Von wegen "Drive South"...
Southern-Rocker testen osteuropäische Straßen
Drive South »Soll nur noch mal jemand in meiner Gegenwart über 'Europa' meckern... Drei Länder, drei Währungen, drei Sprachen und zwei richtig heftige Grenzen - da lernt man die Vorzüge der EU zu schätzen!

Ein Reisebericht... zweiter Teil




Zwischenruf vom 02.10.2012


Steve Braun
Kaum haben wir die Hügel der weltberühmten Rominther Heide, Heimat von zahllosen Elchen und seit kurzem auch Wisenten, hinter uns gelassen, wird das Land flach und endlos weit - die Wolken scheinen in Griffweite über dem satt grünen Land zu schweben. Kurz hinter Podwojponie erreichen wir die litauische Grenze. Die Reste der Grenzstreifen sind noch nicht 'vernarbt' wie an der ehemaligen deutsch/deutschen oder deutsch/polnischen Grenze. Die Passage ist nun kontrollfrei, das Ausmaß der ehemaligen Grenzanlagen lässt sich aber noch unschwer ausmachen.
Great Caesar's Ghost Endlich mal wieder eine Autobahn - eine nagelneue noch dazu. Die EU macht's möglich. Selten habe ich diszipliniertere Autofahrer gesehen. Tempobegrenzungen werden strikt eingehalten - das ist gleichermaßen erholsam wie entspannend nach dem wilden Ritt durch Polen. Für solche Momente haben wir eine Geheimwaffe eingepackt - derart geheim, dass sie die wenigsten RockTimes-Leser kennen dürften: Great Caesar's Ghost. Das 2004 in Bridgehampton/NY gegründete Septett ist wohl die beste Coverband, die der Jam Rock zu bieten hat. Vor allem ihre Interpretationen der Götter sind eigentlich nur noch vom Original zu toppen. Diesmal haben sie sich vornehmlich den anderen Olymp-Bewohnern gewidmet und sich dafür mit deren Urgestein Butch Trucks als drittem Drummer für eine Ostküsten-Tour zusammengetan. Das Ergebnis liegt nun als Doppel-CD vor. Endlose, flockige Jams zu "Whipping Post" und der ollen 'Lisbeth'... traumhaft, wie das zu der Weite der Landschaft passt. Und wenn die Jungs dann noch Scarlet Begonias runterzwirbeln, grinst Jerry verschmitzt und völlig 'stoned' von der malerischen Stratokumulus, die sich gerade vor die Sonne geschoben hat.
Memelland Kurz hinter Kaunas beginnt das ehemalige Memelland. Hier herrschte vor dem zweiten Weltkrieg, wie in Masuren, ein munteres Multikulti, auch wenn Deutschsprachige die Bevölkerungsmehrheit stellten. 1923 wurde der schmale, vom Völkerbund verwaltete Streifen von Litauen annektiert. Selbst eine pro-nationalsozialistische Politik des Diktators Antanas Smetona konnte nicht verhindern, dass die Nazis 1939 einmarschierten, eine Militärregierung installierten und ein Blutbad unter den Bewohnern jüdischen Glaubens anrichteten. Nach der Befreiung 1944 blieben erstaunlich viele Deutschstämmige im Land, die nach der Einrichtung der Zweiten Republik 1992 ihr Brauchtum offen leben können.
Der offenbar leicht euphorisierbare Autor unseres Reiseführers stilisiert jedes einfache Holzkreuz am Wegesrand zu einer bemerkenswerten Sehenswürdigkeit, sodass sich manche Ernüchterung beim Erreichen des jeweiligen Zieles einstellt. Auch im dünn besiedelten Memelland sind die Altlasten der jüngeren Vergangenheit noch an allen Ecken präsent. Selbst im 'Musterländle' der EU ist die Armut der Landbevölkerung nicht zu übersehen.
Eindrucksvoll ist die Neigung der Litauer zur Mystik, der sich nicht nur in kunstvoll gearbeiteten Holzschnitzereien von Fabelwesen und Naturgeistern ausdrückt. Um jedes Hügelchen ranken sich hier zahllose Legenden - Überbleibsel und Fortführungen einer uralten, volkstümlichen Naturreligion.
Memelland »Zigeunerschnitzel, Zigeunerschnitzel...«, neben dem überaus reizvoll im Memeldelta gelegenen, aber offensichtlich bettelarmen Rusnė (Ruß) weiß vor allem das mit seinen Gründerzeitvillen sehr preußisch wirkende Šilute (Heidekrug) zu gefallen. Bekannt wurde das Städtchen durch das Schlagersternchen Alexandra, die den Zigeunerjungen ebenso wie den toten Baum besang, und hier geboren wurde.
Wenige Kilometer später erscheinen die Trabantenstädte zu Litauens größter Hafenstadt Klaipėda (Memel) am Horizont, dessen Altstadt sich nicht nur mit dem Ännchen-von-Tharau-Brunnen beachtlich herausgeputzt hat. Fiebrige Erregung macht sich breit: Gegenüber, durch das (nur) hier sehr schmale Kurische Haff getrennt, liegt unser eigentliches Reiseziel - die Kurische Nehrung - in greifbarer Nähe! Ihren Namen verdankt die langgezogene, mancherorts lediglich 300 Meter breite Halbinsel von dem lettischen Stamm der Kuren, die sich hier in grauer Vorzeit niederließen, bevor sie vom Deutschen Orden zwangsmissioniert wurden - das hieß nicht nur in diesem Fall: Taufe oder Tod.
Nehrung Nach der kurzen Überfahrt mit der Autofähre fahren wir durch endlose Kiefernwälder - unterbrochen mit herrlichen Ausblicken auf die einzigartige Dünenlandschaft, Ostsee und Haff - die knapp fünfzig Kilometer zu unserem Urlaubsort Nida (Nidden).
Untermalt wird dieser Triumphzug von der (möglicherweise kann man es am Jahresende so nennen) Reunion des Jahres: Henry Paul und Dave Robbins haben Blackhawk reformiert. Das erste Album seit zehn Jahren markiert das vielleicht beste Album der Country-Rocker. Wie an einer Perlenkette sind die Knaller aneinandergereiht, wobei das munter abrockende "Down From The Mountain", die zauberhafte Ballade "Voices", das eingängige "Wichita" und die saustarke Halbballade "Champagne High" das Zeug zu Klassikern mitbringen. 'Goldkehlchen' Henry Paul näselt zwar wieder zum Gotterbarmen, aber dafür lieben wir den Outlaw nun einmal... Majestätische Mucke in einem ebensolchen Weltnaturerbe - unser Paule ist einfach ein begnadeter Songwriter!!
Nehrung Nachdem wir unser uraltes Fischerhäuschen im originalen Fischerviertel, einen Steinwurf vom Hafen entfernt, bezogen haben, sind die ersten Kontakte mit den 'Eingeborenen' ernüchternd. Unverholen reserviert bis unfreundlich, maulfaul und hundefeindlich sind die Attribute, die uns spontan einfallen (macht nix - ich kann mindestens genauso 'grimmelwiedisch gugge'). Man ist offensichtlich genervt von dem lebhaften Tourismus, der das einst verschlafene Dörfchen zwar überrollt aber auch zu sichtbarem Reichtum verholfen hat. Thomas Mann, der in seinem Nidder Haus vom 'Italienblick' über das Haff geschwärmt hat, würde Nida - zugegebenermaßen - nicht mehr wiedererkennen. Sicherlich würde es - wie fast immer - helfen, die Landessprache zu beherrschen, aber - mit Verlaub - litauisch ist keine Sprache sondern eine Zungenerkrankung. Nichts, aber auch nicht mal eine Silbe ist der romanischen Sprachfamilie nachzuvollziehen und einem Touristen, der erstmals ein Land besucht, ist sicherlich nicht abzuverlangen, vorab mehrere Sprachkurse bei der Volkshochschule zu besuchen. Da haben wir andere Vorstellungen von Tourismus: Durch Gastfreundlichkeit ist es viel einfacher, Leute beim erstmaligen Kontakt mit der fremden Kultur für ein Land und dessen Sprache zu begeistern - wie wir es zuvor in Polen erlebt hatten. Wir beschließen, den Umgang mit den Einheimischen auf das unumgängliche Mindestmaß zu beschränken.
Was leider nicht für unsere Vermieterin gilt, die sich bereit erklärt, nach einer Woche zu putzen. Abgesehen davon, dass wir so etwas noch nie erlebt haben, ist der Grund offensichtlich: Das alte Schrapnell ist nämlich »sooo scared« about her nagelneue Ledercouch. Denn, the dog could jump on it... scratch-scratch! Boaaah - was'se Gespräch!! Wer fährt schon dreitausend Kilometer in ein Naturparadies, um sich dann vor einem riesigen TV auf einer sündhaft teuren Ledercouch den Hintern breitzuwalzen?? Diesen Raum haben wir jedenfalls nie wieder betreten...
Nehrung Kulinarisch betrachtet ist das Land dagegen erfreulich. Mit dem köstlichen Svyturys kann man mit dem wohl besten Bier östlich der Oder-Neisse-Linie aufwarten. Auch ein Märzen von der gleichen Brauerei ist alles andere als verachtenswert! In der Küche dominiert Fisch, denn durch die exponierte Lage zwischen Haff und Ostsee kann man sowohl Meer- als auch Süßwasserfisch präsentieren. Eine Offenbarung ist auch das Räucherfleisch. Nahezu jedes Teil von Wald-, Wiesen- und Stallbewohnern wandert in den Rauch und verursacht kulinarische Orgasmen! Auch die Vielfalt der Pilze ist bemerkenswert, wobei man hier besser nicht über Tschernobyl nachdenken sollte - die Wolke zog damals zuerst über das Baltikum nach Skandinavien, bevor sie unsere Breiten verseuchte. Die Preise für die Speisen sind noch einmal niedriger als in Polen, aber wir nutzen als begeisterte Köche nun des Öfteren unsere eigene Küche. Kochen ist schließlich keine Arbeit sondern pure Lust... Allerdings müssen wir hier gewaltig improvisieren. Unser Luxusetablissement verfügt zwar über ein Flachbildschirm-TV im Küchenbereich, über ein paar anständige Messer und anderes Arbeitsgerät würde man sich allerdings mehr freuen.
Die passenden Weine findet man problemlos, wenn man auf 'Exoten' wie deutsche Rieslinge verzichten kann. Die Preisgestaltung ist aber abenteuerlich: Den spanischen Kultwein Tinto Pesquera Reserva 2005 bekommt man für umgerechnet nicht mal zwanzig Ocken, während man bspw. für den gewiss nicht schlechten Gigondas aus dem Hause Etienne Guigal das Dreifache hinblättern muss - so sind halt die Relationen, wenn Biertrinker die Preisgestaltung von Spitzenweinen übernehmen...
Nehrung Den nachhaltigsten Eindruck, den wir von der Kurischen Nehrung mitnehmen dürfen, sind die überraschenden Kontakte mit Elchen, die bei unseren täglichen Wanderungen durch die Wälder in Richtung Ostsee mehrfach unseren Weg kreuzten. Nun können wir nachvollziehen, warum dieser scheue Einheimische als König der Wälder bezeichnet wird! Auch die einzigartigen Wanderdünen kann man nur als gigantische Naturwunder bezeichnen. Mehrfach mussten die Orte der Nehrung zwangsweise geräumt und neu aufgebaut werden, bevor man Ende des 19. Jahrhunderts durch eine konsequente Bewaldung die weißen Wände stoppen konnte. In den Dünen wie am Strand kommt man der litauisch/russischen Grenze oftmals gefährlich nah. Eindringlich wird man in allen Reiseführern gewarnt, diese zu verletzen. Man ist wohl alles andere als zimperlich... wir sollten noch unsere eigenen Erfahrungen mit russischen Grenzern machen 'dürfen' - mehr dazu im dritten Teil.
Im Urlaub bleibt der Player aus. Diese goldene Regel im Hause Braun gilt in einem Naturparadies im Besonderen. Man will sich ja schließlich erholen... Auch der RockTimes-Sonnenschein Luna entspannt sich buddelnder und planschender Weise. So scharren wir nach zwei Wochen alle schon wieder mit den 'Gummi-Hufen': Das Kaliningrader Gebiet (Königsberg, Samland, Natangen und Nadrauen) sowie das polnische Ermland warten im Zuge der Heimreise auf neugierige Saarländer.
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