Roger McGuinn / Thunderbyrd
Thunderbyrd
Ja, ja, das Los des "zu spät Geborenen"!

Was lief wohl 1977 im Dudelfunk?

Was flimmerte musikalisch 1977 über den Bildschirm?

Roger McGuinn? Roger wer?
Der Rezensent ist geneigt zu behaupten:
Wohl kaum, in der Ära von Abba, Boney M., Smokie, Disco-Fieber und 2-Akkorde-Schrubbel-Punk-Wahn, durchbrochen von den 3 Akkorde-Ausfallschrittbeherrschern Status Quo war wenig Platz für wertkonservative Musik im besten Sinne.
Wen interessierte da schon ein Mitdreißiger namens Roger McGuinn, der seine Meriten bei einer Sixties-Combo namens Byrds-wir-covern-sehr-erfolgreich-Mr.-Tambourine-Man verdient hatte und seit 1973 solo unterwegs war?
Der Rezensent lehnt sich weit aus dem Fenster und postuliert:
Niemand!
Und erinnert sich dabei an den medialen Musik-Kleister von Clout über Luv bis zu den Rubettes. Dazwischen säuselte Rod Stewart noch "Sailing" und ähnliches Zeugs, die Bee Gees feierten mit Hilfe von John Travolta Wiederauferstehung, Giganten wie Genesis und Pink Floyd sprengten alle Dimensionen, die Rolling Stones waren damals schon alt und nicht tot zu kriegen und Roland Kaiser faselte was von 7 Fässern Wein und einer mysteriösen Santa Maria.
Aber halt! Stop! Da war doch was?

Aber ja, es gab schließlich einen vielbeachteten medialen Rettungsanker, für den ich seinerzeit leider noch zu jung war - der Rockpalast!
Jawohl, am 23. - 24.07.1977 fand in der Essener 'Grugahalle' die legendäre erste Rockpalast-Nacht statt, als Eurovisionssendung live und in Farbe von der ARD ausgestrahlt, mit gleichzeitiger Hörfunkübertragung!
Opener dieses denkwürdigen Ereignisses waren Rory 'Gälläggeeh' Gallagher und seine Mitstreiter, mittlerweile eindrucksvoll auf der entsprechenden DVD für alle Nostalgiker und "zu spät Geborenen" dokumentiert.
Es folgten die damals in good old Germany noch nicht sooo bekannten Little Feat mit dem genialen Slide-Derwisch Lowell George.
Angekündigt als 'Americas finest Rock 'n' Roll Band' webten sie ihre hochgradig rhythmischen Soundteppiche, auf denen das Publikum in der Halle und vor den heimischen Bildschirmen entschweben konnte.
Was sollte bloß danach noch kommen?
Kam da überhaupt noch was?
Und ob, ich darf mal kurz aus dem Rockpalast Archiv zitieren:
"Die dritte Gruppe in dieser Nacht betreten am frühen Morgen die Bühne und spielen ein phantastisches Konzert voller Energie, alle tanzen. Der Sound der 12 String erfüllt die Halle und Rick Vitos Gitarre verlieh den Songs einen ganz neuen Drive. So frisch hatte man die "alten" Songs seit den Byrds nicht mehr gehört. Sam Clayton Perkussionist von Little Feat hielt es nicht mehr hinter der Bühne, er jammte mit den Thunderbyrds."
Gespielt wurden große Byrds-Klassiker wie "Turn, Turn, Turn", "Mr. Tambourine Man" oder "Eight Miles High", darüber hinaus Titel aus den vorangegangenen Soloproduktionen Roger McGuinns, unter besonderer Berücksichtigung seiner damals aktuellen Produktion, schlicht und ergreifend wie seine Band benannt - "Thunderbyrd".
Diese bestand neben dem "alten" Haudegen Roger McGuinn (vocals, guitar - natürlich die 12 saitige Rickenbacker, sein Markenzeichen) aus Greg Thomas (drums & percussion), Charlie Harrison (bass & vocals) und Rick Vito (guitars, dobro, vocals & mouth harp). Die letzteren drei waren deutlich jünger und verpassten dem Sound bzw. der Show den nötigen jugendlichen Drive und Esprit, so dass der eigentlich hausbackende 'West-Coast Gesangsharmonien Country Rock' richtig rockend und rollend abging wie das sprichwörtliche Zäpfchen. Live natürlich noch mehr als auf Vinyl.
Apropos Vinyl, da sind wir doch gleich beim Thema.

Denn diese "Thunderbyrd"-LP wurde bisher im Zeitalter der kompakten Silberlinge sträflich übersehen und vernachlässigt, was jetzt erst von den rührigen Leuten bei 'Repertoire Records' ein Einsehen fand und zack, plötzlich liegt das Teil im schmucken Digi-Pack vor mir, mit schönem Hochglanz-Booklet, einem Essay des unvermeidlichen Chris Welch und allen Texten. Darüber hinaus "restored and remastered by EROC at the Ranch". Das lässt auf einen für die Zeit hervorragenden Sound hoffen.
Und tatsächlich, das spektakulärste dieser Wiederveröffentlichung ist eindeutig ihre Klangqualität. Der Sound von 12-String, Sechssaitiger, Dobro, Pedal Steel, Bass, Drums, Percussion oder Sax (bei "American Girl") knallt mir gnadenlos wie ein Tiger ins Gesicht, absolut keine Gitter mehr davor.
Unglaublich, Auflösung, Transparenz, Dynamik, Tiefe, Räumlichkeit, schlicht die Plastizität der Ereignisse sind kaum von dieser Welt und offenbaren einmal mehr das Dilemma vieler aktueller CD-Neuproduktionen, welche vergleichsweise wie direkt aus dem Mülleimer klingen!
Ach ja, Musik ist natürlich auch noch drauf.
Gleich der Opener "All Night Long" ist eine ausgesprochen gelungene Coverversion von Peter Frampton's "Camel" anno 1973, da sie den Geist des Originals atmet, aber einfach mehr Drive und Verve entwickelt. Dabei klingt Roger McGuinn stimmlich, wie eigentlich durchgängig bei dieser Produktion, leicht angekratzt und "verbraucht", was hier aber dem Ergebnis eindeutig zu Gute kommt.
"It's Gone" hätte seinerzeit auch eine gute Figur auf dem Debütalbum der Dire Straits gemacht, "Dixie Highway" ist genau der Song, wo Little Feats Sam Clayton nicht umsonst zu den Thunderbyrds auf die Bühne gehopst ist, denn das Teil kommt im Prinzip wie eine klassische Rock 'n' Roll Nummer eben jener Little Feat rüber.
Hier, wie überhaupt auf dem ganzen Album, muss die Rolle Rick Vitos gewürdigt werden, der nicht umsonst vom Pressearchiv des Rockpalast namentlich hervorgehoben wird, etwas später für einige Zeit bei den großen Fleetwood Mac landete und heute eine leider viel zu wenig beachtete Solokarriere hinlegt mit wundervollen Alben in der Schnittmenge von klassischem Rock 'n' Roll, Rhythm & Blues, Blues und Rock. "American Girl" ist dann natürlich die Coverversion von Tom Pettys kurz zuvor veröffentlichtem Song, der von beiden Interpreten auch als Single herauskam, aber erstaunlicherweise konnte keiner damit auch nur eine US- oder UK-Chartplatzierung erreichen. Wiederum gefällt mir persönlich die McGuinnsche Variante etwas besser, da ich einfach mehr Feinheiten und Finessen herauszuhören meine, allen voran ist das Sax von Tom Scott eine absolute Bereicherung und somit fast schon alleine das Eintrittsgeld wert. Darüber hinaus gibt es wieder von Rick Vito fantastische Gitarrenläufe zu bestaunen, die so von Mike Campbell bei Tom Petty nicht zu vernehmen sind.
"We Can Do It All Over Again" stellt eine gewagte Kreuzung aus Smokie und The Band dar, mit herrlicher Rickenbacker und fast schon penetranten female Backgroundvocals im Refrain. "Why Baby Why" suggeriert wiederum den Umstand, dass Albert Lee mal eben kurz in der Band von Dave Edmunds eingestiegen wäre. Ein kleiner, sehr schöner, schwungvoll und virtuos gespielter Country-Rocker mit Honky Tonk-Reminiszenzen. "I'm Not Lonely Anymore" gemahnt dann eher an einen countryesken George Harrison, während "Golden Loom" natürlich eine weitere Verbeugung vor seinem großen Idol Bob Dylan ist. Mit dessen "Mr. Tambourine Man" hatten die Byrds ihren großen Durchbruch und Roger McGuinn war nicht umsonst wenige Jahre zuvor Bestandteil von Dylans "Rolling Thunder Revue". "Golden Loom" ist ein Outtake von Dylans 1976er Album "Desire" und wird von den Thunderbyrds genauso bluesig, zusätzlich aber mit einem "Steinschlag" (Stones-Bezüge) interpretiert.
Abgeschlossen wird der Songreigen von meinem persönlichen Favoriten.
"Russian Hill" entpuppt sich als herrliche Sentimentalballade, selten habe ich so traurige, teilweise dramatisch anmutende Tunes gehört, Regisseur David Lynch sollte sich vielleicht mal überlegen, diesen Kummerkasten für einen seiner Filme einzusetzen.
Insgesamt gesehen bleibt festzuhalten, dass es sich hierbei um eine hochwillkommene und längst überfällige Wiederveröffentlichung handelt, beileibe nicht nur für Byrds-VerehrerInnen geeignet, denn das Album besticht durch eine erstaunliche Frische und große Vielfältigkeit, ohne auch nur einmal den musikalischen Leitfaden zu verlieren.
Das nötigt mir großen Respekt ab und führt zu immerhin 8 RockTimes-Uhren für die Musik und 9 für den Klang, die sich Soundmagier EROC redlich verdient hat!


Spielzeit: 37:09, Medium: CD, Repertoire Records, 2005 (1977)
1:All Night Long 2:It's Gone 3:Dixie Highway 4:American Girl 5:We Can Do It All Over Again 6:Why Baby Why 7:I'm Not Lonely Anymore 8:Golden Loom 9:Russian Hill
Olaf "Olli" Oetken, 10.06.2005