John Martyn war Zeit seines viel zu kurzen Lebens immer ein unterschätzter Musiker, das teilt er mit vielen anderen. Bei ihm hat es mich immer besonders bewegt. Vielleicht wegen seiner melancholischen Stimme, die den Weltschmerz gefangen zu haben scheint, vielleicht auch, weil ich so viele Platten von ihm habe, aber nur selten in der öffentlichen Wahrnehmung seinen Namen gehört habe. Wenigstens in unserem Archiv ist er mit einigen Platten vertreten.
Mit dieser Review möchte ich ergo meine eigene Schuld am stillen Dasein eines großartigen Künstlers tilgen, es war mir selten ernster ein Ziel denn jetzt. Und gleich stellte sich natürlich die nächste Frage, wenn man nicht auf ein allgemeines Portrait abzielt: Welche Platte stellt man in den Vordergrund? Bei einem Künstler, der selbst nie im Vordergrund stand und der danach wohl auch nie besonders getrachtet hat?
Am Ende habe ich mich für das Live-Album "Philentropy" entschieden. Dafür gibt es viele Gründe. Live war eh klar für mich, aber ich habe an die 10 Live-Kompilationen von John – "Philentropy" war indes meine erste. Damals, als es Internet noch nicht gab, war der uralte Plattenladen 'Die Schallplatte' in Duisburg einer der wenigen Vertriebe, die mir diese außergewöhnliche und in Deutschland so seltene Vinyl-Scheibe besorgen konnten. Und der Titel, eine verfremdete von Philantrophy, also Menschenliebe, scheint mir zur Musik von John Martyn besser zu passen als alle anderen Album-Titel. Vor allem aber steht dieses Album zwischen den Phasen im Schaffen des Künstlers, weist zeitgenössische Attribute auf und komprimiert frühe Meisterwerke in einer neuen Klangsprache, die uns die Zukunft weist, vor allem auf die nachfolgende Platte, "Sapphire", als mit "Fisherman’s Dream" oder der hinreißenden Interpretation des alten "Over The Rainbow" zwei wundervolle Nummern eingespielt wurden und ein wenig mehr Aufmerksamkeit über John Martyn herein brach.
Er war »ein elektrisierender Gitarrist und Sänger, dessen Musik die Grenzen zwischen Folk, Jazz, Rock und Blues verschwimmen ließ,« vermeldete The Times am 30.01.2009, am Tag, nachdem John Martyn, der als Ian David McGeachy im Südwesten von London geboren wurde, in Irland verstorben war. Gitarre spielen lernte er hingegen in Schottland bei einem traditionellen Sänger, was seine folkigen Wurzeln wohl erklärt.
John war Mitglied des britischen Ritterordens 'Order of the British Empire' für seine kulturellen Verdienste, was zeigt, dass man in seiner Heimat wohl sehr viel deutlicher verstanden hat, welch wundervoller Künstler da unterwegs war. Seine Songs spielen je nach Epoche mehr im Bereich des Folk (überwältigend dazu das Album Live At Leeds) oder Rock, stets aber mit vielen jazzigen Attitüden wie einem völlig los gelassenen, frei mäandernden Bass, der in der Musik von John Martyn eine prägende und auch für die Harmonien bedeutende Rolle spielt.
Getragen wird die Musik von dieser einzigartig wehmütig, melancholischen Stimme, die so einfühlsam und oft auch so aufgewühlt erscheinen mag – irgendwo zwischen den sanft, schwebenden Vocals eines Davis Sylvian und der verzweifelten Leidenschaft eines Tom Waits. Anfang der Achtziger, als unser vorliegendes Album entstand, hatten auch die Keyboards ihren Platz in Johns Musik gefunden und sich emanzipiert. Sanfte Klangteppiche und zarte, jazzige Soli, die niemals aufdringlich wirkten, begleiteten den Meister mit gebührendem Respekt. Neben Johns so tief beeindruckender Stimme hat er mich stets aber auch mit seinem außergewöhnlichen Gitarrenspiel am Haken gehabt. Er konnte ein ganzes Konzert mit der akustischen Klampfe spielen, aber wenn er, wie auf "Philentropy", die elektrische umschnallte, dann gewannen die Songs genau den rauen und kernigen Duktus, der so wunderbar mit den eher sanften Tastenklängen und dem verträumt taumelnden Bass interagierte. Johns Improvisationen auf der Elektrischen waren schroff und manchmal fast ein wenig anarchisch, eben weil er so herrliche Kontrapunkte zu setzen verstand. Wie gesagt, John Martyns Musik bewegte sich stets in einem Umfeld von Jazz.
"Philentropy" bietet somit einige Klassiker aus dem ersten Jahrzehnt von Johns Aktivitäten. Schon der Opener, "Make No Mistake", vom Album "Inside Out" vereint die bereits beschriebenen Attribute, eine Nummer voller Leidenschaft mit einem kurzen knackigen Solo und schon hier dem herrlich murmelnden Bass. Vor allem aber erscheint der Song im Gewand seiner Zeit und keinesfalls der Tage seiner Entstehung. Das eher sanfte "Don’t Want To Know" von "Solid Air" gehört nicht zu Johns Live-Standarts und schenkt eine leicht besinnliche Meditation. Eher ungewöhnlich, dass sich die Keyboards hier zu einem richtigen Solo erheben, meist bleiben sie schmeichelnd und zurückhaltend im Hintergrund. Genau mit diesen Aspekten spielen diese Arrangements von John Martyn ein wenig auf den Sound jenes Sängers an, mit dem ich seine Stimme eingangs verglich – wenngleich nur zu 50 %: David Sylvian. Dessen Musik ging in den Neunzigern in eine Richtung, die John schon 1983 kreiert hatte.
"Root Love" war immer schon die Percussion-Nummer im Set des Herrn Martyn. Hier setzt er ein geiles und sehr kompaktes Gitarrensolo drüber und schiebt einen coolen Groove mit seiner Stimme voran. Trotz ihrer rhythmischen Verspieltheit entwickelt die Nummer einen lockeren Drive, der mitreißt und von der Gitarre ins Ziel getragen wird.
"Looking On" stammt vom 1980′ er Album Grace And Danger und klingt in diesem Arrangement fast wie eine gejazzte Police-Nummer. Ja, die eintönigen Gitarrenakkorde, die so schön mit den Drums korrelieren und der mäandernde Bass, dass erinnert ein wenig an Sting, Andy Summers und Steward Copeland. Aber das coole Break »a love supreme« lässt ganz tiefe Erinnerungen an die Herren Santana und McLaughlin aufkommen – es sollte aber eher als spaßiges Zitat und kurzer Schnipsel verstanden werden. Die Percussion hingegen hat eine Menge Latino, das macht also Sinn.
Die zweite Seite des Vinyls beginnt dann mit der aktuellsten Nummer, "Hung Up", gerade erst ein Jahr zuvor auf "Well Kept Secret" erschienen. Eine entspannt schöne Nummer mit einem für Johns Verhältnisse eingängigen Solo, während der Bass wieder einmal macht, was er will. Es sind diese ungewöhnlichen Akzentuierungen, die die Musik von John Martyn immer aus der Masse hervor gehoben haben.
Zeit für "Johnny Too Bad", einem klassischen Kracher im wahrsten Sinne des Wortes. Hier verwendet John eingängige Riffs und zeitgenössisch aufgepeppte Keyboard-Soundwände. Wir befinden uns nun auf dem 75′ er Album "Sundays Child", dessen Titelsong schon in der Warteschleife steht. Auch hier wartet ein perkussives Feuerwerk auf uns, die leidenschaftlich wilden Hooklines reißen mit und der Korpus des pulsierenden Songs wird von einem entfesselten John Martyn durchs Dorf getrieben. Die schrägen Licks der Gitarre sind fast ein wenig unter das rhythmische Getöse herunter geregelt und ich bin mir sicher, das ist genauso gewollt. John Martyn hat seine Künste nie zur Schau gestellt, er war stets ein Diener der Sache und das macht ihn so sympathisch.
Aber dann gibt es eben jenen schon erwähnten Titelsong von "Sundays Child" – mein absoluter Favorit. Hier kumulieren die beschriebenen Eigenschaften dieser Musik, so wie sie John Martyn zu dieser Zeit interpretierte. Ein geschmeidig dahingleitender Fluss aus elegant schwelenden Keys, ein Bass, den keiner einfängt, Johns sanfte, dann wieder aufbegehrende Stimme und das alles überragende Gitarrenspiel, das hier gelegentlich und nur ganz kurz ein wenig Gilmoursche Aspekte zu entdecken scheint. Ein wunderschöner Song und eine Reflektion auf das, was sein wird. Samstag Abend ist das Leben. Sonntag interessiert nicht. »I wanna be sundays child«. Heute Abend, wo ich diesen Text schreibe, wird man in Liverpool den Premiere League-Pokal empfangen. Heute Abend bin ich ein Sonntags-Kind mit sehr vielen anderen, vereint in rot. Und die rote Kerze brennt bereits seit gestern!
Dass der "Smiling Stranger" am Ende eine fast funkig leichte Nummer bietet, ist sicher auch dem Spannungsbogen des Albums geschuldet. Ich habe damals viel Herzblut eingebracht, um überhaupt eine Version davon zu ergattern. Später war es anfänglich ähnlich schwierig, die dazugehörige CD endlich zu finden. Es war eben die Zeit vor den Internet-Einkaufsmöglichkeiten.
"Philentropy" ist mir allein wegen der damit verbundenen Beschaffungsprobleme immer als ein besonderes Album in Erinnerung geblieben. Heute aber weiß ich, es ist auch das Zeugnis eines großartigen Künstlers, den man aus meiner Sicht viel zu wenig wahrgenommen hat. Zwischen Folk, Jazz, Rock und eben auch ein bisschen Blues gab es wohl keinen, der dem Zeitgeschehen derart seinen Stempel aufgesetzt hat. Egal, ob er 1976 in Leeds einen folkigen Jazz hinlegte oder eben seine hinreißenden Kompositionen später als zeitgenössisch anspruchsvolle Rocksongs aufbereitete. Er war immer besonders und hat sein Publikum fasziniert.
Es hätte eine Menge mehr Alben gegeben, die es wert gewesen wären, hier betrachtet zu werden. Ich habe allein etwa zehn Live-Aufnahmen daheim und immer klingt die Musik anders. Das kenne ich eigentlich nur von Gov’t Mule.
Ach ja, und 1978 hat er im Rockpalast gespielt. Ganz allein mit seiner Akustischen. Ein echter Entertainer voller Lebenslust und Begeisterung.
Doch während ich mir im Hintergrund eine unfassbare Version von "InsideOut" im Internet reinziehe, umfängt mich genau diese melancholische Stimmung, die Johns Musik oft umgeben hat und mich am Ende so traurig hinterlässt, dass dieser fantastische Musiker bei uns doch viel zu wenig bekannt wurde.
Dear John, where ever you are now, this is my tribute for you – because your music has touched my heart that much. God bless you and rest in piece.
Line-up John Martyn:
John Martyn (guitar, vocals)
Alan Thompson (bass)
Jeffrey Allen (drums)
Danny Cummings (percussion)
Ronny Leahy (keyboards)
Tracklist "Philentropy":
Side 1
- Make No Mistake
- Don’t Want To Know
- Root Love
- Looking On
Side 2
- Hung Up
- Johnnie Too Bad
- Sundays Child
- Smiling Stranger
Gesamtspielzeit: 41:32, Erscheinungsjahr: 1983



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