Novalis / Flossenengel
Flossenengel Spielzeit: 46:28
Medium: CD
Label: MiG Music, 2012 (1979)
Stil: Klassischer Prog


Review vom 22.04.2012


Steve Braun
»Wer Schmetterlinge lachen hört« der kann ermessen, wie sehr ich mich freue, das "Flossenengel"-Konzeptalbum von Novalis besprechen zu dürfen. Dieses Album erschien 1979 in wahrhaft bewegten Zeiten. Greenpeace war einige Jahre zuvor gegründet worden, die Anti-AKW-Bewegung hatte Wyhl gestoppt und arbeitete sich gerade an Brokdorf und Kalkar ab. Die Grünen gab es noch nicht - wir hatten uns aber bereits in Grünen Listen organisiert. Friedensbewegt marschierten wir in olivgrünen Bundeswehrparkas [wie geschmacksverirrt und - vor allem - wie blöd kann man in jungen Jahren eigentlich sein? ;-)] durch die Straßen... und in diese Zeiten schlug "Flossenengel" wie eine Bombe ein und traf den grünen Zeitgeist punktgenau.
Auch wenn ich über so manche persönliche Anwandlungen heute schamhaft erröten mag - auf meinen damaligen Musikgeschmack bin ich heute noch stolz. "Flossenengel" hat auch über dreißig Jahre später nichts von seinem Zauber eingebüßt, kann mit Fug und Recht als Klassiker der deutschen Rockhistorie bezeichnet werden und die Gänsehaut stellt sich noch immer in den genau gleichen Passagen bei mir ein. Sei es bei der Glockenschlägen gleichenden Eröffnung, sei es wenn Tastengott Lutz Rahn seine Hammond 'brüllen' ("Sklavenzoo") oder seinen Poly-Synthie wie ein Clavinet 'hacken' lässt ("Alle wollen leben"), wenn das furiose Schlussstück im Refrain die Nackenhaare auf Widerborsten stellt, und... und... und...
Aber zäumen wir das Pferd nicht von hinten auf. "Flossenengel" ist ein Konzeptalbum, das sich mit der Ausrottung der Wale und indirekt auch mit der Überfischung der Meere sowie deren Verschmutzung auseinandersetzt. Novalis hat den 'Flossenengel' Atlanto getauft und auch wenn von einem 'Riesenfisch' die Rede ist, sind die Bezüge zu den damals von japanischen Fischereiflotten gnadenlos gejagten Blauwalen offensichtlich. Ihre Gesänge sind im Intro wie Outro zu hören.
Dramatisch eröffnet "Atlanto" den Songzyklus und man kann das Riesentier förmlich majestätisch durch blaue Tiefen gleiten sehen. Charismatische Mini Moog-Klänge Rahns und Gitarrenläufe Detlef Jobs übernehmen abwechselnd die Melodieführungen in diesem Instrumental, das in seiner Grundstimmung eine 'heile Welt' zu beschreiben scheint, was "Brunnen der Erde" fortsetzt. Eine tänzelnde Querflöte und perfekt abgestimmter Satzgesang zitiert seinerzeit sehr populäre 'folkige' Klänge. Der Song ist gleichzeitig mächtig und spielerisch - was die Anmut eines Wals gut widerspiegelt. In diese friedliche Szenerie bricht "Brennende Freiheit" infernalisch ein und wühlt das Meer wie den Hörer auf. "Im Netz" erinnert frappiert an ruhig dahin fließende floyd'sche Klangcollagen. Hier folgt ein harter Break, der mir Gelegenheit bietet, auf ein immer wiederkehrendes Problem bei den Gesängen Novalis' - auf fast allen ihrer Platten - hinzuweisen. Die Texte kommen etwas 'gestelzt' und wenig geschmeidig daher - hier würden die Herren heutzutage sicherlich etwas leichtfüßiger agieren. Aber das gehörte irgendwie zu Novalis - das machte die Band aus. Gestört hat es mich persönlich eigentlich nie...
Das Titelstück schlägt nun ein völlig neues Kapitel auf, was durch die Instrumentierung mit Akkordeon und akustischer Gitarre sehr schön unterstrichen wird. Den Fischer packen Gewissensbisse und eine gehörige Portion Respekt und Achtung, wenn er seinen Fang - der Freiheit beraubt - bestaunen kann. Im Dreivierteltakt kann man im Instrumental "Walzer für einen verlorenen Traum" das gefangene Tier im Ausstellungsbecken seine Bahnen ziehen sehen.
Ein erneuter knallharter Break wird durch eine röhrende Hammond in "Sklavenzoo" eingeleitet. Atlanto wird einem sensationslüsternen Publikum zur Schau geboten. Der Pöbel stillt seine Gier an dem Spektakel, untermalt durch wilde Hammond-Soli und Double Leads-Läufe. Den Fischer packen erneut gewaltige Skrupel. Atlanto nutzt die Gunst der Stunde zur Anklage gegen die Menschheit, die die Natur schonungslos ausbeutet: "Alle wollen leben". Musikalisch wie in der Aussage des Textes ist die Nummer sicherlich das Herzstück von "Flossenengel" - eine furiose, gewaltige Anklage - ein Aufschrei der Natur.
Wenn in "Rückkehr" der Fischer dem leidenden Atlanto wieder die Freiheit schenkt, bekommt die Geschichte erneut eine dramatische Wendung. Kernaussage des Stücks: Das Tier nimmt sich, was ihm gehört - die Freiheit. Kein unangebrachter Dank - es ist der Mensch, der sich für die Offenlegung seiner Unfähigkeit zu bedanken und daraus die Lehren zu ziehen hat. Denn, nicht die Natur braucht den Menschen... es ist genau umgekehrt!
Für das, was heute wie eine Binsenweisheit klingt, bekam man zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung von "Flossenengel" noch eins mit dem Gummiknüppel übergebraten, wenn man zur falschen Zeit am falschen Ort war. Komme mir also jetzt keiner mit 'Betroffenheitsrhetorik' oder 'Pathos'. Dieses Album ist (leider) heute noch so brandaktuell wie damals. Einziger Unterschied: Heute gibt es keine Hoffnung mehr für den todgeweihten blauen Planeten.
"Flossenengel" zeigt Novalis auf dem kreativen Höhepunkt ihrer Karriere. Man hatte die früher oft ausufernden Klangkaskaden zugunsten etwas strafferer Arrangements zurechtgestutzt, was den Songs gut tat. Mit dem recht schönen Nachfolger "Augenblicke" setzte man diesen Weg konsequent fort, auch wenn hier bereits die Kreativität einige Wünsche offen ließ. Die Neue Deutsche Welle setzte Novalis ebenso zu, wie allen anderen Krautrockern. Zwar versuchte die Band, sich dem Trend mit immer kompakteren Songs anzupassen, was sicherlich den Plattenbossen geschuldet war, aber Novalis letztendlich entbehrlich machte. So spielten sie 1984 im heimatlichen Hamburg ihr
letztes Konzert.
Trotzdem würde ich mich wie 'Bolle' freuen, wenn sich Lutz Rahn, Hartwig Biereichel, Fred Mühlböck, Detlef Job und Heino Schünzel zu einem Comeback überreden lassen würden. Das wäre ein Ereignis, für das ich doch glatt fünfhundert Kilometerchen fahren würde...
Line-up:
Fred Mühlböck (lead vocals, guitar, flute, accordeon)
Lutz Rahn (Hammond, Mini Moog, keyboards)
Detlef Job (lead guitar, vocals)
Heino Schünzel (bass, vocals)
Hartwig Biereichel (drums)
Tracklist
01:Atlanto (5:12)
02:Im Brunnen der Erde (4:28)
03:Brennende Freiheit (2:20)
04:Im Netz (8:38)
05:Flossenengel (3:26)
06:Walzer für einen verlorenen Traum (3:27)
07:Sklavenzoo (6:00)
08:Alle wollen leben (4:46)
09:Rückkehr (6:00)
10:Ob Tier, ob Mensch, ob Baum (1:50)
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