Colosseum / Valentyne Suite
(Deluxe Expanded Edition)
Valentyne Suite Spielzeit: 90:29
Medium: Do-CD
Label: Sanctuary, 2004 (Vertigo 1969)
Stil: Art/Jazz Rock, Blues


Review vom 26.11.2006


Manni Hüther
Colosseum wurde 1968 von Jon Hiseman und dem 2004 leider verstorbenen Dick Heckstall-Smith gegründet. Nach dem Split der Graham Bond Organisation spielten beide bei John Mayall in dessen Band Bluesbreakers, die üblichen musikalischen Korsette wurden ihnen wohl dort zu eng und mit Mayalls bekanntem autoritären Gehabe kam speziell der ebenso mit Machtgelüsten ausgestattete Hiseman nicht zurecht.
Jon und Dick wollten zu neuen Ufern aufbrechen, und sie konnten mit Dave Greenslade (keyboards), Jim Roche (guitar) und Tony Reeves (bass) versierte Mitstreiter für sich und ihre Idee gewinnen. Ihr Erstling "Those Who Are About To Die" wurde beachtet und respektiert, das Album schaffte immerhin Platz 15 der der Billboard-Charts. Noch während der Sessions heuerte James Litherland für Jim Roche bei der Band an.
Der spielte dann auch auf fast allen Tracks der ersten Platte, wurde aber nach den USA-Gigs, noch vor der Veröffentlichung der "Valentyne Suite" und der geplanten Tour im November, rausgekegelt. Sein Stil war Hiseman zu bluesbeeinflusst. Das Album selbst veränderte den Bekanntheitsgrad der Band schlagartig. Auch wenn wiederum 'nur' die selbe Chartposition errungen werden konnte, waren die Ohren in Europa (s. unten) von dem Longplayer mehr als angetan. Als der Mensch zum ersten Mal den Mond betrat, konnte auch Jon Hiseman nicht anders, als dieses Major-Event der Menschheitsgeschichte im Innenteil der im November erschienenen LP zu kommentieren: (»These sleeve notes were completed just as Neil Armstrong took one small step for man, but a giant leap for mankind.«).
Seit diesem Release der Expanded Edition wissen die Fans in Europa, dass die "Valentyne Suite", so wie sie seit der LP-Veröffentlichung bekannt war, in dieser Form ursprünglich gar nicht existierte. Seit jeher denkt man ja auf dem alten Kontinent, das 3. Thema sei "The Grass Is Always Greener". Das ist aber eigentlich nicht richtig und hat mit der Veröffentlichungspolitik des Labels zu beiden Seiten des Atlantiks zu tun. Sehr verwirrend, aber auch spannend das Ganze, vor allem für Zeitgenossen wie den Rezensenten, der ja das Album seit seinem Erscheinen im November 1969 als Bestandteil seiner musikalischen Sozialisation anerkennt.
Das Booklet erläutert die Situation und zitiert Jon Hiseman mit den Worten: »Die ersten beiden Teile wurden zusammen mit "Beware The Ides Of March" als Abschluss der Suite geschrieben. So wurde sie ursprünglich aufgeführt im Sommer 1969 in den USA veröffentlicht. Da aber "Beware The Ides Of March" schon auf der ersten LP in Europa zu finden war, wurde für die europäische Version der "Valentyne Suite" eben "The Grass Is Always Greener" als 3. Thema verwendet.«
Ach du Schreck... meine eigene Musikgeschichte wird auf den Kopf gestellt ;-)
Aber es kommt ja noch doller... die Platte, die Anfang 1970 als "The Grass Is Greener" in Amerika erschien, hat (in stark abgedunkelter Form) das Cover der europäischen "Valentyne Suite" und viele Songs der beiden ungleichen Schwestern überschneiden sich. Fest steht nur, dass die ersten LPs der Band auf beiden Kontinenten jeweils mit teilweise erheblich voneinander abweichendem Inhalt auf den Markt kamen.
Kommen wir nun zur uns bekannten Platte, die man nach allen Maßstäben ja nur als Meisterwerk bezeichen kann. Ein Werk mit zwei Gesichtern, die beide ihre Berechtigung haben und es über den zum Zeitpunkt der Aufnahme herrschenden Standard erhebt. Hier wurden Grenzzäune niedergerissen, Rockmusik schon in ihrem fast noch embryonalen Stadium durch diese Band um Dimensionen erweitert. Colosseum hatten hier eindeutig Vorbildfunktion; viele Interpreten ließen sich von dieser Musik dazu inspirieren, ähnliche Wege zu gehen.
"The Kettle" eröffnet das Album mit einem harten Riff und tollen Hooks, hier rockt es gewaltig im unvergleichlichen Colosseum-Groove. Klasse Solo von James Litherland! Das folgende "Elegy" beglückt den Zuhörer dann mit der vom Jazz beeinflußten Seite der Band mit dem gefühlvollen Saxophon-Solo und einem passenden Streicher-Arrangement. Wiederum überzeugt Litherland, diesmal als Sänger, der die Stimmung des Songs stimmlich perfekt umzusetzen weiß. Überhaupt kann er bei all seinen Gesangsparts der Platte gefallen, das passt einfach.
Tief im Blues steht - Nomen est omen - "Butty's Blues", mit abwechselnd heftigen Attacken und einschmeichelnden Tönen vom Blech sowie den oszillierenden Keyboardsounds von Dave Greenslade, über all dem wiederum eine hörenswerte Gitarrenorgie von James 'Butty' Litherland. Die erste Albumseite endet mit einem Song, der für meine Ohren immer etwas strange war, mit einem verzerrten Drum- und Keyboardgemisch abrupt endend.
Und dann kommt SIE, die berühmteste Suite der Rockmusik, mit ihrer Sonatenform. Im Vorjahr (1968) nannten die Beatles eine LP "Magical Mystery Tour". Wenn aber zu jener Zeit wirklich ein Song oder eine Platte einen solchen Namen verdient hatte, was es sicherlich die "Valentyne Suite". Das dreiteilige, fast 17 Minuten lange Stück ist pure musikalische Magie. (Eine Aussage, die ich identisch und auch vollkommen zu recht bei zwei Titeln der Colosseum Live gemacht habe).
Der Beginn mit den heftigen Schlagzeugstakkati, dem durchsetzungsfähigen Bass, den einfallsreichen Klängen der Hammond und einem eingearbeiteten Gitarrensolo, über dem die bekannten Tupfer des Vibraphons liegen (das alles schon innerhalb der der ersten 90 Sekunden!) ist so in prallen Farben von Musikalität gezeichnet, dass Worte das gar nicht beschreiben können. Hier kann man ohne mit der Wimper zu zucken, angefangen vom Beherrschen der Instrumente, über das Layout der zugrundeliegenden Struktur bis hin zur Umsetzung durch die jungen Musiker, eigentlich nur ein sehr hochgestochenes Wort benutzen: Genial!
Das erste Thema, "January's Search", wird vom teilweise ruhigen, dann wieder wilden Hammondspiel von Dave Greenslade beherrscht, in den Schnittstellen der Abschnitte innerhalb des Themas dominiert Jon Hiseman mit mächtigen und treibenden Drumsounds, die das Timing geschickt variabel gestalten. Auch das zweite Thema, "February's Valentyne", wird von Dave Greenslades ausgefeilten Keyboards und der überschäumenden Spielfreude der Band bestimmt. "The Grass Is Always Greener" überzeugt mit den virtuosen Soli von Saxophon und Gitarre. Insgesamt von allen fünf Musikern eine atemberaubende Leistung!
Die "Valentyne Suite" ist ohne jeden Zweifel den absoluten Top-Stücken der gesamten populären Musik zuzuordnen. Jeder, der gerne und unvoreingenommen Musik hört, sollte diese rund 1000 Sekunden intensivster, dabei vollkommen ungekünstelter Mixtur aus Blues, Jazz, Rock und Klassik kennen(lernen). Seit ihrem ersten Erscheinen im Winter 1969 ist diese Platte nie alt geworden oder würde gar den Hörer ermüden. Im Gegenteil, sie gewinnt mit jeder weiteren Hörsitzung. Klarer Fall von Album für alle Ewigkeit! Musik am Maximum!
Nun noch ein paar Worte zur US-Ausgabe, die hier ja komplett beiliegt, und dazu gehen wir nochmal in den Herbst 1969 zurück, als James Litherland ging bzw. gegangen wurde. Jon Hiseman hatte sich auf Dave 'Clem' Clempson von Bakerloo als Gitarrist festgelegt, da der weniger dem Blues, sondern mehr der härten Seite zugewandt war. In Europa kam jedoch die Platte auf den Markt, die komplett mit Litherland eingespielt war, deswegen hatte man für das amerikanische Pendant einige neue Stücke aufgenommen, um Clem Clempson Gelegenheit zu geben, sich mit der Band auf einer Produktion vorzustellen. Damit waren nun in den USA nur noch drei Songs mit Litherland auf der Platte. Bei den anderen Tracks hielt Clempson das Brett, zusätzlich hat er laut Jon Hiseman bei "The Grass Is Greener" die Parts seines Vorgängers overdubbed.
Die beiden Titel "Lost Angeles" und "Rope Ladder To The Moon" gefallen als Blaupausen, aber erst auf "Colosseum Live" sollten die als wirkliche Kracher erscheinen. "Jumping Off The Sun" ist eine mittelprächtige Rocknummer, die wie die beiden eben schon genannten Songs den Gitarrenstil von Clempson bekannt machte. Das andere neue Stück ist eine fünfeinhalbminütige Jamsession über das Thema aus Maurice Ravels "Bolero". Der wurde erstaunlicher Weise in jenen Tagen recht oft in der Rockmusik gehört, auch ein Joe Walsh ließ Teile dieses klassischen Stücks in Vinyl pressen.
Von den beiden Bonustracks, die aus John Peel-Sessions stammen und von der BBC übertragen wurden, macht vor allem "Arthur's Moustache" eine tolle Figur mit seinem herrlichen Basssolo von Tony Reeves. "Lost Angeles" ist schon eine Ecke packender als auf der amerikanischen Studioplatte, aber auch diese Version kann die total überlegene Darbietung der Liveplatte nicht erreichen.
Für mich persönlich war die "Valentyne Suite" der Auftakt zu einer bis heute nicht enden wollenden Odyssee, Klang nicht nur als Geräusch (im Rauschen eines Kofferradios, dem damaligen Standard), sondern perfekt in Stereo hören zu können. Bei einen Kumpel auf der Anlage der Eltern unter einem Grundig-Kopfhörer hörte ich sowas (Stereo!) zum ersten Mal. Es war eben 1969, die heute als selbstverständlich empfundene Elektronik war Lichtjahre entfernt. Stereogeräte hatte weder ich noch einer meiner Freunde... aber die Saat von gutem Klang war gesät.
Umso enttäuschter darf man sein, dass das von Sanctuary angegebene Mastering von 'Masterpiece' wohl in nichts anderem bestand, als den Pegel etwas zu erhöhen. Warum um Himmels Willen hat man ausgerechnet DIESER Platte kein anständiges Remastering gegönnt? Der Sound ist, wie schon bisher, leicht verschmiert, hier MUSSTE man einfach mehr machen.
Ein Negativbeispiel, wie man nicht mit einem solchen Schatz umgehen sollte! Trotzdem aber anhörbar. "The Grass Is Greener" klingt gegenüber der Suite sogar schlecht, kein Druck und spitze, teilweise aggressive Höhen mit insgesamt verfälschtem Klangbild. Auf etwa diesem Niveau liegen auch die beiden Bonustracks. Schade! In diesem klanglichen Zustand ist es schon eine Frechheit, dies als "Deluxe" zu bezeichen. "Expanded" hätte gereicht, mehr ist es nicht. Vielleicht schafft es mal ein kleiner, feiner Spezialist, dieses maßstabsetzende Meisterwerk liebevoll zu restaurieren.
Trotz der klanglich nicht auf angemessenem Topniveau angesiedelten Technik muss alleine wegen der Musik das letzte Wort hier lauten: Kaufen!
Line-up:
Jon Hiseman (drums)
Dick Heckstall-Smith (tenor & sopran saxophone)
Dave Greenslade (organ & vibes)
Tony Reeves (bass)
James Litherland (guitars & vocals) [auf "Valentyne Suite" und #3,#4,#7 auf "The Grass Is Greener"]
Dave 'Clem' Clempson (guitars & vocals) [#1,#2,#5,#6,#8 auf "The Grass Is Greener"]
Tracklist
CD 1: Valentyne Suite (Europa)
01:The Kettle (4:30)
02:Elegy (3:14)
03:Butty's Blues (6:47)
04:The Machine Demands A Sacrifice (3:54)
05:Valentyne Suite
  I. Theme One:January's Search (6:25)
  II. Theme Two:February's Valentyne (3:33)
  III. Theme Three:The Grass Is Always Greener (6:55)

Bonustracks:
06:Arthur's Moustache (6:32) [live]
07:Lost Angeles (8:38) [live]
CD 2: The Grass Is Greener (USA)
01:Jumping Off The Sun (3:39)
02:Lost Angeles (5:34)
03:Elegy (3:15)
04:Butty's Blues (6:47)
05:Rope Ladder To The Moon (3:45)
06:Bolero (5:31)
07:The Machine Demands A Sacrifice (2:54)
08:The Grass Is Greener (7:35)
Externe Links:
Chris Farlowe
Colosseum bei Wikipedia

Anm.: Manche der Daten bei Wikipedia sind nicht richtig. Das erste Album erschien nicht bei Vertigo, sondern bei Fortuna. "The Grass Is Greener" wurde nicht 1969, sondern 1970 in den USA veröffentlicht. Wer Lust dazu verspürt, kann es in der freien Enzyklopädie jederzeit ändern.