Multi-Kulti gefällig?
Bitte, hier ist das perfekte und tief befriedigende Programm dazu.
Wahre kulturelle Verschmelzung kommt aus den Menschen selbst und sie funktioniert umso besser, je weiter sich die Politiker zurückhalten.
Baba Zula verbinden Kulturen und tragen zu gegenseitigem Verständnis bei wie kaum andere in der modernen Rockmusik und damit sind sie genau diejenigen, die wirklich Brücken bauen und Menschen verbinden. In diesem Fall vor allem die türkische Musik mit der westeuropäischen psychedelischen Rockmusik und das ist genau mein Ding.
Kein Wunder, dass sich die Jungs der weiten Welt zuwenden, kommen sie doch aus Istanbul, der Stadt auf zwei Kontinenten, wo seit Jahrtausenden die Kulturen aufeinander prallen, lange schon bevor das Christentum entstand. Es tut gut sich ab und an daran zu erinnern, dass uns – weit vor dem Aufbruch germanischer Völker bis hin zu unserer heutigen westlichen Dominanz – andere Gesellschaften um Jahrhunderte voraus waren. Ach ja, und ganz nebenbei lebe ich in Duisburg, der Stadt mit einer der anteilig höchsten türkisch-stämmigen Gemeinden in Deutschland. Logisch, dass man da zwangsläufig mit der Musik dieses riesigen Landes in Berührung kommt.
Ethnisch begründete Musik empfinde ich hinreißend, egal aus welchem Winkel der Welt sie auch stammen mag. Wenn sie aber frei genug und offen ist für etwas ganz anderes, dann muss dahinter ein wahrlich freier Geist schweben. Traditionelle türkische Musik verbunden mit psychedelischer Rockmusik, das begegnet mir nicht zum ersten Mal. Kirkbinsinek haben hier auch wundervolle Arbeit geleistet und ich kann nur noch einmal betonen, dass ich seit Kindertagen ein bekennender Freund türkischer und arabischer Harmonien bin, wobei das im Prinzip gleich ein Paradoxon herauf beschwört. Zumindest die traditionelle Sufi-Musik negiert Harmonien in der Musik und sieht einzig die Modulation der menschlichen Stimme als eine Art Lobpreisung Allahs. So tief traditionell sind wir hier glücklicherweise dann doch nicht orientiert und dürfen uns populärer Musik durchaus bewusst zuwenden, denn Baba Zula präsentieren uns gleich in der ersten gigantischen Nummer, "Kücük Kurbaga", ein Feuerwerk lebendig treibender Rockmusik. Und die ist echt geil und abgefahren! Ein Song, der gemäß dem Begleitmaterial von Osman Murat Ertel, dem Kopf der Band, für seinen Sohn komponiert wurde. Fröschie, was der Song sinngemäß bedeutet, ist sicher derjenige, der den hiesigen Psychedelikern am nächsten kommt. Die herrlichen Verzerrungen und fuzzigen Verrenkungen werden übrigens auf einer eigens gebauten elektronischen Saz gespielt. Wer erinnert sich noch an Alex Oriental Experience? Der leider viel zu früh verstorbene Alex Wiska spielte damals genau so ein Instrument und entdeckte die orientalische Musik aus dem westlichen Spektrum heraus, verknüpfte sie auf einzigartige Weise mit den Rhythmen des Blues und des Rocks. Quasi das deutsche Gegenstück zu Baba Zula.
Das Motto des Konzeptalbums lautet übersetzt »So natürlich elegant sein wie ein Tier«, eine Hommage an die Schöpfung – auch da findet sich ein Stück weit eine Parallele zu Kirkbinsinek. Das Herzstück des Albums bilden die beiden ersten Stücke, jeweils gut fünfzehn Minuten lang. Den Fröschie hab ich ja schon eingehender erwähnt.
"Sipa Dub" ist Suite-artig aufgebaut und setzt mehr als in der ersten Nummer auf orientalische Harmonien, aufgeteilt in unterschiedlich rhythmische Abteilungen, wo der oft fast geschriene Gesang eher originären Themen folgt, der Bass erst recht der türkischen Musik Tribut zollt, während eine fuzzige Gitarre hiesige ethnische Projekte in Erinnerung ruft. Aber auch hier ist es keine klassische elektrische Gitarre, es ist die elektrische Saz, die einst auch der Saiten-Magier und Weltenbürger David Lindley oft gespielt hat. Hintergrund des Songs ist übrigens eine Ode an einen Esel und sein Fohlen.
Wer Schmetterlinge und Vögel fliegen hören mag, der landet bei "Kelebekler Kuslar", einer wunderbar leichten Komposition, wo betörende Saiten-Töne über sinnlich östlicher Percussion schweben und ein Stückchen Indien zu vermitteln scheinen. Da ich Herrn Lindley bereits erwähnte, erinnere ich mich an meinen Lieblingssong von seiner frühen Band Kaleidoscope, "Taxim" vom Album "A Beacon From Mars". Auch David hat immer schon verstanden, was kulturelle Völkerverständigung bedeutet und er hat wie kaum ein zweiter das Einfühlungsvermögen für alle möglichen kulturellen Strömungen stets bewiesen. Ein wundervoller Musiker.
"4 Nal" ist eine Percussion-Nummer par excellence. Die vier Hufeisen scheinen ein sehr wildes und freies Pferd zu beschreiben, das über die endlosen Steppen Anatoliens rennt, den Ararat am Horizont und den Wind in der Mähne. "Tavus Havasi" (Pfauenstimmung) soll Osman Murat Ertel nach einem Strandspaziergang komponiert haben, weil ihn das Geschrei der Möwen an einen Pfau erinnert habe. Schreibt das Info-Zeugs. Vielmehr ist es jedoch ein retrospektiver und vielleicht auch melancholischer kurzer Rückblick in die eigene Geschichte, denn hiermit wird der erste Song der Band überhaupt aus dem Jahre 1996 neu aufgelegt. In ähnlich nostalgischem Geist beendet man die tierische Weltreise mit dem Wüstenlöwen, "Cöl Aslanlari", einer Nummer, die ebenfalls bereits vor mehr als 20 Jahren entstand, damals übrigens für eine Theater-Aufführung von "Der kleine Prinz", jener melancholischen Geschichte, die vor allem in den Staaten sehr populär ist und deren Zitate auch in moderneren Filmen immer wieder verwendet werden.
Ich weiß nicht, wer schon einmal die Musik von Özgür Baba im Internet gegoogelt hat, vermutlich nicht die meisten unserer Leser. Ein bärtiger alter Mann, der auf einem einfachen anatolischen Gehöft sitzt und musiziert. Hühner gackern im Hintergrund und eine kleine Katze lässt sich durch die Gesänge und irgendwie beruhigenden Klänge der Oud nicht von ihrem Schläfchen abhalten, bis im Hintergrund Kanonenschüsse dröhnen. Die Grenze zum Irak scheint nicht weit. Verschlafen zieht sie gemächlich von dannen. Der Zauber dieser Aufnahmen ist ungeheuer und ein bisschen scheint er auch in dem Geist dieses Projektes zu wohnen. Wohl bemerkt, Özgür Baba hat nichts mit Rockmusik zu tun, man könnte meinen, er habe nie davon gehört, wenn man sich dem Video hingibt. Und doch hängt beides miteinander zusammen. Ursprüngliche, authentische Musik als Wurzel kann überall hinführen, selbstredend und erst Recht in die Rockmusik. Genau diesen Geist verkörpern Baba Zula. Hypnotische Klänge zwischen ethnischen Sounds und psychedelischem Rock, betörend und einnehmend, aber oft eben auch voller mystischer Dynamik und treibender Rhythmik.
Für mich war diese Reise zwischen Okzident und Orient ein ungeheuer befruchtendes Erlebnis, fast wie eine transzendentale Erfahrung. Musik, die Sprache, die uns Völker verbindet. Eine höhere Erfahrung in einer Sphäre, die keine Nationalitäten kennt, wo der Groove uns eint und alle das gleiche empfinden, so fremd sie sich vermeintlich auch sein mögen. Dort, am Tisch der Götter der Musik, da sind sie eins, da verbinden sich Freude und Glück an gemeinsamer Gesinnung. Musiker würden diese Welt weit besser gestalten als Politiker, die sich an die wirtschaftlichen Interessenvertreter verkauft haben.
Aber, auch wenn man sich dieser Musik ohne orakelnde Symbolik nähern möchte wird man feststellen, dass Baba Zula schlichtweg eine geile Mucke in den Äther hauen. Für westliche und unvorbereitete Ohren sicher ein ungewöhnlicher Ansatz, aber ich kann nur jedem psychedelisch angehauchten Rock-Fan empfehlen, sich auf dieses Ereignis einzulassen. Und wer türkische oder arabische Musik nicht prinzipiell für sein Hörgefühl ausschließt, wird hier sehr viel Freude finden. Wieder mal eine tolle neue Erfahrung, die ich ohne RockTimes vermutlich nie gemacht hätte. So muss es im Leben sein und niemals anders.
Line-up Baba Zula:
Osman Murat Ertel
Mehmet levent Akman
Ümit Adakale
Periklis Tsoukala
Tracklist "Hayvan Gibi":
- Kücük Kurbaga
- Sipa (dub)
- Kelebekler Kuslar
- 4 Nal
- Tavus Havasi
- Cöl Aslanlari
Gesamtspielzeit: 55:37, Erscheinungsjahr: 2020



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