Kin Ping Meh
Kin Ping Meh
»Le' me tell ya a little story 'bout two kids livin' in the swamps...«, erzählt Tony Joe White 1969 in seinem 'Must-have'-Hit "Roosevelt and Ira Lee". Analog dazu will ich auch eine kleine autobiografische Geschichte liefern, um den Lesern mein Entdecken von Kin Ping Meh 1971 darzustellen.
1967/1968 hatte ich mich mit dem sich seinerzeit zur Pandemie ausbreitenden Rockvirus zwar schon infiziert, war aber natürlich anderseits auch 1969 noch zu jung, um mich auf richtigen Rock-Events rumzutreiben, ich hätte aber ja auch nicht die erforderlichen finanziellen Mittel gehabt. Aber es gab eine Menge Ersatz, und der war alles andere als zweitklassig, so weit entfernt vom Schülerband-Image wie der äußerste Stern der Galaxis.
Jeder wollte progressiv sein, so auch der jüngere Teil des Lehrkörpers meiner Schule und damit lag die Antwort in Rockkonzerten in der Aula des Gymnasiums, bei denen eben lokale oder auch überregionale Bands auftraten. Eine dieser Formationen hieß RS Rindfleisch (!) - die vor allem im nahen Saarland sowas wie Kultstatus genossen und auch als Support von Größen wie Edgar Broughton Band und Moody Blues angeheuert wurden.
Von der Optik dieser Musiker mit ihren langen Haaren (die zu dem Zeitpunkt alles andere als selbstverständlich waren), über deren PA mit Marshall Stacks und dem Einsatz von Strobe-Lights, den Gibson Les Pauls bis hin zu den dicken Joints, die kaum verhohlen zwischen den Musikern im Umlauf waren...das war schon was, im Jahr der ersten Mondlandung!
Unvergesslich "In-a-gadda-da-vida", gerade ein Jahr nach der Veröffentlichung durch den 'Eisernen Schmetterling', live und laut zu hören. RS Rindfleisch erlaubten sich keinerlei qualitativen Unterschied zu Iron Butterfly...und wir waren in Ehrfurcht wie erstarrt. Soweit die unvergesslichen Erinnerungen.
Nebenbei bemerkt, einer der 'Rindfleisch'-Leute hat es dann tatsächlich ins Rampenlicht geschafft: Hermann Erbel bediente später äußerst erfolgreich als Hermann Rarebell die Drums bei den Scorpions und wurde damit zum Millionär.
Mannheim als Mittelzentrum war auch nicht weit entfernt, und dort formierten sich ein Jahr später der leider mittlerweile verstorbene Kalle Weber (Drums), Torsten Herzog (Bass), Frieder Schmitt (Keyboards), Willie Wagner (Guitars, Mouth Organ) und Werner Stephan (Vocals, Acoustic Guitars) zur angesagten Rock-Truppe Kin Ping Meh. Der Name stammt vom gleichnamigen, erotisch durchzogenen, uralten chinesischen Sittenroman.
Nachdem im Frühjahr 1971 Kin Ping Mehs erste Single "Everything's My Way" zum ersten Mal im Radio lief, war auch ich als mittlerweile 16-jähriger zwischen Bewunderung und Verzückung hin- und hergerissen. Welch geiler Song, der in meiner persönlichen Hitparade dieses erfolgreichen Rockjahres mit dem ebenso unsterblichen "Brown Sugar" von den Stones konkurrierte! Im Winter des selben Jahres erschien dann dieses von den Rattles-Mitgliedern Achim Reichel und Frank Dorstal produzierte und von Conny Plank technisch betreute Debütalbum mit einem wirklich ansprechenden Cover-Artwork.
Obwohl Kin Ping Meh heutzutage rückwirkend zu oft ins Krautrock-Korsett gezwängt wird, ist dies meiner Meinung nach zwar verständlich, aber diese Schublade ist einfach zu klein. Sicherlich ist die Band auch auf mehreren Krautrock-Samplern vertreten, aber für diese Klassifizierung reichte es wohl schon, eine (west-)deutsche Band zu sein und zu Beginn der 70er existiert zu haben. Auch wenn der Stempel 'Krautrock' im englischen Sprachraum als Ritterschlag gewertet wird, war Kin Ping Meh mehr als das: Es war eine progessive Rockformation, mit mehr Betonung auf Rock als auf Kraut. Die erste LP zeigte mindestens so viel Prog-Rock wie der damals bisher erschienene Output von Yes, deren Platten bis dahin hierzulande weitgehend unbekannt waren.
Neben Kin Ping Meh gab es 1971 sicher auch andere deutsche Bands in dieser musikalischen Gewichtsklasse. Aber auch das erste Album von Lucifer's Friend zeigte nicht diese abgeklärte Stilmischung, bei Kin Ping Meh war eben nicht alles eindimensional heavy, gerade die ruhigeren Songs zogen den Fan ebenso in ihren Bann. Der frühe Output von Epitaph oder auch Jane kann eventuell als Vergleich dienen, ohne jedoch die manchmal recht komplexen Songstrukturen des Debüts der Mannheimer Formation zu bieten.
Das fast 10-minütige "Fairy Tales" startet verhalten, eine orientalisch anmutende Gitarre legt sich über das Bassthema, die Keyboards setzen ein und dann wechselt nach einem fantastischen Hook die Ampel von gelb auf grün...die Reise in ein hervorragendes Album hat begonnen. Hier geht die Post ab! Die lässige Stimme trägt das ihrige zum guten Eindruck bei. Als Dokument seiner Zeit ist dieser Titel jederzeit erkennbar, dafür sorgen schon die langen Improvisationen der Keyboards und das Schlagzeugsolo (dessen Klang raffiniert durch einen Phaser verzerrt wurde).
Das folgende "Sometime" zeigt dann die gefühlvolle Seite dieser Band, und vor allem das perfekt dazu passende Gitarrenspiel setzt nachhaltige Glanzpunkte. Ganz besonders geglückt ist das genial hingerotzte (im postitiven Sinn!) "Too Many People", das von der akustischen Gitarre angetrieben wird, das von der Harmonika und dezenten Orgeltupfern durchzogen ist und mit rhythmischen Geklatsche hinter dem mehrstimmigen Gesang hypnotisch wie eine Hymne rüberkommt. Das hat ganz große Klasse! Sowas von einer deutschen Band 1971? Eigentlich unfassbar.
Die Aussage des Songs ist natürlich verständlich: Im Spießbürger-Deutschland jener Zeit wurden die Musiker wegen ihrer langen Haare regelrecht angegafft. Ich selbst hatte damals mit diesem Phänomen auch zu kämpfen. So kannte man die Deutschen, oder? Hat sich was geändert? Not quite sure, let's hope so.
Mit seinen ausgedehnten Gitarren- und Keyboard-Intermezzi schießt "Don't You Know" wieder eine volle Rock-Breitseite ab. Rock? Na ja, doch wohl eher Heavy-Prog, ebenso wie "Drugsen's Trip", das sich allerdings auch durch eine ruhigere Phase als Verschnaufspause auszeichnet. Beide Songs sind zudem mit einer nicht zu knapp gemessenen Ladung 'Psychedelic' abgeschmeckt.
"Everything" ist die lange LP-Fassung des Single-Hits "Everything's My Way" mit jedoch total anderen Lyrics. "My Dove" fällt wieder auf die langsame Gefühlsschiene zurück, während "My Future" als Schlusspunkt des Original-Albums leicht poppig verspielt ist. Eins kann man noch anmerken: Die Sequenzierung ist wirklich perfekt; schnelle, härtere Tracks wechseln sich mit den langsameren Songs so geschickt ab, dass zu keiner Zeit irgendeine Langeweile entsteht. Dies ist ein Album mit atemberaubend sicheren Arrangements, das man ohne je zu ermüden komplett hören kann und sollte.
Auf dieser Ausgabe von Repertoire Records finden sich als Bonus noch die beiden Singles "Everything's My Way" und "Every Day" jeweils komplett mit ihren B-Seiten sowie die Singleversion von "Too Many People". Eine neuere Ausgabe kommt direkt von Polydor und bietet keinerlei Bonustracks. Der Interessent sollte sich also eher nach der Repertoire-CD umsehen, die es momentan im Handel nicht mehr gibt. Aber bei eBay besteht sicher die Chance, diese zu finden.
Der Klang ist für eine so alte Aufnahme trotz der suboptimalen Durchhörbarkeit gut und liegt leicht auf der satten Seite. Den Mixdown durch das hochkarätige Produzententeam kann man nur als ausgeklügelt und durchdacht bezeichnen. Einzig die ziemlich blassen Farben des ansonsten so schönen Covers können nicht recht gefallen (kein Vergleich zur Original-LP!), aber das ändert ja nichts am hervorragenden musikalischen Inhalt dieses zu recht als Kultplatte gehandelten Albums.


Spielzeit: 63:59, Medium: CD, Repertoire Records, 1998 (Erstveröffentlichung auf Polydor 1971)
1:Fairy Tales (9:49) 2:Sometime (5:47) 3:Don't You Know (7:27) 4:Too Many People (5:00) 5:Drugsen's Trip (5:49) 6:My Dove (3:34) 7:Everything (5:13) 8:My Future (2:45)
Bonustracks: 9:Everything's My Way (3:17) 10:Woman (4:09) 11:Every Day (4:11) 12:Alexandra (2:35) 13:Too Many People (3:50)
Manni Hüther, 9.7.2006
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