King Of Agogik / Aleatorik System
Aleatorik System Spielzeit: 75:00
Medium: CD
Label: superskunk/Saustark Records, 2008
Stil: Instrumental, Prog Rock, Art Rock

Review vom 05.03.2008


Boris Theobald
»Aleatorik [zu lateinisch alea "Würfel"] die, seit etwa 1951 Bezeichnung für eine Kompositionsrichtung, bei der der Interpret Teile eines Stücks austauschen oder weglassen kann beziehungsweise in der die improvisatorische und insofern zufällige Realisierung einer Komposition durch den Interpreten breiten Raum einnimmt.«
(Meyers Lexikon Online, 29. Februar 2008)
75 Schwindel erregende Minuten sind um - und jetzt wecke mich bitte jemand aus meiner Hypnose! Ja, diese 75 Minuten "Aleatorik System" sind intensiv, sie hinterlassen ihre Wirkung. Den 'King of Agogik' bekomme ich so schnell nicht mehr aus dem Kopf. Kein Wunder, so sperrig wie sich dieses Instrumentalalbum in meinem zerebralen Kortex ausgebreitet hat. Es ist ein Album für Instrumentalisten höherer Ansprüche, zum Denken, Rechnen, Kniffeln... aber gleichzeitig hat diese Musik auch immensen Einfluss aufs Gefühlszentrum ... .
Die Tracks dauern von einer Minute null-null bis 22 Minuten 22 - bei Track Nummer zwei. Zeit wird aber zur Nebensache. Der CD-Spieler zählt zwar mit, man selbst verliert aber die Spur. Bezeichnend der Name für den ersten Titel: "The Inner Clock" empfängt den Hörer ungefähr da, wo Alice dem weißen Kaninchen begegnet - an der Schwelle zum Wunderland, wo das Bekannte und Gewohnte aufhört und das Surreale, Paradoxe beginnt. Ein Ticken, bombastische Keyboards, Fetzen von Gitarrenmelodien, Sprech-Samples und, rasante Schlagzeug-Härtetests. Der 'King' macht sich warm. Das Königreich ist jenes von Hans Jörg Schmitz, Session-, Live- und auch Solodrummer aus Andernach, der mit dem "Aleatorik System" schon zum zweiten Mal als King Of Agogik zu instrumentalen Höhenflügen ansetzt.
Nach dem Intro folgen jene 22:22 Minuten, namentlich "The Long March Of The Royal Fifth". Proggige Mellotronklänge bieten einen ruhigen Empfang, lassen einen gemächlichen Aufbau erwarten. Man hat ja Zeit, bei 22:22 Minuten! Das ist aber noch lange kein Grund, welche zu verlieren... wilde Drum-Fills bringen die Dynamik des Stücks von null auf hundert in einer Sekunde. Dominante Retro-Synthesizer spielen sich mit drängenden Melodien in den Vordergrund, Keyboardatmosphären füllen jeden Millimeter Klangraum aus.
Hans Jörg Schmitz, der selbst alle Tasteninstrumente bedient, hat ein Faible für großspurigen Synthie-Bombast, der zuweilen an Trent Gardner erinnert. So plötzlich dieser zu dominanten Klangmonumenten aufbaut, so steil bergab zeigt die Energiekurve hin zu zart-atmosphärischen Breaks, zauberhaften, mysteriös angehauchten Soundscapes. Dazwischen tummeln sich zahllose kleine und große Melodien und komplexe Rhythmen. Teils greift ein Part behutsam in den nächsten, teils werden grob unterschiedliche Passagen, balladenhaft und verträumt oder schwergewichtig und unruhig, eng aneinandergekettet. Der Kompositionsstil mutet streckenweise gar rhapsodisch an.
Ein einziges, großes Chaos? Gewiss nicht! Im Kleinen reihen sich mitreißende Drives, quirlige Retro-Bässe im Stile alter Genesis und frickelige Soloeinlagen von Gitarre und Keyboards in atemberaubender Dichte aneinander. Im Großen sorgen wiederkehrende Themen für eine übergeordnete Struktur - ganz prägnant eine Fünfer-Melodie, die sich durch Akustik- und E-Gitarre, Orgel und Glockenspiel zieht. "The Long March Of The Royal Fifth" - das ist ein wahrlich 'königliches' Epos voller spannender Entwicklungen und feinfühliger Nuancen, heftig beladen mit allerhand Sounds, die immer wieder vor allem an Prog- und Art Rock aus den 70ern erinnern.
Um so überraschender ist das, was nach dem kürzeren und dabei nicht minder verrückten "Call In S" kommt. Die "Aleatorik Suite" startet mit aggressiven Thrash Metal-Salven, von präzisen Unterbrechungen haargenau seziert. Verschiedene, heftig rockende Drives reihen sich unkonventionell und übergangslos aneinander - ganz im Sinne der o.g. Definition von "Aleatorik". Während sich eben noch Keyboards und Gitarren die Arbeit teilten, geht es nun sehr saitenlastig zur Sache. Und das mit einer technischen Klasse, einem Reichtum an Melodien und vertrackter Rhythmik, dass man glauben könnte, es mit einem Instrumentalstück von Dream Theater zu tun zu haben. Ein 13er-Rhythmus geht über in einen 9er, dann kommt ein 7er, dann wird's gerade... und ich höre wieder auf zu zählen, schalte den Verstand ab und genieße! Am Ende landet die "Aleatorik Suite" mathematisch genau bei 10 Minuten und zehn Sekunden.
Zu den Longtracks lässt sich auch noch das mehr als siebenminütige "Monster In My Head" zählen, das als Instrumentalstück von Spock's Beard durchgehen könnte. Genauso unberechenbar und genial wie die langen, sind die zahlreichen kürzeren Nummern. Jede für sich und alle am Stück sind eine aufregende Reise durch mannigfaltige Klangwelten - psychedelisch, mysteriös, spannend, drängend, rockig. Es gibt verträumte Ruhepunkte wie "Overwind" mit optimistischen Stimmungen aus süßen Glockenspielklängen und hallenden Clean-Guitar-Arpeggien im Stile Rushs auf "Power Windows" - und im Gegenzug rockigere Kost wie "Return Of The Shuffle King", das dank cooler Gitarrenkunst an Joe Satriani erinnert. Bei "Rody" brummelt doch tatsächlich eine Tuba, und später bringt eine Wende zum Rockigen eine ziemlich deutliche Anspielung auf Totos "Rosanna" - man schätzt halt richtig gute Rockmusik aus den Händen richtig guter Musiker.
Die musikalische Reise durch surreale Wunderwelten nimmt mit "Termites Trip" eine Abkürzung durchs Diesseits. Eingebettet in ein spaciges Klang-Gewaber wie aus "Shine On You Crazy Diamonds" herausgeschnitten, tönen abendländische Kirchenglocken, fernöstliche Klänge, spanische Gitarre mit Stierkampf-Percussion, orientalische Harmonien, Military-Drums mit schottischem Dudelsack... irgendwann landen wir mit dem Yankee Doodle in den amerikanischen Nordstaaten.
Meine anfänglichen Bedenken, das Album eines Schlagzeugers würde wohl ein endlos gestrecktes Drumsolo mit Verzierung sein, haben sich nicht bestätigt. Keine Befürchtung könnte weiter entfernt von der Realität sein! Sogar der "One Minute Psycho Waltz", ein wahnwitzig schnelles Drumsolo fast wie im Zeitraffer, wird von Keyboardklängen gestützt. Und auch die Wahl des Schlagwerks selbst fällt bei "138" auf ein melodisches Marimbaphon. Nach dem Selbstexperiment kann ich bestätigen: "Aleatorik System" ist kein Album nur für Drummer. Auch wenn die Drums die Dynamik der Stücke vorgeben (und das in sehr kurzweiliger Manier) - Rhythmik, Melodik und Harmonik sind untrennbar miteinander verbunden. Ein ganz großes Lob gebührt demnach nicht nur Hans Jörg Schmitz, der selbst auch ein paar Gitarren beisteuert, sondern auch den für die meiste Saitenarbeit zuständigen Dirk Wilms, Volker Cornet und Tobias Hampl.
Vor allem, wie der Bass die Schwindel erregenden Wechsel traumhaft präzise mitsteuert und sich dabei immer wieder selbst in den Vordergrund spielt, verdient besondere Erwähnung.
"Aleatorik System" ist ein Kunstwerk voller kleiner und großer Ideen. Drummer werden unentwegt rechnen, und alle anderen einfach abheben und sich tragen lassen. Wer reine Instrumentalplatten scheut, sollte unbedingt mal reinhören. Auf der Internetseite von King Of Agogik gibt es Hörproben und für jeden Titel teils ziemlich verrückte Bilder, die den Stimmungen zusätzlich eine optische Komponente verleihen. Anklicken kann man die Tracks, passend zum Spiel mit Zählzeiten und Zeitgefühl, auf dem Zifferblatt einer Uhr.
Wenn das nicht zu RockTimes passt!
Line-up:
Hans Jörg Schmitz (drums and sounds, keys, guitar)
Dirk Wilms (guitar, bass)
Volker Cornet (bass)
Tobias Hampl (guitar)
Tracklist
01:The Inner Clock
02:The Long March Of The Royal Fifth
03:"Call In S"
04:Aleatorik Suite
05:Quiet Slumber...Until...MyTime.com
06:138
07:Slow Sinking Sand
08:Return Of The Shuffle King
09:Termites Trip
10:Overwind
11:Rody
12:One Minute Psycho Waltz
13:Amongst The Trees On A Hill
14:Monster In My Head
15:Emoclew
Externe Links: