Immer wieder gern gehört!
Zwischenruf

Die überlangen Songs der Rockmusik
Wer kennt das Gefühl nicht - Du stehst vor der Bühne, auf der gerade eine Band so richtig abgeht. Der Gitarrist reißt sich aus dem Grundthema los und beginnt ein Solo auf dem Brett, dass Dir fast schwindlig wird, hebt völlig ab und holt die wahnsinnigsten Töne aus seinem Instrument heraus. Mit wild verzerrtem Gesicht und rhythmischen Bewegungen unterstreicht er sein Spiel, sodass es noch intensiver wirkt. Du scheinst alles um Dich herum zu vergessen und... ...wirst - viel zu schnell - wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Das geht wohl jedem Musikliebhaber von handgemachter Rockmusik so, so fern er die Szene miterlebt hat, wie sie am Ende der Sechziger/Anfang der Siebziger Jahre abging.
Genau in diesem Zeitraum wurde gesteigerter Wert auf viele lange Improvisationen gelegt. Es gab unzählige Songs, die in ihren Live-Versionen weit über die 10 Minuten Grenze hinausgingen. Selbst Überlängen von 20, 30 oder gar 40 Minuten waren keine Seltenheiten.
Da machten Ginger Baker, Jack Bruce und Eric Clapton, kurz Cream genannt, aus einer recht kurzen Studioaufnahme wie "N.S.U." (2:55 Minuten) auf der Bühne mal eben ganz locker ein kleines Meisterwerk von 10:13 Minuten Laufzeit.
Krautrockbands wie Birth Control und Grobschnitt dehnten ihre jeweiligen Kultsongs "Gamma Ray" und "Solar Music" auf ellenlange Versionen aus, die den einzelnen Musikern jedweden Freiraum für Soloeinlagen ließ. Schon bei den regulären Aufnahmesessions im Studio war eine irre Intensität herauszuhören, die aber trotzdem in keinem Verhältnis zu den Konzertmitschnitten stand. Immer wieder ließen sich die Musiker von einem begeistert mitgehenden Publikum zu neuen Höchstleistungen anspornen.
Da ging Birth Control in kompletter Bandstärke auf Nossis Schießbude los und entfachte ein wahres Percussion-Feuerwerk. Erfolg: fast 26 Minuten voller Intensität und Dynamik.
Grobschnitt machte aus "Solar Music" ein jeweils ganz neues Stück Musik, das niemals auch nur annähernd in der gleichen Fassung zweimal gespielt wurde. (Man höre sich mal die von Eroc remasterte CD-Serie "The Story Of Solar Music" an.)
Wahre Meister der Improvisation waren und sind auch die Allman Brothers, die vor allem in den früheren Jahren kaum ein Ende bei ihren Mammutsongs fanden. Allein ein Stück wie "Mountain Jam" strotzte nur so von heißen Gitarren-Duellen zwischen Dickey Betts und Duane Allman. Heraus kamen nicht selten Spielzeiten von über 30 Minuten.
Steamhammer verbanden in ihrer einzig verbliebenen Liveaufnahme die Titel "Riding On The L & N" und "Hold That Train" mit einem wahrhaft magischen Übergang am Bass zu einem Werk, das von Anfang bis Ende in keiner Sekunde an Spannung verlor, und verzauberten so ihre Zuhörer.
Gruppen wie Man und Grateful Dead ergingen sich in wahren Soundorgien und erreichten so spielend die 20 Minuten-Schallmauer bei ihren Songs.
Golden Earring und Iron Butterfly schufen mit "Eight Miles High" und "In A Gadda Da Vida" unsterbliche Meisterwerke der Rockmusik, bei dem die jeweiligen Schlagzeuger im Mittelpunkt standen, sei es nun durch fast orgiastische Schreie vor jeder Drumsalve, oder auch nur durch einen hypnotisierenden Rhythmus.
Fleetwood Mac in ihrer Frühphase mit Peter Green streckten Nummern wie "The Green Manalishi" oder "Rattlesnake Shake" locker auf die dreifache Laufzeit der Studioaufnahmen, wie man auf den Live CDs "Live In Boston" nachvollziehen kann.
Die amerikanischen Heavy Rocker Mountain lieferten ihr Meisterstück auf dem Album "Twin Peaks" ab. Über 31 Minuten lang duellierten sich Leslie West und Felix Pappalardi an Gitarre und Bass, dass es nur so krachte. "Nantucket Sleighride" heißt der Song, der wohl zu den intensivsten Titeln der Rockmusik gehört.
Den Vogel schoss aber die amerikanische Boogie Legende Canned Heat ab. Der "Refried Hockey Boogie" vom Album "Boogie With Canned Heat" wurde in der Live Fassung auf satte 41 Minuten gestreckt. Nacheinander brachte jeder der beteiligten Musiker sein eigenes Solo, immer wieder unterbrochen von der Rückkehr zum Grundthema, bei dem Sänger Bob Hite auch den Text aus dem Stehgreif heraus aktualisierte und von persönlichen Erlebnissen berichtete, während er in der Studioaufnahme die Gelegenheit nutzte, um die Band vorzustellen.
Die Liste von Rocksongs ließe sich noch beliebig lange fortsetzen, und man würde sich dabei noch so manches wahre Kleinod an Musik ins Gedächtnis zurückholen. Ganz spontan fallen mir dabei stichwortmäßig noch ein: Rare Earth "Get Ready" und "Tobacco Road", Lynyrd Skynyrd "Free Bird", Humble Pie "I Don't Need No Doctor", Creedence Clearwater Revival "Keep On Chooglin'", Colosseum "Lost Angeles" und "Stormy Monday Blues", Camel "Lady Fantasy", UFO "Flying", Doors "The End" und "When The Music's Over" und so weiter. Ich glaube ich könnte noch stundenlang so weitermachen!
Eigentlich nur in diesen paar Jahren war die Diskrepanz zwischen Studio- und Live-Aufnahmen so groß und ließ den Musikern so viel Freiräume für ihre Phantasie.
Trotzdem waren diese Ausuferungen dann auf einmal verschwunden und sogar verpönt, natürlich auch bedingt durch das mangelnde musikalische Vermögen der Nachfolgebands (besonders in den Bereichen des Punk Rocks). Aber auch renomierte Gruppen wie z. B. Supertramp stellten sich ganz und gar gegen irgendwelche Improvisationen und lieferten so für mich gänzlich tote Konzerte ab (man höre sich nur mal das völlig überflüssige Live-Album der Band an, auf dem jeder Titel Note für Note der Studioaufnahme gleicht.)
Gott sei Dank geht der heutige Trend wieder zu den längeren Stücken zurück. Junge Interpreten wie Henrik Freischlader, Aynsley Lister und Ian Parker zeigen ihr großes musikalisches Können durch gelungene Soloeinlagen und bauen in ihre Songs auch immer wieder andere Klassiker mit ein. Ist doch schön wenn man als Zwischenspiel Titel wie "Black Night", "Voodoo Chile", "Smoke On The Water", "Oh Well" auf die Ohren bekommt.
Immer mehr junge Musiker zeigen sich jetzt wieder total aufgeschlossen gegenüber langen Improvisationen und sehen das als willkommene Gelegenheit ihr wirklich großes Können unter Beweis zu stellen. Ich will gar nicht bestreiten, dass man es vor ca. fünfunddreißig Jahren oftmals übertrieben hat und manche Klangorgien nur bekifft, betrunken oder beides ertragen werden konnten. Aber das sind wirklich Ausnahmen. Zum größten Teil gehören die meisten Mitschnitte in Überlänge zu den echten Highlights in der Rockmusik. Und das wird meiner Meinung nach auch immer so bleiben!


Jürgen Bauerochse, 11.07.2006