Oleg Pissarenko Band / Kes Sa Oled
Kes Sa Oled Spielzeit: 39:07
Medium: CD
Label: Sireena Records, 2012
Stil: Ambient Jazz


Review vom 08.07.2014


Steve Braun
Nicht von ungefähr nimmt Riga in diesem Jahr den Rang der Europäische Kulturhauptstadt ein. Nicht nur, weil sich hier Gotik, Barock, Klassizismus und Jugendstil im Stadtbild verewigt haben, Riga hat wohl auch die quirligste Musikszene des gesamten Baltikums und weit darüber hinaus. Der Jazz repräsentiert hierbei - wie im gesamten ehemaligen Ostblock - das wichtigste Element, denn er bildete in Zeiten erstarrter Dogmatik den (über)lebensnotwenigen Freiraum und die Spielwiese für alle Freigeister und -denker. Und wohl nirgendwo sonst - Polen vielleicht mal ausgenommen - trifft der Jazz auf eine offenere, fortschrittsorientiertere Zuhörerschaft.
Oleg Pissarenko hat die estnische Jazzszene geprägt und mitgestaltet wie kaum ein zweiter. Der studierte Gitarrist fungiert als Vorstandsmitglied der Estnischen Jazz Union und ist sowohl Organisator als auch künstlerischer Leiter eigentlich aller wichtigen Veranstaltungen und Konzertreihen des Landes. In seiner Heimatstadt Tartu gründete er die 'Heino Elleri nimelise Tartu Muusikakooli' und sorgt hier für eine nachhaltige Nachwuchsarbeit.
Neben all diesen Aufgaben hat der erst 36-Jährige - der genauso aussieht, wie man sich einen estnischen 'Wikinger' vorstellt - tatsächlich noch Zeit für die Musik und hat neben seiner Oleg Pissarenko Band noch je ein Duo, Trio und Quartett am Start, mit denen er ganz unterschiedliche Ansätze verfolgt.
Weltoffen-weit wie der Meister selbst ist die Musik von "Kes Sa Oled", was 'Wo bist Du?' bedeutet. Als 'Minimal Jazz' und 'Ambient Music' wird sie gerne und oft tituliert - und Karteikarten für Schubladensortierer gleich, sind auch diese Beschreibungen sehr unzureichend.
Stattdessen möchte ich lieber eine überaus bekannte Referenzscheibe nennen, die dem, was die Oleg Pissarenko Band auf "Kas Sa Oled" zelebriert, wohl am nähesten kommt: "As Falls Wichita, So Falls Wichita Falls". Was Pat Metheny zusammen mit seinem kongenialen Partner Lyle Mays hier an atmosphärischen Stimmungen und Spannungen hervorrufen, lässt sich bestens auf "Kes Sa Oled" übertragen. Auch hier wird die Assoziationskette von der Landschaft geprägt: Weite, Ruhe, Meer, Wind, karge Vegetation, bunte Häuschen als Farbtupfer, wortkarge Menschen, faul in der Sonne räkelnde Katzen...
Gleich beim Eröffnungstitel wird man mit minimalistischen, an den Herzschlag erinnernden Beats 'eingemittet' und ermutigt, alles loszulassen und sich befreit der meditativen Strömung hinzugeben. Mit "WM" (was sicher nichts mit der gerade laufenden 'Mafia-Veranstaltung' zu tun hat) merkt man erstmals, dass hier Jazzer am Werk sind. Aber auch hier fließt alles sehr warm und frei, ohne fest gefügte Strukturen. Diese lassen sich am ehesten im verträumten "Loodu" und dem ebenso beginnenden "Eriline Tavaline", das sich gegen Ende doch tatsächlich in einen formidablen Jazzrocker steigert, finden. Die Küstenbewohner unter unseren Lesern werden die Fata Morganen, die man dort über dem Wasser sehen kann, sicherlich kennen. Wie eine solche irreale Spiegelung erscheint "Edasi" - es ist, als ob man das sagenumwobene Avalon sehen würde...
Die 'experimentellste' Nummer ist sicher das abschließenden "Köik" - 'pickende' Akustikgitarre, glockiges E-Piano, singende Bässe, mittig sogar noch ein feines Schlagzeugsolo und alles zerfließt gegen Ende wieder in einer endlos stillen Weite... grandios!
Und schon wieder stellt sich die Eingangsfrage: Was ist es denn nun? 'Minimal Jazz' oder 'Ambient Music'? Oder etwa doch die 'Eso-Ecke'??? 'Minimalistisch' agiert die Oleg Pissarenko Band sicherlich, im Sinne von 'zurückgenommen' - Egoismen, Selbstdarstellungen lassen sich auf "Kes Sa Oled" nicht ausfindig machen. 'Ambient' sind diese langgezogen-sphärischen, sanft und warmen Klänge ebenfalls. Weniger fixieren lässt sich dagegen das, was man auf "Kes Sa Oled" eher unterschwellig wahrnimmt: die Folklore und die Wesenzüge der Menschen Estlands.
Und: Es bleibt dringend zu hoffen, dass die esoterisch Ver(w)irrten dieses Album nicht für sich vereinnahmen werden.

"Kes Sa Oled" - ein tief beeindruckendes Stück Musik eines ebenso imposanten Musikers!!
Line-up:
Oleg Pissarenko (guitars)
Raun Juurikas (keyboards)
Mihkel Mälgand (bass)
Ahto Abner (drums)
Tracklist
01:Kes Sa Oled [Who Are You] (6:54)
02:WM (6:27)
03:Loodu [Creature] (5:45)
04:Eriline Tavaline [Special Usual] (6:16)
05:Edasi [Forward] (6:12)
06:Köik [Everything] (7:29)
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