Der im gerade erst vergangenen Dezember 2022 verstorbene Manuel Göttsching (unter anderem auch Ash Ra Tempel) hatte im Jahr 1976 sein Soloalbum "New Age Of Earth" (zunächst in Frankreich unter dem Namen Ash Ra Tempel, 1977 dann weltweit unter Ashra) veröffentlicht und war kurz davor, dieses mit einer Frankreich-Tour zu promoten. An seine Seite hatte er sich dafür den Musiker und Produzenten Michael Hoenig (u. a. Ex-Agitation Free) gestellt, doch wie so oft kam alles anders als geplant und die komplette Tour musste im letzten Moment abgesagt werden. Auf ihrer letzten gemeinsamen Probe-Session ließen die beiden damals die Band-Maschine mitlaufen, bis sie wieder ihrer eigenen Wege gingen. Die Aufnahme geriet allerdings in Vergessenheit, bis sich die beiden 1994 erneut über den Weg liefen und die gemeinsame Zeit in Erinnerung riefen. Die wohl beste Aufnahme der bereits erwähnten letzten Probe wurde dann schließlich 1995 als "Early Water" veröffentlicht, nach Verkauf der ersten Auflage vom Label aber wieder gestrichen und war seither lange Jahre nicht mehr erhältlich.
Das Album besteht tatsächlich aus einem einzigen langen, knapp fünfzig Minuten laufenden gleichnamigen Song. Und diese Nummer fühlt sich beim Anhören tatsächlich an wie ein Spießrutenlauf kreuz und quer durch Berlin. Fiebrig, getrieben und hastig eilend wie auf Speed, nervös immer links und rechts die direkte Umgebung im Blick, wie auf der Flucht vor einem unsichtbaren Verfolger, panisch nach dem Ausweg und nach Frieden suchend. Vermittelt wird dies durch eine den Rhythmus vorgebende Keyboard-Spur, die dann aber von anderen Synthesizer- sowie auch Gitarrenspuren komplementiert wird. So werden diesem Stück zusätzliche Farbtupfer verpasst und darüber hinaus auch die Stimmung phasenweise in etwas ruhigere Gegenden oder auch mal sogar noch psychedelischere Abschnitte gelenkt. Was diese Geschichte aber auch von Anfang bis zum Ende interessant und spannend hält, denn irgendwie fühlt sich der Hörer automatisch in den Sog der Ereignisse, in diesen gerade laufenden Film hinein gezogen.
Vergleiche zu den früheren Arbeiten und Bands der beiden Musiker lasse ich hier mal ganz bewusst außen vor, da "Early Water" als eigenständiges Werk angesehen werden soll und auch muss. Die Keyboards und Synthesizer übernehmen hier ganz klar die dominierende Führung, aber Manuel Göttschings Gitarre setzt immer wieder sehr gelungene Gegenparts, die teilweise auflockern, teilweise aber auch zum gehetzten und klaustrophobischen Klangbild beitragen. Und wenn die hier verwendeten Adjektive im wirklichen Leben auch einen eher negativen Touch haben, dem Stück "Early Water" verleihen sie Leben, Bewegung, Gefühl und Vitalität. Passen würde der Song (in Endlos-Schleife) auch als Soundtrack für eine nicht enden wollende U-Bahn-Fahrt durch die Nacht und die wahnsinnig vielen Berliner U-Stationen, nie zur Ruhe kommend, getrieben vom rasenden Puls der Großstadt.
Nicht nur Electronic-, sondern auch Psychedelic- und Krautrock-Fans dürfen sich über diese Wiederveröffentlichung also ordentlich freuen. Nicht nur wurde hier ein alter Schatz aus dem Jahr 1976 von Michael Hoenig und Manuel Göttsching wieder zum Leben erweckt, "Early Water" hört sich obendrein noch brandaktuell an. Okay, vielleicht nicht von den Instrumenten, aber vom Feeling passt dieses rastlose Stück ganz hervorragend ins Hier und Jetzt. Daher Kompliment an MiG Music für diese Ausgrabung und ein dicker Tipp an die Fans der bereits erwähnten Stilrichtungen. Diese Scheibe lässt einen mehr als dreiviertelstündigen Film im Kopf des Hörers ablaufen, der an Intensität schwierig zu überbieten ist.
Line-up Michael Hoenig & Manuel Götsching:
Michael Hoenig (keyboards, synthesizers)
Manuel Göttsching (keyboards, synthesizers, guitar)
Tracklist "Early Water":
01:Early Water
Gesamtspielzeit: 48:26, Erscheinungsjahr: 2023 (1995)
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