Time's Forgotten / Dandelion
Dandelion Spielzeit: 63:57
Medium: CD
Label: Eigenproduktion, 2009
Stil: Prog Metal

Review vom 15.01.2010


Boris Theobald
Kaum ein Band-Debüt hatte mich in den vergangenen Jahren dermaßen beeindruckt wie jenes von Time's Forgotten aus Costa Rica. Und A Relative Moment Of Peace konnte kein Zufall sein, das deutete sich schon damals an. Denn solch facettenreiche wie tiefgehende Musik entsteht nur, wenn Talent und Inspiration zusammentreffen. Und von alledem ist nichts verloren gegangen - der Nachfolger "Dandelion" klingt wie ein Album, dessen Zeit genau reif war; ein Album, das die Band einfach schreiben musste. Das Bandgefüge von Time's Forgotten ist absolut intakt, das hört man... erweitert um einen zusätzlichen Gitarristen, Leonardo Valverde.
"Dandelion" ist ein traumhaft gutes Progressive-Album, und ein traumhaft schönes. "Dandelion" ist lebendiger Progressive Metal, der nur ohne Schablone und ohne Restriktionen entstehen kann. Time's Forgotten kreieren eine atemberaubende Symbiose aus trockenen Metal-Riffs und Seelen reinigenden Melodien. "8:03pm (These Streets)", "Backhome"... Ari Lotringer breitet seine wehmütigen, ergreifenden Gitarrensoli aus, und Francisco Longhi singt mit seiner durch Mark und Bein gehenden, klaren Stimme - elegisch und schmerzerfüllt, aber kraftvoll, mit unbändigem Willen und großer Überzeugung.
Oft von einem Gerüst aus detailverliebtem Hintergrundgesang umgeben, sorgen diese befreienden Melodien für kalte Schauer, für Gänsehaut, für diese Momente beim Musikhören, die einen hypnotisieren, die einen tief Luft holen und sagen lassen 'wow'. "Everything's Not Lost" hat mehrere dieser Momente. Was für ein Chorus! Eingebettet in ein beinahe hektisches progressives Feuerwerk erstrahlt zwei Mal dieser Refrain; ein Refrain, von dessen Sorte man in einer künstlerischen Karriere nicht oft einen schreibt. Eine erhellende, aufstrebende Melodie; sanft, aber bestimmt, angetrieben von einem behutsam aufeinander abgestimmten Duo aus elektrischer und akustischer Gitarre:
»But still
when we look into each other's eyes
when we acknowledge spirit
and we dare to look around
there's a fire burning
there's a heart holding on
there's a child who still smiles
there's a place to play without fear
there is a place where you wait for me«
Solch poetische Worte, und auch dieser wundersam verdrehte Titel, "Everything's Not Lost", bringen die Stimmung(en) des Albums nahezu perfekt auf den Punkt. "Dandelion" beschreibt bedrückende Gedanken von Einsamkeit, Sehnsucht und Niedergeschlagenheit, aber auch Hoffnung, Zuversicht und Mut. Und "Dandelion" gestaltet diese Gefühlswelten mit einem feinfühlig konstruierten Mosaik aus Stimmungen und Stimmen - mit forsch drängendem, hartem Rock, aber auch mit nachdenklichen und verträumten Klängen verschiedenartiger Flöten und eines irischen Dudelsacks (Uilleann pipes), einem Hauch von Folk und Weltmusik. Und mit elektronischen Samples, die eine alternative Ebene in die Musik bringen, eine Art... Trance-artige, hypnotische Dimension.
Genau so beginnt "Second Time": diese unwirklichen Effekte... dazu ein pulsierender Bass wie ein Pulsschlag. Messerscharfe, von Breaks durchsetze Riffs kommen hinzu, und schließlich eine zarte Klaviermelodie - ein paar lyrische, fragile Töne, die es auf magische Art und Weise schaffen, schwerer als die verzerrten Gitarren zu wiegen. Eine gespenstische Stimmung stellt sich ein, jäh durchbrochen durch ein intensives, emotionales Gitarrensolo über einer drängenden Double Bass-Strecke.
Aber nur kurz - es folgt ein Break, und dann türmt sich in dieser stillen Umgebung ein überspannter, stark verzerrter Gitarrenakkord auf, um sich danach wieder Ton für Ton zu zersetzen. Allein was Time's Forgotten hier fast zweieinhalb Minuten als Intro vor dem Gesangspart komponieren, ist bereits eine faszinierende musikalische Detailstudie an sich, ganz zu schweigen vom weiteren Verlauf des Songs mit unerwarteten Tempoverschärfungen und dramatischen Crescendos - und den Hörer nicht minder fesselnden Breaks.
Und dann geben Time's Forgotten selbst der Natur eine Stimme - genauer gesagt, der Brandung des Meeres, im nahezu meditativen Beginn von "The Tale Of The Sun And Moon (Dandelion)". Selbiges Stück ergreift nach und nach, ganz geduldig, fast hypnotisch Besitz von der Aufmerksamkeit des Hörers, verzaubert ihn mit einem fast surreal klingenden, vier Minuten langen Aufbau. Dann nimmt er ihn mit auf eine spannungsvolle Reise durch die wilden musikalischen Welten des Progs mit fliegenden Wechseln zwischen modernem Metal mit messerscharfem Riffing und ganz klassischem Prog Rock voller organischer Orgel-Atmosphären.
Und dann sind da Stücke wie das nachdenkliche, akustisch angetriebene "I Welcome You My Night" mit einem vielstimmigen Kanon-Konstrukt, oder "Gone Into The Mountains" mit seinem schwerelosen, gedoppelten Gesang, federleichter Akustikgitarre, lyrischem Klavier und elekronischen Drumloops. Oder "Silent Waters" mit seinen melancholischen, endlos hallenden Klavierklängen und keinem Gesang, sondern einem Flüstern... fast wie in einem Tagtraum, mit einer Stimme aus dem Unterbewusstsein.
Auf "A Relative Moment Of Peace" gab es dieses herrlich traurige Cello, oder auch den weiblichen Gastgesang. Das waren großartige Elemente - und ebenso stark ist es von der Band, dass sie nicht auf eben die selben gesetzt hat, sondern den Mut hatte, ein wirklich 'neues' Album zu schaffen, nicht bloß die Fortsetzung eines Debüts, das immerhin hervorragende Kritiken geerntet hat. Dafür hat sie neue Elemente integriert, wie die beschriebenen Flöten. Der Facettenreichtum dieser Band und die Finesse, mit der sie ihre unglaublich intuitiv, unverbraucht wirkenden Stücke kreiert, sind eine Bereicherung für die Prog Metal-Szene.
"Dandelion" ist Musik für die Psyche, Musik die nachdenklich macht. Musik, die atmet, und die sich unauslöschlich in der Seele festsetzt. "Dandelion", das heißt übrigens übersetzt 'Löwenzahn'... der irgendwann zur Pusteblume wird und sich schwerelos schwebend vom Wind forttragen lässt...
Line-up:
Juan Pablo Calvo (keyboards, vocals, programming)
Francisco Longhi (lead vocals)
Ari Lotringer (lead guitars, backing vocals)
Leonardo Valverde (guitars, vocals)
Carlos Pardo (bass guitar)
Jorge Sobrado (drums)

Guest musicians:
Eduardo Oviedo (tin whistle, low whistle and uilleann pipes)
Oscar Blanco (harmony vocals - #8, #9, spoken words - #1, #9)
Adriana Muñoz (harmony vocals - #9, grunts - #2)
Julio Nájera (harmony vocals - #9)
María Fernanda Calvo (harmony vocals - #9)
Tracklist
01:8:03pm (These Streets [6:17])
02:Second Time (7:15)
03:Indifferent (7:25)
04:Silent Waters (3:27)
05:The Tale Of The Sun And Moon (Dandelion [11:51])
06:Backhome (8:00)
07:Everything's Not Lost (7:16)
08:Gone Into The Mountains (6:11)
09:I Welcome You My Night (6:08)
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