Editorial - Juni 2011



Editorial vom 01.06.2011


Ingolf Schmock
Oh, du Wonnemonat!
Eigentlich knutscht jeden von uns mindestens einmal im Jahr das sehnsuchtsvolle Murmeltier. Nach länger anhaltendem Tageslicht und den erwachenden bunten Tupfern in unserer stahlbetonierten Umwelt explodiert so manche Hormonmischung in kaum zu zügelnden Paarungsritualen. Während Endokrinologen, im so genannten Wonnemonat, das ewige Rätsel jahreszeitschwankender Dopamin-Wallungen mit Vorliebe füttern, Tiere sich ohne gähnend soziales Vorgeplänkel munter bespringen, selbst Fleischesser den Spargel als besonders sexy betrachten, und uns die Sammelleidenschaft benutzerfreundlicher Freunde aus Zuckerbergs Netzwerk [Facebook, die Red.] munter verseuchen, dreht sich der reich betagte und von Katastrophen arg gerüttelte Erdklumpen beharrlich weiter.
Aber nicht nur im Mai kriecht so manch niederer Instinkt aus seinem wohlbehüteten Versteck, aktivieren wir, nach medialem Blut schmachtenden Vertreter der Gattung Homo sapiens, nur zu gern humane Verdrängungsmechanismen, und verabreichen unserer Sehnsucht nach virtueller Teilhabe an sonnigen Augenblicken reichlich Zucker.
Japans Lehre für die Menschheit über die Unbeherrschbarkeit atomarer Kernspaltungen und ein hierzulande anvisierter Verzicht auf besorgnisserregende Technologien, mit all ihren Plänkeleien um 'den Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg', werden kurzerhand zu einer endlos scheinenden Seifenoper verwurstet, royales Millionenverschleudern und ein Versprechen von ewiger Liebe strapaziert das Tagesprogramm gleich zweier Gebühren-TV-Sender, und nötigt das Tränen aus den Augenrändern wischende Publikum, wenigstens für Stunden, die apokalyptischen Abgründe des viertgrößten Inselstaates und der arabischen Welt zu vergessen.
Ein amerikanischer Präsident reanimiert den Reality-Vollstrecker in unserer, von 'Mitten im Leben'-Geschichten gebeutelten Heim-Glotze, und versenkt mal eben einen durchlöcherten Terrorveteranen ins tiefste Haifischbecken, zaubert mitunter sogar ein verschmitztes Blinzeln in das sonst in Granit gemeißelte Merkel'sche Mienenspiel und bringt kurzzeitig ein an Kreditwürdigkeits-Schwund erkranktes Volk dazu, sich als überpatriotisierte Schwachköpfe in kollektiver Alzheimer zu üben.
Gern lassen wir uns von gruftigen Altersweisheiten eines Tabakschwaden-nebelnden Orakel bei Beckmann einlullen, erwecken unsere Sehnsüchte nach gutem Essen und Oberschichten-Kochshows als allerheilsbringendes Evangelium und kurzweilige Entschleuniger, schaffen es aber dennoch nicht, die Bremsklötze unter dem mittlerweile rasant an Fahrt gewonnenen Alltagsstress-Tonner zu bugsieren. Im Grunde sind Stress und Burnout doch längst zu Mode-Sauen avanciert, verschaffen uns ein Alibi, selbige auf Dienstschluss-Partys gesellig wegzusaufen, oder einem der zunehmend als Sichfinder getarnten Halsabschneider die geomantische Bude zu belagern.
Die Vorfreude auf den nahenden Sommerurlaub nimmt uns ein wenig die Angst vor dem Nichtgenügen, das Zahn um Zahn-, Auge um Auge-Ritual mit dem schnöseligen Büro-Alphatierchen, verlagert für wenige Wochen unseren in Hektik erstickten Klassenkampf an alkoholdunstige Badestrände oder den heimischen Liegegrill.
Glücklicherweise existiert unsere ganzjährige Freundin, die die Herzen erleichtert, Bewusstsein schafft, und selbst in Schrumpfhirnen schlummernde Kräfte mobilisiert, eine Begleiterin für jede Gelegenheit, welche uns jeder Medicus vorbehaltlos rezeptieren würde: die Musik.
Da erschien es uns dieser Tage gerade recht, dass ein mittlerweile weißgrau-bärtiger muslimischer Wanderprediger und einstiger Zuckerwatten-Troubadour feucht-schwüler Pettingspielchen nach mehr als drei Jahrzehnten Hirtendasein in Allahs-Gärten und harmonischer Sittsamkeit, ein musikalisches Füllhorn warmer Wogen über sein mitgealtertes Konzertpublikum ausschüttete. Auch wenn sich Yusuf alias Cat Stevens von allem Weltlichen entsagt, und im Geistlichen seine Berufung fand, hat er trotz aller Lebensbalancen das gesunde Verhältnis zum häuslichen Bankkonto wohl nie ganz verloren. Entgegen allen bösen Zungen und Mutmaßungen heiligte durchaus der Zweck die Mittel, Yusufs Häutung zum singenden Friedens-Messias, den Glückshormon-trunkenen Jüngern in den Arenen dringend zu verabreichen, um den einen oder anderen kindlich-naiven Spätrevoluzzer einen geblümten Traum zu schenken.
Andere hingegen befinden sich noch immer auf einer 'Never Ending'-Tour und krächzen ihre balsamierten Messdiener-Botschaften fürs Proletariat, die Sehnsüchte nach dem amerikanischen Süden und ländlichem Frieden, und verbreiten mit 70 ihre Mini-Proteste zu allen Lebenslagen.
Ob als näselnder Grabeshüter längst verwester Folk-Ikonen oder als elektrisch entflammter Wanderprediger, ignoriert Robert Allen Zimmerman nunmehr seit fünf Jahrzehnten die lauter gewordenen Schmähungen seiner Kritiker und schwebt auf einer Wolke frostiger Unantastbarkeit. Auch wenn heutzutage Dylans Protest-Sturm nur ein laues Lüftchen verspricht und er sich als einst zorniger Barde jüngst chinesischen Zensoren unterwarf, wird der mildgestimmte Provokateur wohl auch zukünftig in schnieker, seidenbestickter Paradejacke und Doc Holliday-Kopfbedeckung seine immergrünen Anhänger mit irrwitzigen Weihnachtsliedern oder verquerten Tanztee-Volksweisen drangsalieren.
Hamburgs wohl beständigster Luxushotel-Bewohner und berühmtester Hut, der sich in jüngster Musical-Beweihräucherung ehemaliger 'Mauer- und Gitarren- statt Knarren-Engagements' zu Lebzeiten ein Denkmal setzte, ging auf Geburtstags-Törn. Er, der gegenüber zahlreichen Gazetten in seiner unnachahmlich nuschligen Mundart, die »Zahl 65« als eine »von der Firma Scheißegal« verkündete, der wohl schon oft der hässlichen Fratze einer umtriebigen Branche entgegen grinste, hat sich schon längst in den Reihen in Narrenfreiheit lebender Rock'n'Roll-Zeitgenossen eingeordnet und wird demnach auch morgen noch, mit hochprozentigen Fingerfarben und kindlichen Krickeleien gegen die einst wilde Vergangenheit ankämpfen.
Vielleicht werden Udo Lindenberg, als Alterspräsident aller Ewigjugendlichen und sein musikalischer Ziehvater, erfinderischer Komponist unsterblicher Tatort-Töne und 75er-Jazzsaxophon-Jubilar Klaus Doldinger, gemeinsam zur Rockliner-Endlos-Kreuzfahrt in See stechen.
Geburtshelfer elektrischer Gitarren und mittelalterlicher Post-Hippies, ein legitimierter weißer Blues-Adept mit schwarzer Baumwoll-Seele, blies dieser Tage dagegen 70 Räucherstäbchen von der Ehren-Torte. Der einstige Halbstarke aus Newcastle [Eric Burdon, die Red.], dessen mit Soul-Essenz bestrichene Seele bis heute ihr Eigenleben zu bewahren vermochte, ein kleinwüchsiger blasser Typ, der mit seinem Unterleibs-Vibrato, samt den sturmreifen Lagerfeuerhymnen so manchen Testosteronstau beräumte, Hendrix' letzter wahrer Freund, wird mit erstickter Wut auf den Bühnenbrettern dieser Welt wohl weiterhin gegen die aufkeimende Patina des Vergessens ansingen und zum abertausensten Mal seine Ode für ein betagtes Bordell röhren.
Bedauerlicherweise versäumte es der knochenfingrige Sensenmann auch in diesem Monat nicht, seine modrigen Griffeln nach einem Sixties-Warzeichen auszustrecken, einem jener britischer Pop-Aristokraten, die gern die Schatztruhen schmalziger Opernarien plünderten um mit zuckrigen Soundtracks für einige unserer feucht-pubertären Träume zu sorgen. Der nicht mehr besiegbare Tod von John Walker, welcher sich mit seiner Boyband und dem unverrückbaren Schmachtfetzen "The Sun Ain't Gonna Shine Anymore" in manches Herz bohrte, stimmt traurig und lässt uns wiederum unsere eigene Vergänglichkeit begreifen.
Abgesehen von computergesteuertem Größenwahn und geistig-unterbemitteltem Show-Slapstick hinterließ der diesjährige Gesangswettbewerb europäischer Profijugendlicher und trashiger Casting-Geburten erwartungsgemäß einen würgreizenden Beigeschmack. Da half es auch nicht, dass Germanys unterkühlte Vorzeige-Abiturientin und ihre fruchtbarkeitstänzelnden Ganzkörperkondome elektropoppige Helden zum Leben erweckten, um letztendlich von der 'Ostblock-Mafia' in die staubige Einöde jenseits der innereurasischen Wasserscheide verbannt zu werden.
Nach dem Konzertereignis des Monats, einem in diesen Gefilden einzig anberaumten Auftritt, der mit futuristischer Mären-Philosophie behafteten Prog- und Hard Rock-Institution Rush und einem huldvollen Wiederkäuen ihres zum ewigen Kanon kanadischer Rockmusik verdammten Lebenswerkes werden wir Rastlosen und Müßiggänger, so fürchte ich, auch im Folgemonat mit Hingabe unsere Neurosenlandschaften pflegen, oder uns eben einfach nach ein bisschen Smartphone-freiem Frieden sehnen.
Mein Tipp: Stürmt den nächsten Plattenladen und besucht eure Freundinnen!

Euer Ingolf
Externe Links: