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NinetyFour X / Empty Sky – CD-Review

NinetyFour X / Empty Sky

Musik aus dem Pott kommt über den Umweg der Pfalz zurück in den Pott. Der Duisburger soll die Essener besprechen. Macht er sehr gerne und kann schon jetzt vorwegnehmen: Er hat es nicht bereut. Mehr noch, es hat sich von Beginn an eine kleine Liebesbeziehung aufgebaut.
Aber eines nach dem anderen.

Ein krachendes Opening mit einem Riff-Gewitter aus postmetallischen Unwettern und die Wucht und Wut eines großartig eskalierenden Gitarrensolos überrollt den gänzlich Unvorbereiteten. »The sky is empty«, heißt es in "Empty", ergo so etwas ähnliches wie der Titelsong auf "Empty Sky". Aber die Intensität und die dichte Atmosphäre sind alles andere als leer.

Wenn man nach dem ersten Anhören ins Begleitmaterial schaut und Begriffe wiederfindet, die einem während der akustischen Kontaktaufnahme durch den Kopf gegangen sind, dann weiß man um zwei beruhigende Fakten: Der Waschzettel lügt nicht und man liegt scheinbar nicht ganz weit weg mit seinen Empfindungen von den Intentionen der Band. Darauf kann man ein wenig beruhigter aufbauen.

So gibt es für mich ein paar prägnante Eigenschaften, mit denen sich die Musik auf "Empty Sky" beschreiben lässt. Klare und wunderschöne, postrockige Lines, befruchtet aus der neunziger Dekade des letzten Jahrhunderts und eine stille und nicht immer spürbare Melancholie, die mit allerhand härteren Passagen konkurrieren muss und wo mitunter Bereiche des Metal gestreift werden. Vor allem aber liegt über dem Album ein geheimnisvoller Zauber, etwa so wie ein nächtlicher Ausflug durch das Ruhrgebiet – so wie ihn Schimanski erleben würde, wenn er denn heute noch ermitteln würde. R.I.P. Götz, Du wirst immer einer von uns sein!

Erstaunlich, dass angesichts der mächtigen und sehr kompakten Soundwände eine eigentümliche Melodik erzeugt wird, die Lichtjahre von Trivialität entfernt ist und dennoch geschmeidig in die Gehörgänge geht. Atmosphärisch unübertroffen trifft mich der Regen, "Rain" ist eine Gänsehautnummer mit seinen mäandernden zurückgenommenen Gitarrenriffs, die in einer Zeitblase aus den späteren Achtzigern zu uns gelangt sein könnten, auch hier wieder mit rhythmischem Sperrfeuer aus härteren Gegenden beschossen. Das macht die Songs gerade so dynamisch, man weiß nie so genau, in welche Richtung die Reise geht und immer wieder wird man am Schlawittchen gepackt und hin und her gewirbelt, aus dem "Empty Sky" entwickeln sich wilde Turbulenzen, die Energie und statische Aufladung ist von Anfang an spürbar und setzt im wahrsten Sinne unter Strom.

Marcs einfühlsame und dann wieder hoch aggressive, charismatische Stimme gleitet lässig wie ein Surfer über die wilde Gischt tobender Wogen, was die Songs erst zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügt. Manchmal erinnert mich seine Leidenschaft ein wenig an den jungen Bono, damals, ganz am Anfang, als U2 noch richtig Betrieb machten. Eine schöne Reminiszenz.

Das krachend monotone Riff, das sich in "Throw Hearts" durch den gesamten Song prügelt, könnte glatt der Gitarren-Armee aus der nur vordergründig platten Komödie "Idiocrazy" angelehnt sein. Geiler Film, mit bösartigen Anspielungen und Metaphern, wenn man genauer hinschaut.
"So Close" ist dann dem Titel entsprechend wieder so ein leicht melancholisches Stimmungsmonster, das einem sehr nahe geht. Diese intensiven Soundwände haben einen geradezu hypnotischen Reiz.

Schon bis hierhin verläuft die Spannung durch das Album ungebrochen, es gibt keine Pausen oder gar Schwächen. Erstaunlicherweise drehen die vier Jungs am Ende zusätzlich noch einmal auf, das mitreißende "Interstellar" gehört zu den abwechslungsreichsten Nummern auf dem Album und überrascht mit einer Textzeile, die Raum für Spekulation schafft: »Can you see me, can you hear me, will you hold me« klingt fast ein wenig wie die berühmten Textzeile einer rebellischen Gruppe aus London, »see me, feel me, touch me, heal me«.

Und wenn das Stück am Ende des Albums dann in doppelt beziehungsreicher Weise "The End" betitelt wird, lässt es eben auch hier die Vermutung aufkommen, dass damit nicht nur die Position auf dem Album und in der Allegorie dieser Musik zu sehen ist, sondern vielleicht auch ein Zitat auf den berühmtesten aller Doors-Songs. Jim Morrison, einer der Urvatär des rebellischen Rockers, thematisch passt das wie die Faust aufs Auge, beschreibt die Band ihre Orientierung doch selbst auf die wütenden wilden Helden der Neunziger. Und woran werden sich die wohl einst orientiert haben?
So bilden Ninetyfour X gewollt oder ungewollt eine Klammer zwischen den Generationen. Von The Who über Pearl Jam ins Nirvana sozusagen. Das finde ich total geil.

Was mich zusätzlich beeindruckt ist die Erkenntnis, dass die Band in ihrer Lyrik so etwas wie Schlüsselworte und Textfragmente nutzt, die Verbindungen auch zwischen den Songs schaffen. Genauso wie sie kontrastieren, wie zum Beispiel die Zeile »when the world is wide, you can touch the sky« in "Wide" und »the end is near, the end is close« im nachfolgenden "The End". Und "So Close" ist wiederum der Titel eines weiteren Tracks, während der Himmel, "Sky", uns ja durch das ganze Album begleitet. Zufall oder gewollte Verbindungen auch hier? Diese Betrachtung überlasse ich gerne Euch.

Nun ja, und dass in Zeiten von Klimawandel, weltweit ungezügelter Finanzpolitik, wirtschaftlich motivierter Kriege und vor allem in der Corona-Krise ein solcher Titel wie "The End" zum Nachdenken anhält, muss eigentlich nicht näher betrachtet werden, es erklärt sich selbst. Nur, das zitierte »spread your wings and fly« (fast schon wieder so ein Zitat, nämlich auf einen alten Queen-Song) wird uns allen schwer fallen, denn momentan gibt es keine Destination des Entkommens. Und wenn wir nicht sehr schnell innehalten, dann werden wir das Ende nicht mehr aufhalten, da sind wir auf einem erschreckend 'guten' Weg. Eine ähnliche Warnung enthält ja auch der sehr lyrische, schöne Text in "Clarisse" gleich zu Beginn.

Wer in seinem ersten Album derart ausgeprägte Authentizität zeigt und spielerisch zwischen musikalischen Epochen und Stilen spreizt, dabei so jung, wild und frisch klingt wie NinetyFour X, dem muss zwangsläufig ein guter Weg bevorstehen. Ich bin riesig gespannt, wohin die Reise gehen wird und die Schlackeberge rund um unsere gemeinsame Heimat müssen keinesfalls die Kulminationspunkte sein. Es gibt gute Gründe, warum diese Band aus Essen auch fernere Höhenkoten in Angriff nehmen könnte. Pott rules!

Geiler Alternative Rock mit einer ganz eigenen Farbe, tief aus dem Herzen des Potts und behaftet mit vielen Eigenschaften, die man auch dem Ruhrgebiet zuschreiben könnte, machen sich vier Jungs auf den Weg, der Welt ihre ganz spezielle Vorstellung von Rock’n’Roll vorzustellen. Leidenschaftlich, kraftvoll und eigenständig. Und dabei durchaus eingängig.

Hey Welt, jetzt liegt es an Dir!


Line-Up NinetyFourX:

Marc Roman (vocals)
Christian Maraun (bass)
Paul Schmoranzer (guitar)
Bene Kreutz (drums)

Tracklist "Empty Sky":

  1. Empty Sky
  2. Clarisse
  3. Rain
  4. Where Are You Now
  5. Eve
  6. Change
  7. Queen Of The Night
  8. Throw Hearts
  9. So Close
  10. Interstellar
  11. Wide
  12. The End

Gesamtspielzeit: 56:55, Erscheinungsjahr: 2020

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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