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Lou Reed / New York – Deluxe Edition – CD-Review

Lou Reed - "New York - Deluxe Edition" - CD-Review

Obwohl er es zu Lebzeiten wahrscheinlich niemals zugegeben hätte, war Lou Reed spätestens Mitte der achtziger Jahre musikalisch irgendwie in einer Sackgasse angekommen. Nach dem sehr starken The Blue Mask (1982) waren zwar auch die Nachfolger Legendary Hearts (1983), New Sensations (1984) und Mistrial (1986) nicht unterirdisch, aber halt auch keine echten Hinhörer. Solides und routiniertes Material eben, das im Gesamtwerk des Amerikaners aber wahrscheinlich immer etwas untergehen wird. Und was passierte dann? Im von künstlichen Klängen so zugekleisterten und von tödlich aufgeblasenen Drums so aufgeplusterten Sound der späten achtziger Jahre haute er mit "New York" ein so dermaßen frisches und knackiges Werk raus, so direkt und genau zwischen die Augen des Hörers, das diesem geradezu die Luft wegblieb.

Dazu handelte es sich bei "New York" um Reeds erstes Konzept-Album seit dem großartigen (aber komplett anders konzipierten) "Berlin" (1973). Zwar erzählt die Scheibe keine durchgehende Geschichte, aber dennoch handelt hier jeder Track von der Stadt, mit der der gute Lou wie kaum ein anderer Musiker in Verbindung gebracht wird. Erwartete der Fan bzw. Hörer zum damaligen Zeitpunkt erstmal nicht wirklich viel, so krochen der glasklare Sound von zwei nahezu clean gespielten Gitarren, einem Bass und dem Schlagzeug fast umgehend unter seine Haut. Der Protagonist erzählt dagegen in seinem gewohnten Sprechgesang eine kurze Situation an einem Abend in New York City. Er lässt im Opener "Romeo Had Juliette" kein besonders angenehmes Bild der Stadt vor dem geistigen Auge des Hörers entstehen und stellt ernüchtert fest, dass es mittlerweile schwer fällt ist, noch »…to give a shit…« auf seine Lieblings-Metropole zu geben. Szenenwechsel: In "Halloween Parade" geht um eine eben solche, während der Erzähler durch seine Erinnerungen an die früheren Veranstaltungen dieser Art und vor allem die realen Charaktere aus einer anderen Ära schweift.

Der sogenannte Hit der Platte war "Dirty Blvd.", der es schafft, mit gerade mal drei Akkorden, einem coolen Groove und einem starken Refrain zum Ohrwurm zu werden. Thematisch geht es hier um einen jungen Einwanderer, der in einem sehr üblen Bezirk der Stadt aufwächst. »Niemand in diesen Blocks träumt davon, mal ein Doktor oder ein Anwalt oder überhaupt irgendwas zu werden … jeder träumt davon, ein Dealer zu sein, um die soziale Leiter wenigstens mal eine winzige Sprosse höher zu klettern …«. Was das alles neben der coolen Musik so wahnsinnig gut macht, sind die unglaublich präzisen und eine dicke Atmosphäre kreierenden Texte Reeds, die jeden dieser nicht überdurchschnittlich langen Songs zu einem Kurzfilm für den Hörer werden lassen. Lou lässt kaum ein gutes Haar an seiner Heimatstadt und neben vielen anderen (kann sich noch jemand einen gewissen Herrn Waldheim erinnern?) bekommt hier auch schon der damals spätere bzw. jetzige US-Präsident gewaltig eine verbraten. Vielleicht, hofft Reed in einem der Titel, ist es aber tatsächlich bald schon so, dass die ganzen Verantwortlichen sowieso schon am Ende sind. 'Steck ihnen eine Gabel in den Arsch und dreh sie rum … die sind fertig!" (»…stick a fork in their ass and turn 'em over … they’re done!«)

Jeder Song auf "New York" ist sowohl musikalisch als auch textlich und aufgrund der Lesung Reeds ein absoluter Gewinner, der ungefiltert und ohne Air Bag auf seinen Hörer trifft. Daran haben allerdings auch Mike Rathke (guitars), Rob Wasserman (stand-up bass) und Fred Maher (drums) ihren gehörigen Anteil. Als Überraschung war sogar Reeds ehemalige Velvet Underground-Kollegin Maureen 'Moe' Tucker für zwei Nummern an der Percussion dabei. Musikalische Ausbrecher sind das sehr rockige "There Is No Time" oder auch das herrliche jazzige "Beginning Of A Great Adventure". Bei dem göttlich swingenden "Sick Of You" geht es darum, sich die täglichen Nachrichten anzusehen, die den Protagonisten oft nur noch zu der einzigen Schlussfolgerung »Ich weiß nur eins, das hier ist ein verdammter Zoo, in dem niemand auch nur einen blassen Schimmer hat, was er tut … und ihr macht mich krank!« hinsichtlich der verantwortlichen Politiker kommen lässt. (»Well, I know just one thing that is certainly true, this here’s a zoo where nobody knows what they do … and I’m sick of you!)«

"New York" war nicht nur der Beginn, sondern (vielleicht noch mit "Magic And Loss") auch der Höhepunkt von Lou Reeds Spätwerk und gehört zu den besten drei (zumindest besten fünf) Alben seiner gesamten Solokarierre. Wer diese Platte noch nicht kennt oder hat, sollte hier unbedingt zuschlagen. Ein wahres Meisterwerk!

Für diese neue 'Deluxe Edition' wurde das Album zum ersten Mal überhaupt remastert und soundtechnisch überarbeitet. Als Bonus gibt es eine zweite CD, die die Songs der Platte in ersten Rough Mixes oder kurzen 'work tapes' enthält. Sehr interessant, wenn auch nicht essenziell. Mit "The Room" ist sogar ein Outtake aus den damaligen Sessions vertreten, das aber noch ohne Gesang auskommen muss. Dazu gibt es eine weitere CD mit Live-Aufnahmen der "New York"-Songs aus verschiedenen Konzerten sowie die (mir für dieses Review nicht vorliegende) DVD "The New York Album" mit einem Konzert aus Montreal, auf dem das komplette Album (plus den Zugaben "Walk On The Wild Side" sowie dem Velvet Underground-Klassiker "Sweet Jane") live aufgeführt wurde. Dieser Film war bisher nur auf VHS-Video-Kassette erhältlich.


Line-up Lou Reed (studio):

Lou Reed (guitars, lead & background vocals)
Mike Rathke (guitars)
Rob Wasserman (electric upright bass)
Fred Maher (drums, bass – #1,8)

With:
Moe Tucker (percussion – #6,14)
Jeffrey Lesser (background vocals)
Dion Di Mucci (background vocals – #3)

Tracklist "New York – Delxue Edition":

CD 1 & 2 & DVD:

  1. Romeo Had Juliette
  2. Halloween Parade
  3. Dirty Blvd.
  4. Endless Cycle
  5. There Is No Time
  6. The Last Great American Whale
  7. Beginning Of A Great Adventure
  8. Busload Of Faith
  9. Sick Of Faith
  10. Hold On
  11. Good Evening Mr. Waldheim
  12. Xmas In February
  13. Strawman
  14. Dime Store Mystery
  15. Walk On The Wild Side (live – cd 2 only)
  16. Sweet Jane (live – cd 2 only)

CD 3:

  1. Romeo Had Juliette (live)
  2. Dirty Blvd. (work tape)
  3. Dirty Blvd. (rough mix)
  4. Endless Cycle (work tape)
  5. Last Great American Whale (work tape)
  6. Beginning Of A Great Adventure
  7. Busload Of Faith (acoustic)
  8. Sick Of You (work tape)
  9. Sick Of You (rough mix)
  10. Hold On (rough mix)
  11. Strawman (rough mix)
  12. The Room (outtake)
  13. Sweet Jane (live)
  14. Walk On The Wild Side (live)

Gesamtspielzeit: 56:56 (studio album), Erscheinungsjahr: 2020 (1989)

Über den Autor

Markus Kerren

Hauptgenres: Roots Rock, Classic Rock, Country Rock, Americana, Heavy Rock, Singer/Songwriter
Über mich
Meine Beiträge im RockTimes-Archiv
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Meine Konzerberichte im Team mit Sabine
Mail: markus(at)rocktimes.de

3 Kommentare

  1. Wolfgang

    Hallo Manni
    Hast du die Version mit der Dvd?
    Das wäre für mich das einzig interessante!
    Habe die VHS-Version und war vom Konzert begeistert, aber die die Qualität…
    Werde mir das Teil aber nur zulegen, wenn es einzeln erhältlich ist – über 50€ ist dann doch zu viel…

    1. Manni

      Hi Wolfgang,

      Das war die übliche Ausgabe inkl. DVD und LPs, die in D ca. 70€ kostet. Ich hatte die über eBay UK für ungerechnet knapp 57€ bekommen. Ich hab sie für den selben Preis wieder losgeschlagen, weil mir der Klang der ursprünglichen Ausgabe besser gefällt und ich weder Blue-ray/DVD noch einen Plattenspieler im Haus hab. Ich sehe mir keine Videos an, mein Kino spielt im Kopf: Ich lese je nach Umfang ein oder zwei Bücher pro Woche. 🙂
      Mir ging es nur um "New York" selbst und da reicht mir wie gesagt die 89er CD.

  2. Manni

    "Das Album wurde zum ersten Mal überhaupt remastert und soundtechnisch überarbeitet".

    Leider wurde es verschlimmbessert. Diese Platte klingt in ihrer ursprünglichen Abmischung etwas besser, weil ausgewogener als das neue Remaster, bei dem der Bass leicht aufgebläht wurde (warum nur?). Zudem wurde der Gesamtpegel um ca. 6 dB erhöht, was leider mit einer Verringerung des Dymanikumfangs einhergeht, wie das Spektrogramm zeigt.

    Die Live-CD ist interpretatorisch sehr nahe am Original, fast zu nahe, denn es gibt eigentlich keine Überraschungen und auch keine ausschweifenden Soli wie auf der ’74er "Rock N Roll Animal". CD 3 kommt als "Works in progress" daher und genau das ist es auch, der akustische Entstehungsprozess einiger Songs. Für mich allerdings uninteressant.

    Fazit: Weniger wäre mehr gewesen, sprich: ein anständiges Remaster bei Ausnutzung der vollen Dynamik! Immerhin ist "New York" das beste Lou Reed Studioalbum überhaupt (für meine Ohren jedenfalls) und gehört in jeden Plattenschrank bzw. CD-Regal oder Festplatte.

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