaus hatte man auch vermarktungstechnisch ein glückliches Händchen. So war etwa das LP-Cover der 2. Scheibe "Stand up" ein echter Hingucker, als dem Betrachter nach dem Aufklappen die Band vor ihm "aufstand".
Dieses (nach '68 und '69) dritte und mit Abstand größte Isle of Wight Festival wurde schon zu seiner Zeit von vielen Medien als 'europäisches' Woodstock bezeichnet. (Anderson nennt es im Booklet fälschlicherweise 'englisches' Woodstock). Was Rang und Namen hatte (mehr oder weniger) spielte, und für einen sollte es gar der letzte Auftritt sein: Jimi Hendrix starb wenige Zeit später. Ausser den Doors und eben Jimi waren viele der amerkanischen Interpreten eher den ruhigen, nachdenklichen Klängen zugetan - Joni Mitchell, Joan Baez und Kris Kristofferson beispielweise.
Die 'Europäer' aber, ob The Who oder Ten Years After rockten sich die Gehörgänge wund, allen voran die Band dieses Jahres 1970, die hier wie schon im Vorjahr einen hervorragenden Eindruck hinterliess: Free überzeugten mit ihrem gerade erschienenen (dritten) Longplayer "Fire and Water" und dem daraus stammenden Monsterhit "All Right Now". Zu denen, die da die Verstärkerberge zum Wackeln brachten, gehörte dann auch Jethro Tull, und dieser bislang unveröffentliche Silberling dokumentiert den kompletten Auftritt der Band während des Festivals.
Und der ist eher als Zeitdokument interessant, den besten Tag erwischten sie sicher nicht. Einen starken Eindruck hinterlässt aber Martin Barre, was der aus seiner Gibson rausholt ist aller Ehren wert. Auch der nun fest integrierte Keyboarder John Evan vermittelt seine Souveränität. Aber ein Liveauftritt, gerade an diesem Ort zu dieser Zeit, zeigt auch, dass man stark dazu neigte, seine Egos auszuleben. Jeder in der Band bekommt seine Gelegenheit, mal zu glänzen. Allerdings doch etwas des Guten zuviel. Um wieviel feuriger kommt etwa "Dharma for one" von der Debütplatte! Auch dort mit dem damals wohl unvermeidlichen Schlagzeugsolo, ist die Studioeinspielung des Songs auf "This was" dieser Live-Version haushoch überlegen.
Das einem Bach-Thema entlehnten "Bourée" ist dagegen mit dem hier schwungvoll reingearbeiteten Bass-Solo packend. "My God" wird als neuer Song vorgestellt und erscheint dann ein Jahr später auf der überragenden "Aqualung"-LP. Das abschliessende Medley benutzt einen meiner Lieblingssongs von Tull: "We used to know" vom "Stand up"-Album. Obwohl ja Sinn eines Medleys, den Song nur als kurzen Rahmen zu benutzen, um noch mal so richtig in die Gänge zu kommen und sich als Rock-Formation zu präsentieren, will das nicht so recht passen. Insgesamt ist das als reines Ton-Dokument für meinen Geschmack zuviel Schaulaufen. Ian Anderson selbst sagt im Booklet: 'Das war sicher nicht unsere beste Show, aber ein Meilenstein, überhaupt dort gewesen zu sein'. Die in Kürze erscheinende DVD als Ton- und Bilddokument dürfte die Gewichtung verschieben.
Anderson ließ es sich nicht nehmen, die Aufsicht über das Remastering zu übernehmen. Trotzdem ist das klangliche Ergebnis enttäuschend. Logisch, was konnte man unter solchen Bedingungen auch mehr auf die Original-Bänder bannen? Ausgefeilte Multitrack Technik war das sicher nicht, und das hört man diesem Remaster auch deutlich an. Da sind die drei ersten Studioplatten ganz andere Kaliber: Da gelang nämlich eine ernstzunehmende und teilweise starke Verbesserung der alten Klänge. Für Tull-Fans und Komplettisten ist dieses Dokument als CD aber trotzdem uneingeschränkt empfehlenswert.
Spielzeit: 59:29, Medium: CD, Eagle Records, 2004
1: My sunday feeling (5.21) 2: My God (7.31) 3: With you there to help me (9.58) 4: To cry you a song (5.40) 5: Bourée (4.35) 6: Dharma for one (10.11) 7: Nothing is easy (5.37) 8: Medley: We used to know/For a thousand Mothers (10.37)
Manni Hüther, 12.1.2005