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Octopus / The Lost Tapes – CD-Review

Octopus / The Lost Tapes – CD-Review

Nach "Boat Of Thoughts", welches als LP und CD erschienen ist, An Ocean Of Rocks, Rubber Angel und Hart am Rand, gibt es mit "The Lost Tapes" Nachschub für die Freunde der hessischen Kraut- und Prog Rock-Band Octopus. Wie der Albumname bereits erahnen lässt, steckt eine Geschichte hinter diesen Aufnahmen. Eine dieser Stories, wie sie nur das Leben schreiben kann.

Die Band wurde ja 1972 gegründet, und zwar von Jennifer, Peter, Claus D. und Dieter-Paul. Ihr damaliger Wohnort war ein Studentenwohnheim in Mainhattan und über eine Suchmeldung am schwarzen Brett stieß auch Werner dazu. Man hätte covern können, wie das viele Bands damals taten, um schnell auf die Bretter zu kommen. Octopus schrieb aber lieber eigene Songs; Vorbilder gab es zu der Zeit ja en masse. Im informativen Booklet werden z. B. Camel, Yes und Beggar’s Opera genannt. Wenn ich mich nicht irre, hatte Beggar’s Opera sogar damals einen Auftritt in meiner kleinen pfälzischen Heimatstadt. Octopus hatte ihn, denn da war ich dabei.

Ich will einmal kurz abschweifen und auf einen Artikel aus dem Jahr 2019 in der "Die Rheinpfalz" kommen, denn dort wird das Beggar’s Opera-Gründungsmitglied Martin Griffiths vorgestellt, der zumindest 2019 Schlossführer in Schwetzingen, Mannheim und Heidelberg war. Im Artikel wird logischerweise auch auf Beggar’s Opera eingegangen: »Wer heute das beste Album – "Pathfinder" – hört, kann kaum glauben, dass dieser geniale, zeitlose Musikstreich vor 50 Jahren entstand.« Nein, ich denke, dass Waters Of Change das beste Album war und ist und das hängt definitiv damit zusammen, dass bei dieser Platte Virginia Scott mit ihrem Mellotron für Stimmung sorgte. Und dass dieser »geniale, zeitlose Musikstreich vor 50 Jahren entstand« ist selbstverständlich zu glauben – zu dieser Zeit entstanden nämlich Rockklassiker im Wochentakt.

Virginia Scott war es nicht, die das Mellotron bei Octopus einführte, das war Hans-Paul und zwar im Frühjahr 1974. Die Band kommt sehr gut an, spielt jede Menge Shows und entschließt sich daher eine Musikkassette aufzunehmen, die dazu dient, die Band weiter bekannt zu machen, was auch klappt. Zwei Jahre später landet die 8-Spur Aufnahme bei Günther Körber von Sky Records und stante pede hatte Octopus einen Plattenvertrag.

Aber nun kommt es: die Kassette verschwand Ende der Siebziger und wurde jahrzehntelang nicht mehr gefunden. Jennifers aktuelle Band ist The Radio und als die Sängerin alte Bänder dieser Gruppe sichtete, fiel ihr die Octopus-Kassette in die Hände. Der Rest ist schnell erzählt: Tom Redecker remasterte das Teil und sein Label Sireena hat "The Lost Tapes" nun als CD- und Vinylausgabe im Programm.

Los geht es mit "Judgement Day" und der Track lässt nur ein Urteil zu: Es wird nur in eine Richtung gerockt, und zwar straight nach vorn. Bis ein geiler Break eine Wall of Prog aufbaut. Jesses, das geht ab!
Jenny singt mit zarter Stimme zum warmen Klang des Mellotrons. Nach diesem Ausflug ins Traumreich wird wieder gerockt. Und plötzlich liegt in der Tat eine Portion Beggar’s Opera in der Luft. In der Tat deshalb, weil das auch im Booklet so gesehen wird. Von wegen »Erbarmen, die Hessen kommen«. Die kamen damals wirklich – und wie! Wir sind übrigens im Stück "Time In My Hands" angekommen, einem gelungenen Siebenminüter, der auch so 'breakt', dass es eine wahre Freude ist. Leichte Klassik-Anleihen wehen durch den Garten, in dem ich gerade mit einem eiskalten Schaumgetränk sitze und diesen Speicherfund genieße. Jenny verzaubert wieder mit ihren Vocals und es ist kein Wunder, dass namhafte Bands sie damals abwerben wollten; sie blieb Octopus aber treu.

Apropos Klassik, mit "Ziploi" kommt diese geballter zum Zuge, denn dem Track liegt eine Komposition des italienischen Barockkomponisten und Organisten Domenico Zipoli S.J. zugrunde. Aufgepeppt natürlich mit krautigen Prog-Elementen. "The Shadow Of Your Smile" beginnt mit spannender Rhythmik, fährt etwas runter und prescht dann vehement los. Die Keys generieren eine Fantasy-Landschaft nach der anderen. Das Gitarrenspiel sowie die komplette Choreografie gemahnen erneut an Beggar’s Opera.
Mein lieber Scholli, da läuft Großes – eine Hammernummer, eine Lehrstunde in Sachen Prog. Und das von Musikern aus Hanau; nicht böse sein, liebe Hanauer, aber eure schöne Stadt war nun mal nicht der Nabel der Prog-Welt. Aber sie war auf jeden Fall der hessische Prog-Nabel.

"Son Of Sorrow Part I" legt den alten Prog-Tunes meiner Meinung nach (nicht nur) beim Gesang eine Spur Jefferson Airplane, also Grace Slick bei. Leichte Hippie-Schwaden mischen sich mit qualmendem Kraut, ein paar Klassik-Einschübe gibt es und stimmungsmäßig wird Bandbreite neu definiert. Das liegt zu einem erheblichen Teil auch an den majestätisch anmutenden Mellotron-Wellen. Neun Minuten, die man mit geschlossenen Augen genießen sollte. Die erwähnte Bandbreite ist auch beim Gesang zu hören – ob fast indianisch klingende forschere Passagen, ruhige und zarte Töne, oder aber das typische Rock-Timbre in Jennifers Stimme.

"World Of Cruelty" zeigt eine weitere Facette der Band: Zu proggigen Gitarren- und Tastenläufen gibt es in dem relativ schnellen Stück auch Passagen, denen man eine Spur Folk attestieren kann. Aber genau das war eine der Stärken von Octopus, sie beharrten nicht stur darauf, einem Stil X zu frönen. Sie liesen auch Y und Z gerne zu.

"The Lost Tapes" … wenn Jennifers Stimme nicht wäre, könnte man bei einer Blindverkostung des Albums durchaus auf den Gedanken kommen, ein verschollenes Werk von Beggar’s Opera zu hören. Toll, oder? Das meine ich übrigens als Kompliment, denn gerade Prog in der Art von BO oder auch Camel sind mein Ding. Und Octopus versuchen nicht, die Vorbilder zu kopieren. Nein, sie klingen einfach so, weil sie die gleiche Würze an das musikalische Essen geben. Jenny allerdings ist das Extra-Gewürz und ohne sie würde dem Octopus der wichtigste Arm fehlen.

Ich liebe Speicherfunde! Am Ende des Artikels gibt es den Albumtrailer. Hört mal rein und urteilt selbst,


Line-up Octopus:

Jennifer Hensel (vocals)
Peter Hensel (guitar)
Claus D. Kniemeyer (bass)
Werner Littau (keyboards)
Hans-Paul Sattler (Mellotron)
Dieter-Paul Becke (drums)

Tracklist "The Lost Tapes":

  1. Judgement Day (4:46)
  2. Time In My Hands (7:17)
  3. The Shadow Of Your Smile (7:00)
  4. Zipoli (4:27)
  5. Son Of Sorrow Part I (9:04)
  6. World Of Cruelty (4:08)

Gesamtspielzeit:36:50, Erscheinungsjahr: 2023 (1974)

"The Lost Tapes"-Trailer:

 

Über den Autor

Ulli Heiser

Hauptgenres: Mittlerweile alles, was mich anspricht
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