Porcupine Tree / The Incident
The Incident Spielzeit: 55:08 (CD 1), 20:36 (CD 2)
Medium: do-CD
Label: Roadrunner Records, 2009
Stil: Progressive Rock, New Artrock

Review vom 28.09.2009


Michael Knoppik
Porcupine Tree, eine Band geführt durch Mastermind Steven Wilson, genießt bei ihren Fans einen Status, den nicht jede Musikgruppe inne hat. In der Tat handelt es sich bei Porcupine Tree um eine Ausnahmeerscheinung des Progressive Rock. Jedes Album, ja sogar die EPs, sind alles kleine Meisterwerke. Angefangen beim psychedelischen Erstling, über das stark floydige Monster-Album "The Sky Moves Sideways" bis hin zu den Britpop-geschwängerten Stupid Dream, "Lightbulb Sun" und darüber hinaus zum 'Heavy'-Werk "In Absentia" sowie den folgenden Rückbesinnungen "Deadwing" und "Fear Of A Blank Planet". Das gilt auchfür dazwischenliegende Compilations, Live-Alben und, wie bereits angeprochen, EPs wie "Staircase Infinities" und Nil Recurring.
Mit der Zeit warf sich irgendwann die Frage auf, wann PT erstmals schwächeln, sich quasi 'überleben' würde.
Bereits im Vorfeld wurde der neue 'Hit' "Time Flies" sehr gelobt und gehypt. Er wurde mit dem Animals-Album von Pink Floyd verglichen. Tatsächlich erinnert die akustische Gitarre an "Dogs" und die Orgel an "Sheep". Dennoch handelt es sich um einen recht durchschnittlichen Song. Da war "Lazarus" aus "Deadwing" noch weitaus innovativer. Nun, es ist ja auch klar, dass manche Alben von PT bzw. allgemein viele Alben des Progressive Rock eine gewisse Zeit brauchen, um zu reifen. Wie kann also dem neuen Album also eine bessere Chance gegeben werden, als es vor dem Reviewen erst einmal ca. 20 Mal durchzuhören? So geschehen bei "The Incident", einem 2CD-Album, welches durchaus auf eine CD gepasst hätte, Wilson den 55-minütigen Longtrack "The Incident" jedoch separat auf einer CD festhalten wollte.
Mit Spannung wurde der Longtrack also erwartet. "Arriving..." und "Anesthetize" waren bereits großartig, was sollte also ein 55-Minuten-Monstertrack zu bieten haben? Die erste Enttäuschung vorweg: CD-technisch handelt es sich nicht um einen Longtrack, sondern um vierzehn kürzere Tracks, von denen "Time Flies" mit 11 Minuten der längste ist. Nun die zweite Enttäuschung hinterher: Eine gewisse Zusammengehörigkeit ist zwischen den vierzehn Tracks zwar zu erkennen, klar, das ist bei den zwölf Songs von "Signify" auch der Fall, aber es handelt sich bei "The Incident" eher um mehrere, aneinander gereihte Stücke. Schade, Chance vertan. Ehrlich gesagt, kenne ich außer Grobschnitts Live-Versionen von Solar Music und vielleicht noch Oldfields "Amarok" keinen durchgehend guten Longtrack, der mindestens etwa eine Stunde dauert. PT hatten die Möglichkeit, neue Maßstäbe zu setzen. Es hat wohl nicht sollen sein.
Aber warum ist "The Incident" so schwach? Außer dass es schlicht eine Folge von Songs darstellt, sind die Rezepte altbewährt. Hier und da bedienen sie sich aus "On The Sunday Of Life", da wieder aus "Deadwing", und da wieder aus "Lightbulb Sun". Obwohl PT auch schon früher auf altbewährte Sounds und Stilmittel zurückgegriffen haben, so merkt hier der Hörer eine deutliche Stagnation. Diesmal überrascht quasi gar nichts mehr. Noch dazu fehlt es an Spannung. Der erste Track, der nur aus ein paar knackigen Riffs besteht, macht noch Hoffnung, doch löst sich diese alsbald in Enttäuschung auf. Die Band schläft scheinbar ein. Wo bleibt der Dampf, wo die Dynamik? Warum nicht auch mal krummtaktige, härtere Songs? Mit Sachen wie "Futile" und "Mother And Child Divided" haben sie doch bewiesen, dass sie es nicht nur sphärisch und/oder melodisch können, sondern dass PT auch richtig proggen können, dass die Post abgeht!
Zum ersten Mal tut sich bei Porcupine Tree das Gefühl auf, wirklich Popmusik zu hören. So z.B. beim Endtrack von CD 1, "I Drive The Hearse". Da kann auch ein gut gemeintes Gitarrensolo nicht viel retten. "The Blind House" klingt 1A wie "Daedwing", "Great Expectations" ist in mehrmals besseren Versionen auf "Stupid Dream" vorhanden. Wirklich, keine Überraschungseffekte.
Zwischendurch kann eine Nummer wie "Drawing The Line" für Höhepunkte sorgen, da endlich GEKONNT alte PT-Rezepte - diesmal mit Blackfield-Anleihen - für NEUE Songs verwertet werden. Im Gesangsstil vermag ich sogar vereinzelt kleine Parallelen zu Yes mit Jon Anderson zu erkennen. Ein Feature, welches bisher bei PT noch nicht in Erscheinung getreten ist. Zum ersten Mal weiß auch die solierende E-Gitarre mitzureißen. Auch wenn das Schlagzeug stumpf und einfallslos wirkt.
Apropos: Wo bleibt eigentlich der Bass? Fast nichts ist von Colin Edwin zu hören, der ein Live-Album wie "Coma Divine" mit Hilfe seiner Fähigkeiten als Bassist noch deutlich zusätzlich zum ohnehin hohen Niveau der Scheibe aufgewertet hat. Auf "Anesthetize" gab Edwin dem Song ebenfalls eine eigene Note. Doch hier scheint die Bassspur auf der Strecke geblieben zu sein. Erinnert mich etwas an "...And Justice For All" von Metallica, wo das 'Fehlen' des Basses sich aber wesentlich weniger auf die Album-Qualität auswirkt.
"Time Flies" ist, wie bereits angedeutet, trotz seiner Länge (es heißt nicht umsonst 'Lang ist nicht gleich gut') und Floydigkeit ein misslungenes, unauffälliges, belangloses Stück. Zu simpel und klischeehaft die Akustikgitarre, zu ausgelutscht die Lyrics, zu wenig Veränderungen. Der sphärische Mittelteil könnte vermutlich als grandios beschrieben werden, wenn auch da nicht eine gewisse Routine, Konstruiertheit und somit Langeweile zu vernehmen wäre. "Degree Zero Of Liberty" kocht dann lediglich Ideen des Openers wieder auf. Also wirklich, keine Spannung. Und das soll dann auch zur Abhandlung der 1. CD genügen.
Jetzt die große Frage: Rettet die zweite CD das neue PT-Album?
Viele hatten nach "Sleep Together" von "Fear Of Blank Planet" mit seinen mächtigen Synthiechören die Hoffnung, der Keyboarder Richard Barbieri würde mehr Einfluss bei PT bekommen. In der Tat hat Barbieri einen Song auf der zweiten CD geschrieben. Doch ist "Black Dahlia" gerade mal 3:40 Minuten lang. Bei insgesamt 70 Minuten Musik eindeutig zu wenig. Die nächsten Fan-Hoffnungen also, die in Luft aufgelöst wurden. Zumald die Nummer auch sehr ruhig und unauffällig ist.
Lediglich "Bonnie The Cat" mit einem flüsternden, fast schon Angst einflößenden Wilson ragt etwas heraus. Auch hier Ansätze eines möglichen, neuen Weges.
Steven Wilsons Album Insurgentes ist weitaus spannender, abwechslungsreicher, packender, vielseitiger, besser. Es gibt Crimson-Anleihen und Überraschungsmomente. Alles Zutaten, die dem neuen PT-Output nahezu gänzlich fehlen.
Jetzt verstehe ich, was das für mich recht schwache, zu wenig nach PT klingende "In Absentia" ausmachte: Die Ecken und Kanten! Diese fehlen auf dem glattgebügelten, uninspirierten und langweiligen "The Incident".
Meine Damen und Herren, hier ist das bisher schlechteste Album von Porcupine Tree...
4 von 10 RockTimes-Uhren
Line-up:
Richard Barbieri (synthesizers, keyboards)
Colin Edwin (bass guitar, double bass)
Gavin Harrison (drums, percussion)
Steven Wilson (vocals, guitars, keyboards)
Tracklist
CD 1:
01:Occam's Razor (1:55)
02:The Blind House (5:47)
03:Great Expectations (1:26)
04:Kneel And Disconnect (2:03)
05:Drawing The Line (4:43)
06:The Incident (5:20)
07:Your Unpleasant Family (1:48)
08:The Yellow Windows Of The Evening Train (2:00)
09:Time Flies (11:40)
10:Degree Zero Of Liberty (1:45)
11:Octane Twisted (5:03)
12:The Séance (2:39)
13:Circle Of Maniacs (2:18)
14:I Drive The Hearse (6:41)
CD 2:
01:Flicker (3:42)
02:Bonnie The Cat (5:45)
03:Black Dahlia (3:40)
04:Remember Me Lover (7:28)
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