Octopus / Hart am Rand
Hart am Rand Spielzeit: 56:25
Medium: CD
Label: Sireena Records, 2011 (1981)
Stil: Deutschrock


Review vom 12.06.2011


Steve Braun
Mit "Hart am Rand" komplettiert Sireena Records Octopus' Diskographie als erstmalige CD-Veröffentlichung. Erstmals sind erfreulicherweise sogar zwei Bonustracks obendrauf gepackt worden. Als erneut lesenswert sind die exzellenten Liner-notes des Kollegen Detlef Kinsler zu erwähnen.
Mit dem vierten und letzten Album gingen die Frankfurter den mit dem Vorgänger Rubber Angel eingeschlagenen Weg konsequent weiter. Und erneut drehte sich das Personalkarussell: Sängerin und Gründungsmitglied Jennifer Hensel und ihr späterer Ehemann Winfried Kowalik mochten nämlich auf diesem vom Krautrock hin in Richtung NDW führenden Pfad nicht mehr mitgehen.
Was haben wir Fans der ersten Stunde nach Erscheinen von "Hart am Rand" 1981 kübelweise Häme über die Frankfurter Jungs gekippt. »Hubert Kah für Progressive« war noch eine der harmloseren Boshaftigkeiten, die der Band zeitgleich mit einem massiven Verlust der Anhängerschaft angeheftet wurden. Man unterstellte ihr zudem, im Rahmen der Neuen Deutschen Welle abkassieren zu wollen.
Heute, ziemlich genau dreißig Jahre später, sieht der Verfasser das deutlich differenzierter. Intelligenten Musikern wie Claus Kniemeyer, Werner Littau, Seppl Niemeyer & Co. muss klar gewesen sein, dass dem Hype um die grenzdebile NDW nur ein kurzes Strohfeuer beschieden sein musste. Ich denke vielmehr, dass sich Octopus im Deutschrock vom Schlag Lindenberg/Grönemeyer/Westernhagen etablieren wollte und dabei unterschätzt hat, dass die Abwanderung der 'alten' Fans niemals durch andere Käuferschichten kompensiert werden konnte.
Mit (hoffentlich) gereiftem Geist und Ohren sieht der Verfasser dagegen heute "Hart am Rand" gegenüber dem Vorgänger "Rubber Angel" als das wesentlich bessere Album an. Während letzteres auf halber Strecke zum kommerziellen Hard Rock stecken geblieben war, ist ersteres der konsequentere Schritt in Richtung Deutschrock gewesen! Natürlich sind auch aus heutiger Sicht einige gewaltige Rohrkrepierer auf "Hart am Rand" enthalten, aber mit dem Titeltrack, "Sie hieß Phyllis" und "Road To Road" sind ein paar echte Perlen zu finden, die wohl erst die Zeit - der berühmte Heiler aller Wunden - erstrahlen ließ. Die hinterlassenen Lücken konnten mit dem Österreicher Georg Klavinyi, der gitarristisch genau in 'Kowas' Kerbe hieb, und dem hervorragenden Sänger Michael Stein aus Wiesbaden großartig neu besetzt werden - und immer wieder ließ Werner Littau in kleineren Keyboardpassagen den charakteristischen Sound früherer Tage durchschimmern.
Back Cover Textlich gab man sich nun - dem Zeitgeist gemäß - deutsche Texte mit gesellschaftskritischer Grundstimmung, was allerdings, weil die Band jahrelang in die Rock-gegen-Rechts-Bewegung eingebunden war, durchaus authentisch rüberkommt.
Mit "Mitternacht" startet Octopus gleich mit einem Deutschrocker durch, der vor allem durch den knackigen Refrain zu gefallen weiß - Strophe und Bridge fallen dagegen gewaltig ab. Das später in der Maxi-Singleversion als Bonustrack auftauchende "Monster in der Geisterbahn" startet mit einem Klasse-Intro, das auch durchaus auf der The Boat Of Thoughts hätte Platz finden können, um dann in eine feiste Spider Murphy Gang-Attitüde abzugleiten. Der Mittelteil schwebt dann wieder in herrlich sphärische Klänge ab - was für ein grausamer, ohne jegliche Bindungskräfte zweigeteilter Song! "Bastard" ist ein ziemlich unverschämter "Mit Pfefferminz bin ich Dein Prinz"-Abklatsch. Nach diesem Tiefpunkt kann es definitiv nur besser werden...
Und es wird besser, und wie: "Hart am Rand" wäre die bessere Single gewesen - ein richtig knallhart-knackiger Hard-Rocker über die berüchtigten 'Beziehungskisten', bei dem Text und Musik eine überzeugende Symbiose eingehen. "Police lässt grüßen" ist eine ziemlich geniale Police-Persiflage, die zwar - ähnlich wie die "...Geisterbahn" - alte und neue Octopus-Klänge (hier ist es natürlich Reggae) vereint, hier 'passt' es aber und das obendrein gnadenlos gut. Der Text nimmt sich des Überwachungsstaates an und ist leider auch noch nach dreißig Jahren brandaktuell. Gleich noch mit "Nase voll" einen saustarken Hard-Rocker hinterher geschoben, der die altersgraue Matte des Verfassenden mächtig fönt - wow, die beste Nummer dieser Scheibe, auch weil hier Littau im Mittelteil erneut die 'alten' Octopusse zitiert. "Ich hör' Stimmen" ist eine Ballade komplett aus der Feder der Frankfurter Sängerin Doris Tangel, die kurzzeitig - leider erfolglos - versucht hatte, sich ins neue Octopus-Konzept einzubringen. Zwar liegt man mit dem Song voll im damaligen Reggae-Trend und damit heutzutage leicht daneben, allerdings 'zirpen' auch hier wieder die Keyboards und die Twinläufe auf der Gitarre sehr vertraut.
Warum wir Kritiker anno 1981 völlig falsch lagen, zeigt sich gerade bei dem mit sperrigem Titel versehenen "Verfolgungsjagd im Entlüftungsschacht". Das ist Deutschrock allererster Güteklasse! Littau drückt dem griffigen Hard-Rocker mit seiner Hammond den Octopus'schen Stempel auf. Der Text setzt sich mit der seinerzeit leicht hysterischen Terroristenhatz auseinander. Es folgt mit "Sie hieß Phyllis" - herrlich dieses Wortspiel zu Syphilis - eine den Hörer tief erschauern lassende Gänsehautballade.
Das Originalalbum wurde mit "Road To Road" genauso knackig beendet, wie es begonnen hatte. Littaus Hammond- und Mini Moog-Soli krönen auch diesen eingängigen Hard-Rocker.
Kommen wir zu den Bonustracks: "Land in Sicht" hätte man sich getrost sparen können, allerdings ist das Stück aus historischer Hinsicht (es war die B-Seite der Maxi-Single) unverzichtbar. Dieses schröckliche Geträllere mit peinlichen Elektro-Handclaps hätte auch ins Konzept von Hubert Kah, Andreas Dorau, Markus, Mau Mau, oder wie diese ganze Mischpoke hieß, gepasst. Als weitere Zugabe schiebt man die schon eingangs angekündigte Maxi-Version von "Monster in der Geisterbahn" nach. War die LP-Version entstellend zerrissen, so weiß diese Variante zu überzeugen, denn man beschränkt sich auf Synthesizersounds und die Ziel- und Käufergruppe der NDW - was zwar nicht viel besser, aber sehr viel stimmiger ist.
Wie ging es eigentlich mit Octopus weiter? Drummer Seppl Niemeyer hatte die Chance, bei einer der besten Hessen-Combos ever - nämlich Flatsch! - unterzukommen; klar, dass er sich diese Chance nicht entgehen ließ. Tastengott Werner Littau ging konsequent noch einen Schritt weiter und mit Hubert Kah auf Tour. Damit waren zwei weitere, eigentlich unersetzliche Gründungsmitglieder 'weg gebrochen'. Claus D. Kniemeyer versuchte noch kurzzeitig, den 'Karren am Laufen' zu halten, aber der Langzeitstudent musste irgendwann einmal sein Jurastudium beenden. So ging ein Flaggschiff der Frankfurter Rockszene sang- und klanglos unter...
Fazit: Anno 1981 zwei-, dreimal gehört, abgehakt und vergessen - wie gut, dass Mann sich weiterentwickelt!! Nach dreißig Jahren hat das Licht über die zweifellos vorhandenen Schatten gesiegt.
Line-up:
Werner Littau (keyboards)
Michael Stein (vocals)
Claus D. Kniemeyer (bass, vocals)
Seppl Niemeyer (drums, percussions)
Georg Klivinyi (guitars, vocals)
Tracklist
01:Mitternacht (3:11)
02:Monster in der Geisterbahn (5:19)
03:Bastard (1:49)
04:Hart am Rand (3:38)
05:Police lässt grüßen (4:25)
06:Nase voll (4:20)
07:Ich hör' Stimmen (4:50)
08:Verfolgungsjagd im Entlüftungsschacht (3:57)
09:Sie hieß Phyllis (4:36)
10:Road To Road (3:03)
11:Land in Sicht (4:52)
12:Monster in der Geisterbahn (6:15)
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