Unheilig / Als Musik meine Sprache wurde
(Die offizielle Autobiografie)
Als Musik meine Sprache wurde 288 Seiten
Gebunden
Medium: Buch
Erschienen im Verlag Riva
1. Auflage 2012
ISBN 978-3-86883-210-5
19,99 EUR (D)

Review vom 10.01.2013


Sabine Feickert
»Sänger aus der Gothic-Szene stürmt die Charts!« - Auf diese extrem vereinfachte Formel ließe sich auf Vier-Buchstaben-Zeitungs-Niveau die Geschichte des Grafen reduzieren. Wer's ein bisschen ausführlicher möchte, kann sich in seiner knapp 300-seitigen Autobiografie mitnehmen lassen in seine Geschichte, die er mit Hilfe seines Co-Autors Michael Gösele zu Papier gebracht hat.
Sie liest sich an vielen Stellen deutlich anders, als man es von Musikerbiografien so gemeinhin kennt. Wo es andernorts in den Proberäumen der ersten Schülerbands beginnt, geht der Graf weit in die Kindheit zurück, in die Zeit als er noch nicht unter seinem Sprechproblem litt. Irgendwann in der Grundschulzeit begann der Junge, der später als Unheilig-Sänger Hallen füllen sollte, Ausgrenzung und Druck zu erleben – so stark, dass er darüber verstummte.
In Folge dieser Erfahrungen findet er zur Musik als Ausdrucksmittel. Zunächst auf einer Heimorgel und mit Unterricht – deutsche Volkslieder. Die ihm nicht gefallen und ihn veranlassen, nach dem Üben in jeder freien Minute seine eigene Musik zu spielen. Nach etwa zwei Jahren ist sein Interesse am Unterricht endgültig erloschen, er spielt nur noch die Melodien aus seinem eigenen Kopf. Das funktioniert allerdings schon bald nicht mehr auf der Orgel, die verkauft und durch einen Synthesizer, einen Drumcomputer und ein kleines Mischpult ersetzt wird. Erste Aufnahmen auf Kassetten werden möglich, der Videorekorder des Vaters dient als Filmmusikarchiv, um sich die Soundtracks immer wieder anhören zu können. Alle anderen Hobbys müssen zurückstehen, der junge Graf konzentriert sich völlig auf seine Musik und nutzt sie, um Erlebnisse, Gedanken und Ängste zu verarbeiten. Und schöpft daraus so viel Kraft, dass er - zumindest zu Hause - wieder beginnt zu sprechen – über seine Musik natürlich. Schulisch läuft es auch nach dem inzwischen erfolgten Wechsel auf die Realschule zwar besser, aber nicht wirklich gut – zur Sprechstörung kommt auch noch eine Brille. Eine einzige Lehrerin schafft es, ihm Rückhalt zu geben, die anderen Lehrer lassen Spott der Klassenkameraden zu und geben ihm schlechte mündliche Noten wegen mangelnder Beteiligung am Unterricht. Dennoch gewinnt er an Stärke und beginnt wieder zu sprechen, überwindet sein Stottern weitgehend. Solche Phasen von Rückzug, Kraft gewinnen durch die Musik und anschließendes Wiederauftauchen ziehen sich durch seine Biografie wie ein roter Faden.
Um sich den Traum vom eigenen Studio erfüllen zu können, plant er als Zeitsoldat zur Bundeswehr zu gehen. Das beschert ihm einen Termin beim Rektor seiner Schule, der ihm erklärt, er sei nicht dafür gemacht, vor Menschen zu stehen und zu sprechen. Am Boden zerstört und wieder still geworden, gibt er seinen Plan mit der Bundeswehr und der Musik (vorläufig) auf und beginnt eine Ausbildung als Zahntechniker, die ihn aber nur unglücklich macht. Seinen Frust verarbeitet er über die Musik, der alte Plan Zeitsoldat wird wieder aktuell und dann auch tatsächlich umgesetzt. Der erste Sold geht für ein kleines Keyboard drauf, um auch unter der Woche in der Kaserne Musik machen zu können und bringt erste Erfahrungen, sich mit der eigenen Musik Respekt zu erspielen, mit sich. Auch diese ziehen sich wie ein roter Faden durch das weitere Leben des Grafen.
Noch während seiner Bundeswehrzeit nimmt er eine Demokassette auf, verschickt sie an 50 Plattenfirmen und erhält keinerlei Reaktion darauf. Der Frust lässt ihn deprimiert und dick werden, mit Sport holt er sich aus diesem Tief raus und speckt seine Musikerpläne mit ab. Für die Zeit nach dem Bund tritt eine Hörgeräteakustikerausbildung auf seinen Plan. Dabei entdeckt er das Singen (wieder), das er seit seiner Kindheit nicht mehr versucht hatte. Im zweiten Lehrjahr seiner Ausbildung nimmt er mit seiner ersten selbstproduzierten CD "Dreams And Illusions" von The Graf (Auflage 500 Stück) den zweiten Anlauf ins Musikbusiness. Im Eigenvertrieb verkauft er in der Berufsschule mehr als 100 Stück, verschickt wieder Musterexemplare an Plattenfirmen und erhält diesmal immerhin Reaktionen – Absagen!!
In einem Verzweiflungsakt sucht er die vermeintliche Plattenfirma 'New Planet Records' persönlich auf – inmitten einer Wohnsiedlung – und findet dort einen kleinen Zwei-Mann-Musikverlag vor. Mit einem der Musikverleger arbeitet er gemeinsam Songs aus, startet alle möglichen und unmöglichen Projekte, um damit die nächsten Absagen zu sammeln. Dennoch gibt er seinen Job als Akustiker auf, um Berufsmusiker zu sein – noch ohne konkrete Aussicht auf Einnahmen. Über den Kontakt zu einem Produzenten gelingt der erste Plattenvertrag, inklusive knebelndem Künstlervertrag zu besagtem Produzenten, aus dem er sich später wieder 'freikaufen' muss, um Geld mit seiner Musik verdienen zu können.
Mehr durch Zufall landet sein erster deutschsprachiger Titel "Sage ja" auf der CD, die er dem Produzenten und dem Plattenfirmeninhaber als Zwischenstand präsentiert und beide sind begeistert. Dem Grafen bleiben zwei Wochen, um vier weitere deutsche Songs zum dem Album beizusteuern, das später den Titel "Phosphor" tragen wird. Bei den letzten Gesangsaufnahmen wird dann ein Thema angesprochen, das in so ziemlich jeder 'normalen' Bandbiografie ziemlich am Anfang steht – Live-Auftritte. Bei der Vorbereitung dieses (angstbesetzten) ersten Auftritts, erfährt der Graf erstmals, dass es sowas wie eine Gothic-Szene gibt und man für ihn und seine Musik dort die größten Chancen sieht. Darauf wird Outfit und Image ausgerichtet und in diesem Genre erntet er seine ersten Erfolge – war aber genau genommen, der schwarzen Szene niemals selbst zugehörig. Im weiteren Verlauf seiner Autobiografie führt dieser Sachverhalt zu so mancher Episode, die beim Lesen schmunzeln lässt. Der Graf mit der begleitenden Rockband im klapprigen Tourbus mit Klapphockern im Laderaum – alle außer ihm, mehr oder weniger stark abgefüllt – da treffen Welten aufeinander. Im weiteren Verlauf seiner Karriere wird die Rockband durch Gitarrist Licky und Keyboarder Henning ersetzt, mit denen es auf der musikalischen und menschlichen Ebene besser passt.
Der weitere Aufstieg ist immer wieder von den oben angesprochenen roten Fäden gekennzeichnet und keineswegs so schnurgerade, wie es vielleicht erscheinen mag. Gesundheitliche Probleme durch Überlastung, 'Szenewächter', die ihm die Kommerzialisierung seiner Musik vorwerfen und andere Rückschläge zeichnen seinen Weg. Auf der menschlichen Seite macht er prägende Erfahrungen - ausgerechnet der frühe Tod eines guten Freundes, den er auf Puppenspiel mit "An deiner Seite" verarbeitet, verschafft ihm den ersten ganz großen Hit. Er engagiert sich sozial und nutzt seine Popularität auch für gute Zwecke. Eigentlich erschreckend ist es, zu erfahren, wie lang er brauchte, um mit seiner Musik annähernd das Geld zu verdienen, das er in seinem Beruf als Hörgeräteakustiker verdienen würde.
"Als Musik meine Sprache wurde" lässt den Leser ein paar Blicke hinter die Kulissen des Musikbusiness werfen. In erster Linie zeigt es jedoch den Grafen von einer menschlichen Seite und macht viel von seinem musikalischen Werdegang verständlich. Es kann Ansporn sein für junge Menschen, an ihr Ziel zu glauben und alles dafür zu geben. Auch wenn für mich selbst 'Unheilig hören' in der Ära "Puppenspiel" endet, hat mich 'Unheilig lesen' doch gefesselt und berührt.
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