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Cactus / Tightrope – CD-Review

Cactus - "Tightrope" - CD-Review

Genau genommen wurde die Band Cactus eigentlich nur aus der Not geboren. So wollten die ehemaligen Vanilla Fudge-Musiker Tim Bogert (bass) und Carmine Appice (drums) im Jahr 1969 eine neue Band mit dem Gitarristen Jeff Beck gründen, was jedoch wegen eines schweren Autounfalls des letztgenannten Musikers auf Eis gelegt werden musste. Kurzerhand gründeten die beiden Amerikaner zusammen mit dem Sänger Rusty Day (R.I.P.) sowie dem Gitarristen Jim McCarty das Projekt Cactus und veröffentlichten bis 1972 vier Alben, bevor es dann (1973) doch noch zu dem letzten Endes ziemlich kurzlebigen Projekt Beck, Bogert & Appice kam. Erst in den 2000ern kam Cactus wieder zusammen, veröffentlichte seither zwei Alben und musste den Tod von Tim Bogert verkraften. Bereits mit Spannung wurde auch in der RockTimes-Redaktion das brandneue Werk "Tightrope" erwartet.

Und, mein lieber Schwan, das Quintett macht bereits vom Start weg deutlich, dass hier noch jede Menge Feuer unter dem Dach ist. Die ersten fünf Tracks werden mit derart intensivem bluesigen Rock in einer alle Aspekte betreffenden Qualität gebracht, dass es eine wahre Freude ist. Carmine Appice ist bereits seit Jahrzehnten eine Legende auf seinem Instrument, aber auch die weiteren Hauptprotagonisten Jimmy Kunes (vocals) sowie der Gitarrist Paul Warren beeindrucken mit laufender Spielzeit immer mehr. Randy Pratt ist mit seiner Harmonika immer dann erfreulich gut am Start, wenn es passt und Sinn macht, während auch Jimmy Caputo am Bass seine Spuren hinterlässt. Mit "Papa Was A Rolling Stone" wurde einer sehr bekannten Nummer neues und erstaunlich pulsierendes wie vitales Leben eingehaucht. Respekt.

Aufgrund der angeblich von Medienvertretern der siebziger Jahre ins Spiel gebrachten Schlagzeile »Die amerikanischen Led Zeppelin« kann hinsichtlich dieser neuen Scheibe aufgrund ihrer sehr eigenen Qualität zwar nicht zugestimmt werden, dennoch sind gewisse Parallelen bei manchen Songs nicht von der Hand zu weisen. So hatte der Rezensent bei den ersten Durchläufen des Titeltracks umgehend die Zeppelin-Nummer "Custard Pie" in den Ohren und auch bei "Primitive Touch" drängen sich Erinnerungen an Jimmy Pages Rhythmus-Spiel und dem in den Siebzigern so typischen Robert Plant-Gesang regelrecht auf. Obendrein weckt das Arrangement dieses (eher schwächeren Album-) Stücks Erinnerungen an die Engländer. Aber dies sind nur kleine Nebeneffekte eines ansonsten bärenstarken Albums.

Denn nachdem die Band etwa in der Mitte der Platte mit "Shake That Thing" sowie "Primitive Touch" etwas nachgelassen hat, geht es beim "Preaching Woman Man Blues" wieder zurück zum sehr hoch gesetzten Qualitäts-Level der ersten fünf Tracks. Paul Warrens Gitarre lässt mit spritzigen und richtig starken Soli immer wieder aufhorchen und dieser Jimmy Kunes (unter anderem Ex-Savoy Brown) steht nach wie vor so dermaßen unter Dampf, dass sich so mancher junge Hüpfer noch eine ganz, ganz dicke Scheibe abschneiden kann. Nach dem superstarken "Suite 1 And 2: Everlong/All The Madmen" (mit eingebauten Uriah Heep-Chorgesängen im zweiten Part) kommen dann auch noch ältere Stücke wie "Headed For A Fall" sowie "Wear It Out" zum Einsatz, auf denen auch die ehemaligen Cactus-Musiker Rusty Day sowie Phil Naro noch einmal zu hören sind.

Was Cactus mit "Tightrope" ganz sicher nicht im Sinn hatte war, den bluesigen Rock neu zu erfinden oder mit Innovationen auszustatten. Das muss aber ja auch gar nicht unbedingt sein, denn wenn die Qualität des Endproduktes stimmt, dann kann man von einer gelungenen Unternehmung sprechen. Und diesbezüglich geht der Fünfer hinsichtlich seines aktuellen Albums mit fliegenden Fahnen durchs Ziel. Die sehr hohe Qualität kann zwar nicht über die komplette Laufzeit gehalten werden, aber wer hier von einer Altherren-Combo, die mit halbgarem Mist noch einmal abkassieren wollte ausgeht, der zieht sich besser warm an, bevor er die Scheibe auflegt und intensiv zuhört.

Der Rezensent zieht jedenfalls seinen imaginären Hut und gratuliert zu einem Album, das er Cactus im Vorfeld selbst mit Wohlwollen nicht mehr zugetraut hätte. Das Erfolgsrezept: Bärenstarke Musiker, jede Menge Erfahrung, größtenteils starkes Songwriting, hohe Intensität, eine richtig coole Cover-Nummer, clevere Arrangements und eine sehr gute Produktion. Dicker Tipp!


Line-up Cactus:

Carmine Appice (drums & percussion, background vocals)
Jimmy Kunes (lead & background vocals)
Paul Warren (guitars, piano, background vocals, co-lead vocals – #2)
Jimmy Caputo (bass)
Randy Pratt (harmonica)

With:
Michael Whittaker (keyboards – #2,7,9,10)
Jim McCarty (guitars – #11,12)
Pete Bremy (bass – #11)
Phil Naro (lead & background vocals – #12)
Donald Stix (handclaps, shouting – #6)

Tracklist "Tightrope":

  1. Tightrope
  2. Papa Was A Rolling Stone
  3. All Shook Up
  4. Poison In Paradise
  5. Third Time Gone
  6. Shake That Thing
  7. Primitive Touch
  8. Preaching Woman Man Blues
  9. Elevation
  10. Suite 1 And 2: Everlong/All The Madmen
  11. Headed For A Fall
  12. Wear It Out

Gesamtspielzeit: 62:57, Erscheinungsjahr: 2021

Über den Autor

Markus Kerren

Hauptgenres: Roots Rock, Classic Rock, Country Rock, Americana, Heavy Rock, Singer/Songwriter
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Mail: markus(at)rocktimes.de

3 Kommentare

  1. Carlo Luib-Finetti

    Ja, Totgeglaubte stehen manchmal, manchmal sogar kräftig wieder auf. Wer, wie ich, damals anno 1970/1971 begeistert von Cactus war mit ihrem druckvollen Blues-Rock, von Songs wie 'Bros.Bill' oder 'Let me swim', kam immer wieder mal auf diese Songs zurück. Um dann eines Tages festzustellen, dass es im 21. Jahrhundert eine Wiederauferstehung mit dem Album 'Cactus V' gab, damals noch mit Jim McCarty und natürlich Tim Bogert.

    Jetzt war ich doch ganz schön skeptisch beim Lesen dieses Artikels zu 'Tighrope', wo ich sah, dass es gar einen neuen Gitarristen bei der Band gibt. Ein blasser Aufguss, halbgar? Nein, jetzt beim Anhören des Albums, kann ich nur bestätigen, was Markus schrieb: das ist einfach eine tolle Scheibe.

    1. Manni

      Ich positioniere mich hier auf der anderen Seite: Ich finde diese Platte langatmig, geradezu langweilig, sie ist mir keine weitere Lebenszeit mehr wert. Aber wenigstens kann der Coversong "Papa Was A Rolling Stone" von den Temptations für was herhalten, nämlich als schlechteste, nichtssagendste Interpretation aller Zeiten. Wie armselig.

      1. Manni

        Ich muss mich korrigieren: 'Papa was a Rolling Stone' stammt von der Motown-Band "The Undisputed Truth", die Temptations haben den Song aber bekannt gemacht.

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