Alex Conti / Retrospective 1974 - 2010
Retrospectives Spielzeit: 66:17 (CD1), 69:11 (CD2), 72:09 (CD3)
Medium: CD-Box
Label: MiG, 2011 (1974 - 2010)
Stil: Blues


Review vom 28.10.2011


Jürgen Hauß
Man merkt, es geht auf Weihnachten zu! Nicht nur, dass in den Geschäften bereits die Lebkuchen u.ä. Weihnachtsgebäck oder aber ganze Weihnachtsmärkte dargeboten werden. Nein, auch die Plattenfirmen schmeißen zu dieser Jahreszeit gerne und verstärkt Compilations oder 'Best-Of-Alben' auf den Markt, ohne Rücksicht darauf, ob vergleichbare Produkte bereits in früheren Jahren veröffentlicht worden sind. Oder aber - noch subtiler - sie fügen den einen oder anderen 'Never-released-before'-Titel dazu, um auch gegenüber dem treuesten Fan noch ein Kauf-Argument hochhalten zu können!
Der Protagonist der vorliegenden "Retrospektive" ist diesbezüglich von jedem Verdacht befreit. Dies liegt wahrscheinlich aber in erster Linie daran, dass er in den vergangenen 40 Jahren, die diese Compilation nahezu abdeckt, nur bedingt als Solo-Künstler aktiv war, sondern vielmehr den 6-Saiter in den unterschiedlichsten Bands bedient hat, die man nicht unbedingt zusammen bringen würde. So bleibt dem kleinen Label MiG-Music der Verdienst vorbehalten, einen der größten deutschen Rock-Gitarristen durch eine Veröffentlichung zu würdigen, die dessen bisheriges Lebenswerk umfänglich abbildet.
Herausgekommen ist eine Dreifach-CD mit insgesamt 42 Aufnahmen, angabegemäß strikt chronologisch geordnet und - insoweit nachvollziehbar, dennoch aber ungewöhnlich - durchnummeriert: CD 1 enthält die Tracks 01-16, CD 2 enthält die Tracks 17-32, und die Tracks 33-42 finden sich auf der 3. CD wieder. Tatsächlich sind auch hier wieder einige "bisher unveröffentlichte, nie gehörte Studio- und Liveaufnahmen" (so der mitgelieferte 'Waschzettel') enthalten, aber angesichts des Unikat-Charakters der Zusammenstellung ist das - entgegen dem oben Gesagten - vorliegend okay.
Auf dem Cover des vierteiligen Digi-Paks steht Conti vor einer größeren Verstärker-Wand und ähnelt in seinem Aussehen (Schiebermütze, Vollbart, Zigarette im Mund, Wollpullover und Schal) sehr stark dem Blues-Gitarristen Roy Buchanan. Das passt! Während Letztgenannter oftmals auch als "The world's greatest unknown guitarist" bezeichnet wird, soll Alex Conti von dem Autor des Rock-Lexikons Siegfried Schmidt-Joos als "der wohl am meisten unterschätzte Musiker Deutschlands" bezeichnet worden sein. Diese Aussage steht nicht nur auf dem Waschzettel, sondern wird überall auch so zitiert. Im genannten Rock-Lexikon habe ich jedenfalls nichts dergleichen gefunden (obwohl das doch naheliegend gewesen wäre); in diesem Buch gibt es nicht einmal eigenständige Beiträge über den Protagonisten bzw. über die deutschen Rockbands Frumpy oder Atlantis. Sei's drum!
Öffnet man das Booklet, schaut einem Alex Conti von einem Foto aus dem Jahr 1969 - also noch vor dem Beginn des Zeitraums, den "Retrospective 1974-2010" abdeckt - entgegen, dafür aber in dem Alter, in dem er angabegemäß die Schule verlassen hat, um sich ganz dem Gitarren-Spiel zu widmen. Das andere Foto aus dem Jahre 2010 zeigt den aktuellen Conti. Die musikalische Biographie Contis ist hier bereits weitgehend dargestellt; vorliegend sind allerdings noch ein paar weitere Projekte berücksichtigt, mit denen Conti aktiv war.
Beginnen tut die "Retrospective" mit Contis Engagement bei Atlantis, das mit vier Aufnahmen (zwei Studio, zwei Live) dokumentiert wird. Das war Mitte der 70er Jahre deutsche Rock-Musik! Wenn man bedenkt, wie sich Rock-Musik seitdem entwickelt hat, klingt das aus heutiger Sicht ziemlich bieder. "Rock Me Baby" ist eine schöne Blues-Nummer, bei der Inga Rumpf so richtig rumröhrt. Dann kommt der erste Schock: Als Gitarrist bei Rudolf Rock & Die Schocker (die Namensgebung war seinerzeit eine Persiflage auf den Opern-/Schlager-Sänger Rudolf Schock, aber wer weiß das heutzutage noch?) sind wir plötzlich beim deutschsprachigen Rock'n'Roll dabei.
Und dann endlich die Formation, mit der Conti wohl auf ewig automatisch in Verbindung gebracht werden wird: Lake, die damalige deutsche Top-Formation, die auch außerhalb Deutschlands Erfolge feiern konnte. Hier gibt es vier Live-Aufnahmen, deren musikalischer Genuss bedauerlicherweise unter der verminderten Ton-Qualität leidet. Dies liegt daran, dass es sich um Aufnahmen handelt, die mittels eines einfachen Cassetten-Recorders gemacht worden sind. Dies gilt auch für die folgenden drei Aufnahmen eines Projekts namens Salt III. Ich muss das deswegen so umschreiben, weil weder im Waschzettel, in den Liner-Notes des ansonsten recht ausführlichen Booklets oder auf Contis Homepage etwas darüber gesagt ist. Zum Projektnamen fällt mir nur ein, dass es quasi die Fortsetzung der politischen Abrüstungsverhandlungen SALT bzw. SALT II sein könnte; zeitlich würde das passen, ansonsten ist es aber reine Spekulation. Musikalisch sind die drei Coverversionen (von den Allman Brothers, Hendrix und der Blues Band recht gut gelungen. Hier also jedenfalls eine unbekannte Seite Contis. Die Aufnahmen stammen aus dem Jahr 1981, also unmittelbar nach seiner Zeit als 'Polytoxikomane' (Multidrogist), wie Contis Biographie seinen damaligen Zustand beschreibt. Sein Gitarrespiel war jedenfalls einwandfrei.
Die erste Scheibe beschließen vier Aufnahmen von Contis erstem Soloalbum. Poppige Rocksongs - oder umgekehrt? Klingt ein wenig - insbesondere wegen des Gesangs - nach Supertramp.
"Continued" wird die "Retrospective" auf CD 2 mit drei Songs von Contis gleichnamigen zweiten Solo-Album. Falsett-Gesang und musikalischer Stil lassen das alles klingen wie Prince, Earth, Wind & Fire oder aber auch Bee Gees. Das war halt Mitte der 80er Jahre so angesagt! Ein deutlicher Stilwechsel erfolgt mit den folgenden Aufnahmen der Band Elephant, die ebenfalls mit einem Cassetten-Recorder Mitte der 80er Jahre im Hamburger Logo aufgenommen wurden. Wesentlich rockiger, teilweise auch Reggae-beeinflusst kommen die Tracks daher. Dass aber Alex Conti - zumindest zeitweise - bei Elephant mitgespielt hat, war wohl nicht nur mir bislang unbekannt; auch auf der HP der Gruppe findet sich kein diesbezüglicher Hinweis.
Richtiger Heavy-Rock bieten Anfang der 90er Jahre Rosebud; insbesondere der "White Noise Boogie" ist herrlich flott. Sehr unterschiedlich wiederum die Songs von Alex Conti's Electric Ballroom (benannt nach dem gleichnamigen Londoner Musikclub): Parallel zu seinem zu diesem Zeitpunkt bereits bestehenden Engagement bei der Hamburg Blues Band (dazu später mehr) werden hier Latino- wie Beat-Rhythmen dargeboten, und Alex Conti bezeichnet "Over Under Sideways Down" (ursprünglich von den Yardbirds) als die beste Cover-Version, die er je geschaffen habe.
Das Classic-Rock-Projekt Rockship führt Alex Conti wieder mit Inga Rumpf zusammen. Gradliniger, schnörkelloser Rock, da ist nichts dran auszusetzen. Außer: Warum der dritte vorliegende Rockship-Titel erst auf CD 3 gepresst worden ist, erschließt sich wirklich nicht. Musikalisch besser bei den anderen aufgehoben, wäre auch genügend Platz vorhanden gewesen, 'zusammen zu lassen, was zusammen gehört'!
Zumal mit den Aufnahmen der Hamburg Blues Band aus dem Jahr 2005 auch stilistisch ein neues Kapitel aufgeschlagen wird. Wie der Name schon sagt: Blues ist angesagt. Zunächst zwei knappe Live-Aufnahmen, kommt mit "Make My Day" mein absoluter Favorit der gesamten Compilation. Für einen Blueser, der auch vor Bläser-dominierten (Dick Heckstall-Smith) Fusion-Klängen nicht zurückschreckt, ist diese herrlich schräge, über 18-minütige Live-Aufnahme ein wirklicher Genuss; für andere ist der Titel vielleicht ein wenig zu Free-Jazz-lastig. Mir egal!
Herrlich - wenn auch völlig anders - "Berlin Blues", ein wahnsinnig schöner Slow-Blues. Eigentlich passt er in die ansonsten vorliegend eingehaltene Chronologie nicht, denn die Aufnahme stammt bereits aus dem Jahr 2000. Während die offizielle Veröffentlichung erst im Jahr 2008 erfolgte (in der Diskographie von Alex Conti auf dessen Homepage fehlt die Scheibe allerdings völlig), wurde die CD schon im Jahr 2006 von Joe auf RockTimes besprochen - weiß der Teufel, wo der die Pressung her hatte!
Über Rorymania, das Rory-Gallagher-Tribute-Projekt des deutschen Bluesers Richie Arndt, aus dem das vorliegende "Too Much Alcohol" stammt, muss ich nun wirklich nichts mehr sagen: eine tolle Interpretation einer faszinierend zusammengestellten Combo! (Mit Arndt, sowie dem weiteren deutschen Blueser Timo Gross hat Conti zudem im vergangenen Jahr ein weiteres tolles Album) eingespielt.
Keinerlei Angaben enthalten die ansonsten recht ausführlichen Liner-Notes (von dem u.a. für Good Times schreibenden renommierten Musik-Journalisten Uli Twelker) wiederum zu den Tracks 39-41 des Projekts Kaleidoscopia. Allerdings gibt es im Booklet noch einen weiteren Beitrag des ebenfalls für Good Times schreibenden Alan Tepper, der die folgende Musik zutreffend als "stoner rock at its finest" beschreibt. Weitere Informationen liefern die handschriftlichen Notizen zu den einzelnen Tracks - ich gehe davon aus, sie stammen von Alex Conti himself, auch wenn er darin von sich in der dritten Person schreibt - wonach es sich um ein Projekt des Schweizer Sängers & Songwriters Beatnik "gegen den vermeintl. Trend" handelt. Auf dessen Website findet man übrigens den Hinweis, dass er aktuell für November 2011 ein neues Album plant, auf dem wiederum Alex Conti dabei sein wird. Vorliegend sind drei Longplayer (zusammen rd. 32 Minuten) zu hören, von denen man die ersten beiden getrost ebenfalls dem Blues-Genre zuschreiben kann, während der dritte - rein instrumentale - Track wieder eher dem Segment Fusion/Experimentelle Musik (ein wenig
Klaus Schulze) zuzuordnen ist. Allesamt jedenfalls hörenswert.
Ähnlich wie jenes Stück läuft auch der Schlusssong der "Retrospective" ab: "Bei mir bist du schön" - ein jüdischer Swing, der im Jahr 1938 von den Andrew Sisters herausgebracht und seitdem unzählige Male gecovert wurde. Technisch brillant, musikalisch eher 'smooth', passt der Song irgendwie nicht zu Alex Conti.
Bedauerlich ist, dass das 2005er Album mit Lake The Blast Of Silence vorliegend keine Berücksichtigung gefunden hat. Hier wäre feststellbar gewesen, wie sich eine Band über die Jahrzehnte hinweg weiter entwickelt hat. Ebenso fehlt - obwohl mehrfach im Booklet angesprochen - ein musikalisches Dokument für die Zusammenarbeit Contis mit Herwig Mitteregger; für beides werden wahrscheinlich rechtliche Gründe verantwortlich sein; schade.
Abschließend stellt sich allerdings die Frage, wen die vorliegende Compilation ansprechen soll. Den Fan einzelner hier berücksichtigter Bands bzw. Projekte sicherlich nicht, da diese jeweils nur zu Bruchteilen Berücksichtigung finden. Ansonsten sind die Musik-Stile teilweise doch sehr arg auseinander, so dass das einzig verbindende Band der Gitarrist Alex Conti ist. Wer sich für ihn und sein bisheriges musikalisches Schaffen interessiert, bekommt mit dem vorliegenden Album einen umfänglichen Querschnitt.
Im Booklet deutet Conti an, dass es sich bei der vorliegenden Zusammenstellung um den ersten Teil seiner "Retrospective" handelt. Spannend dürfte sein, ob es eine Fortsetzung geben und wie diese ausgestaltet sein wird.
Tracklist
CD 1:
01:Atlantis: Ooh Baby
02:Atlantis: Son Of A Bitch's Son
03:Atlantis: Godfather
04:Atlantis: Rock Me Baby
05:Rudolf Rock & die Schocker: Teddybär
06:Lake: Down The Middle
07:Lake: Lost By The Wayside
08:Lake: Chasing Colours
09:Lake: Red Lake
10:Salt III: Dreams
11:Salt III: Fire
12:Salt III: Talk To Me, Baby
13:Conti: Nights On The Highway
14:Conti: Waterprotected
15:Conti: You're A Monster
16:Conti: Take Me As I Am
CD 2:
17:Continued: Under Arrest
18:Continued: Better Things To Do
19:Continued: The Way It's Gonna Be
20:Elephant: Sayonara
21:Elephant: Harvest For The World
22:Elephant: You Drive Me Crazy
23:Elephant: Addicted To Love
24:Rosebud: My Baby - Your Baby
25:Rosebud: Dynamite
26:Rosebud: White Noise Boogie
27:Rosebud: Keep Smiling
28:Electric Ballroom: You've Seen It All
29:Electric Ballroom: Over Under Sideways Down
30:Electric Ballroom: Wanna Be Your Mate
31:Rockship: Down To The Wire
32:Rockship: From The Sky
CD 3:
33:Rockship: Main Attraction
34:Hamburg Blues Band: Love Me Or Leave Me
35:Hamburg Blues Band: Make My Day
36:Hamburg Blues Band: Woza N Azu
37:Berlin Blues: Till Your Loving Makes Me Blue
38:Rorymania: Too Much Alcohol
39:Kaleidoskopia: Art Is
40:Kaleidoscopia: The Sea
41:Kaleidoscopia: Spectral Voyager
42:Shetar: Bei mir bist du schön
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