Die Hit Maschine
Zwischenruf
Beantwortet Software alle Fragen?
Jede Investition muss sich lohnen. Sie muss eine Rendite abwerfen, einen Benefit produzieren. Die Industrie im Allgemeinen und die Music Companies im Speziellen sind natürlich in erster Linie Wirtschaftsunternehmen, die nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen handeln (müssen). Warum? Nun, weil sie das eingesetzte Geld mit Zinsen zurück haben wollen. Darum geht es in der Wirtschaft. Daneben werden natürlich auch Existenzen gesichert und vielleicht sogar mal der eine oder andere Arbeitsplatz geschaffen. Das sind aber nur Nebeneffekte. Anderslautende Behauptungen entspringen meist entweder einer atavistischen Sozialromantik, einer verklärten Altruismusgläubigkeit, einer zum Himmel schreienden Naivität oder sind eben schlicht gelogen.
Bevor Produkte im Markt platziert werden, wollen die Hersteller natürlich wissen, ob sie auch verkauft werden können. Garantien dafür gibt es nie. Aber es gibt Instrumente, mit denen sich das Verkaufspotenzial abschätzen lässt. Im Rahmen der Marktforschung werden Analysen betrieben, Marktbeobachtungen durchgeführt, Befragungen vorgenommen und so weiter und so fort. Natürlich würde auch die Musikindustrie zu gerne wissen, ob ein Künstler oder ein Song so oft verkauft werden kann, das sich die Ergebniskonten füllen. Am besten so rasch und so unbändig wie nur irgend möglich.
Also wurden und werden die verschiedensten Strategien und Mechanismen entwickelt, um eine zuverlässige Prognose darüber zu bekommen. Scouts schwärmen aus, mit der Aufgabe, neue Talente zu entdecken. Bands beziehungsweise Gruppen werden nach diversen Kriterien zusammengecastet. Die Marketingabteilungen versuchen ihre Produkte in der Fachpresse zu etablieren und über die TV- und Radio-Sender einem Millionenpublikum vorzustellen. Irgendwo sitzt vielleicht noch ein Experte, ein alter Hase, der sich auf seine Erfahrung und sein 'Näschen' verlässt, wenn es gilt, ein Hitpotenzial zu beurteilen. Das alles ist nicht neu.
Relativ neu, aber keineswegs überraschend, sind die Bestrebungen, das Verkaufspotenzial eines Songs aufgrund von überprüfbaren und quantifizierbaren Kriterien zu objektivieren. Zu diesem Zweck hat der in Spanien lebende Musik- und Marktetingfachmann Mike McCready die Software 'Hit Song Science' entwickelt.
Dieses Programm untersucht den Song auf 20 musikalische Segmente, wie beispielsweise Melodie, Harmonie, Tempo, Tonlage, Taktmaß, Rhythmus, Soundfülle und Brillanz. Die Ergebnisse werden gewichtet und quantifiziert. Die HSS Software vergleicht das Ergebnis mit Songs, die in den vergangenen 5 Jahren in den Charts waren und mit der gleichen Systematik analysiert wurden. Aus der erreichten Punktzahl lässt sich sodann ein möglicher Charterfolg oder eben auch Misserfolg ableiten. Ach ja, die Stilrichtung hat auf McCreadys Potenzialanalyse angeblich keinen Einfluss. Darauf kommen wir gleich noch mal zurück.
Kann es wirklich so einfach sein? McCready behauptet das jedenfalls. Er verweist auf eine Fülle von Erfolgen. Das 'Näschen' des Talentsuchers ist plötzlich obsolet geworden. Statt mit Ach und Krach einen Hit unter fünf Veröffentlichungen zu landen, werden es also bald vier Hits sein. Mindestens! Ob dadurch die Musik in eine starre Schablone gepresst wird? Ja klar, aber auch das ist nichts Neues. Wenn sich die Companies aber nur noch auf die HSS verlassen sollten, werden verquere, skurrile oder absonderlich Einfälle keine Chance mehr bekommen. Manchmal gibt es eben doch sehr erfolgreiche Lieder, die es vorher so noch nicht gegeben hat. Beispiele gefällig?
Blenden wir ein paar Jahre zurück. Ob wohl irgend jemand dem guten, alten Vater Abraham mit seinem Schlumpflied einen dermaßenen Chartbreaker zugetraut hätte? Was ist mit der naiv-drolligen Nummer "Weil ich ein Mädchen bin"? Gar nicht zu reden vom kindlichen Schnappi, dem kleinen Krokodil oder dem "Popcorn"-Song Anfang der 70'er Jahre.
Gut, viele von euch wollen wohl getrost auf solches Zeug verzichten, aber Kreativität lebt nun mal auch von krassen Einfällen. Es besteht doch die Gefahr, dass HSS nicht erst eingesetzt wird, um Songs zu analysieren, sondern schon, um Liedchen zu machen.
Was, wenn ein durchgeknallter Radio D.J. erst gar nicht mehr die Chance hat, eine obskure B-Seite zu spielen, weil es sie gar nicht mehr gibt? So einen Song, der sonst plötzlich und gänzlich unerwartet ein Hit geworden wäre, obwohl es ihm niemand zugetraut hätte. Weil er beispielsweise einen Zeitgeist angesprochen hätte, der absolut neu war und daher von der Industrie bisher unbeachtet blieb? Wenn der Song deswegen nie aufgenommen wurde, weil dieser neue, veränderte Zeitgeist in McCreadys Hit Prognose Maschine noch gar nicht eingespeist wurde.
Versinken wird dann noch mehr in vorformatierten Mainstreammelodien, ohne jegliche Reibungsfläche, nur noch dargeboten von halbsexuellen und brustrasierten Jünglingen, dürren Glitzerhühnern mit elektronisch aufgepeppten Piepsstimmchen und verwirrten Megastars, die megagehypt werden?
Vielleicht ja auch nicht!!!
Was hat das Ganze nun mit Rockmusik zu tun? Wenig sollte man meinen, denn viel von unserem Kram findet sich eh nicht in den Charts wieder. Sie wird wohl immer eine Nische bleiben für andere Konsum-und Käuferschichten. Aber notgedrungen muss auch sie nicht von McCreadys 'Superhitfindungssoftware' verschont bleiben.
Auch die Rockbands sind für die Musikindustrie in erster Linie Produkte. Sie wollen die Bands und ihre Musik verkaufen und daraus einen Gewinn erzielen. Ist es wirklich so absurd, dass auch für Rockmusik Muster oder Selling-Booster-Benchmarks entworfen werden? Schließlich soll HSS das Rating unabhängig vom Genre vornehmen können. Mit gleicher Ergebnissicherheit! Kann man sich vorstellen, dass es auch in der Rockmusik Kriterien und Strukturen gibt, die einen Verkaufserfolg garantieren? Aber sicher!
Melodie, Harmonie, Tempo, Tonlage, Taktmaß, Rhythmus, Soundfülle, Brillanz und so weiter, gibt es auch (fast) alles in den diversen Rockgenren.
Natürlich wurde schon immer versucht, Erfolge zu wiederholen. Die leider auf so vielen Rockscheiben zu findenden Rockballaden werden wohl nicht immer nur aufgenommen, weil sich ein geistreicher Songwriter den Herzschmerz von der Seele komponieren wollte. Die Bands versuchen es immer wieder mit Balladen, weil die sich, meist mit mehr Glück als Verstand, als Ultraseller entpuppen können. "Still in Love With You" von den Scorpions, "More Than Words" von Extrem oder "To Be With You" von Mr.Big sind nur einige wenige Beispiel. Wenn eine Band mal erst mal einen Balladenerfolg verbuchen konnte, wird es besonders schlimm. Auf jeder neuen CD wird es dann mindestens einmal schnulzig. Als balladenverseuchte Beispiele sind mal wieder die Scorpions, aber auch Nazareth zu nennen. Auch sind im Rockbusiness durchaus Künstler zu Gange, die zumindest wie gecastet wirken. Man denke nur an den Teen-Man Kid Rock oder den androgynen Front -Es von Him. Ihre Plagiate und Abziehbilder, die ein paar Monate später den Rockolymp erklimmen wollen, sind es aber garantiert.
Ein paar Sekunden des Nachdenkens genügen schon. Augenblicklich fallen dem Musikfan Kriterien ein, die mit der Menge der abgesetzte Stückzahlen und dem gesamten Banderfolg korrelieren könnten.
Heavy Metal:
Geschwindigkeit des Gitarrensolos
Anzahl der ausgekotzten Grunzlaute
Zeitdauer der Doublebass-Phasen
Verwendungshäufigkeit der Worte 'Satan', 'Fuck' und 'Kill'
Southern Rock:
Häufigkeit der Worte 'Well', 'General Lee', 'Redneck' und 'Hell Yeahr'
Anzahl der Double Leads pro Songabschnitt
Vehemenz der Slideguitar-Einsätze
Anzahl der Stücke mit einer Spielzeit von über 8 Minuten (positive Selektion)
Progressive Rock:
Quote der anwesenden Studenten pro Gig
Anzahl der Stücke mit einer Spielzeit von unter 20 Minuten (negative Selektion)
Rhythmuswechsel pro Minute als standardisierte Kennzahl (RHYMWPM)
Quantität der nicht ins normale Harmonieschema passenden Akkorde
Country und Country-Rock:
Relation des Stimmvolumens in Dezibel mit der Oberweite der weiblichen Sängerin in Inches
Verwendungshäufigkeit der Worte 'Nashville', 'Tennessee' und 'USA'
Quote der Oliba - Träger in der Band (positive Selektion)
Quote der farbigen Bandmitglieder (negative Selektion)
Punk:
Anzahl der gleichen Akkorde pro Longplay-CD (positive Auswahl)
Anzahl verschiedener Akkorde pro Longplay-CD (negative Auswahl)
Klirrfaktor des Mikros bei den gequälten Schreien des sogenannten 'Sängers'
Quote der vergeblichen Stimmversuche der Gitarre im Studio
Vielleicht wird es ja doch nicht ganz so schlimm. Mit der Musik ist es wie mit der Sprache. Eine zu starke Reglementierung ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Neue Stile, neue Einflüsse, neue Sounds und neue Ideen werden immer wieder entstehen. Erst sind sie Underground. Irgendwann werden sie schließlich von der Industrie entdeckt und abgeschöpft. Aber zu diesem Zeitpunkt hat der Underground bereits Neues ausgebrütet. Krasseres, Härteres, Schnelleres, Subversiveres oder einfach nur Anderes. In diesem Regelkreis hatte die Kreativität aber bisher immer die Nase vorn und das wird sich auch nicht ändern. Wie sollte es sonst möglich sein, dass es ein Klingelton bis in die Charts schafft?


Olli "Wahn" Wirtz, 15.08.2005