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Tennessee Champagne / Tennessee Champagne – CD-Review

Tennessee Champagne / Tennessee Champagne

Eine spezialgelagerte Ohrfeige in bester Hanglage

Enthusiasten braucht die Welt, gerade in diesen realapokalyptischen Zeiten … und ganz besonders dort, wo auch nur entfernt das vergilbte Türschild 'Kultur' vor sich hin schimmelt.
Reinhard Holstein, seines Zeichens Glitterhouse Records Urgestein, ist so ein spezialgelagerter Enthusiast, der allen Zeichen der Zeit trotzt, die in seinem Geschäftssegment vor allem aus dem Wort 'Streaming' bestehen und haut nach dem Nerd2-Label 'Stag-O-Lee Records' auch noch zwei Nerd2-Oberspezialisten namens 'Whiskey Preachin Records' und 'Juke Joint 500' raus.
Letzteres hatte ursprünglich die Idee, Alben der letzten 20 Jahre aus dem hierzulande kommerziell unter der Grasnarbe wandelnden Genres 'Southern-Rock' herauszubringen, die bis dato noch nie als Vinyl-LP erschienen waren. Ein in Zeiten von jederzeit und überall zur Verfügung stehender Musik mit fast unbeschränkter Auswahl sensationell skurriles wie mutiges Vorhaben.
Wir brauchen also als Interessenten dieser Zeilen Tonträger-Nerds und Genre-Nerds in Personalunion!

Gegenstand der Betrachtung ist allerdings eine Band des Hier und Jetzt aus Elizabethon, TN, im Herzen der Appalachen. Diese brachte im Hochsommer letzten Jahres in digitaler Form ihr Debüt an den Start, welches nunmehr via 'Juke Joint 500' als farbige und handnummerierte Langrille (500 Exemplare) verfügbar gemacht wird. Ende Januar folgt auch die Polycarbonat-Ausgabe für die im galoppierenden Schwund befindlichen Compact Disc-Fans. Die Verspätung rührt von einem Produktionsfehler, der beim CD-R–Promotionsexemplar des Rezensenten dazu geführt hatte, dass die Membrane der Abhörboxen dem Verdacht anheim fielen, ihren Geist aufgegeben zu haben. Im Vergleich zu dem Album bei den diversen Streamingdiensten weicht die Songreihenfolge erheblich ab, was etwas unverständlich ist, da diese 'Originalreihenfolge' im 'Flow' harmonischer wirkt.
Das alles kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es hier mit einem Debüt zu tun haben, welches kurz und knapp nur ein Fazit zulässt: Sensationell!

Okay, die Nummer mit der Grasnarbe hatten wir schon, auch die Metapher mit der Unsichtbarkeit auf einem Hochleistungsradar könnte herausgekramt werden – die musikalische Schublade 'Southern Rock' und Deutschland passen so gut zusammen wie Schalke 04 mit Erfolg.
Die hierzulande kommerziell erfolgreichsten Bands in diesem schwammigen Segment dürften derzeit wohl Black Stone Cherry und Blackberry Smoke sein. Erstere sind ungleich härteren Klängen zugeneigt als Tennessee Champagne, letztere hingegen können durchaus als Orientierungspunkt betrachtet werden. Ausrufezeichen im ganz kleinen Rahmen konnten hierzulande in letzter Zeit auch Kapellen wie Robert Jon & The Wreck oder gar die Allman Betts Band setzen, wobei es letzteren bezüglich der Aufmerksamkeit bestimmt nicht zum Nachteil gereicht, dass gleich drei Bandmitglieder Söhne der Allman Brothers-Ursprungsbesetzung sind. Musikalisch setzen die drei zuletzt genannten Formationen aber Pflöcke, die sich – mal mehr, mal weniger – beim Debüt von Tennessee Champagne heraushören lassen. Dazu gesellen sich unweigerlich noch Referenzen wie die Allman Brothers Band, hier insbesondere die Warren Haynes-Ära, welcher überhaupt als Inspirationsquelle des Öfteren durchschimmert, ZZ Top, Tony Joe White, Black Crowes oder gar Creedence Clearwater Revival.

Das eigentlich Sensationelle ist hingegen die Tatsache, dass der Rezensent beim Hören der rund 40 Minuten des Debüts zu keiner Sekunde das Verlangen hat, nun aber lieber Originale des Genres aus seiner Blütezeit oder die genannten Assoziationen in den Player – respektive auf die Playlist – zu schmeißen.
Selbstverständlich fließt aus den brandneuen Schläuchen kein genauso brandneues Destillat, aber immerhin ist selbiges für ein Debüt auffallend wohlschmeckend. Das musikalische Genre mag ja hier einen guten Whiskey oder ein kerniges Gebräu nahe legen, das Quintett aus den Bergen der Appalachen kredenzt zwar tatsächlich keinen Schampus, dafür aber einen guten Roten in bester Hanglage!

Es lässt sich bei aller Begeisterung des Rezensenten nicht leugnen, dass Leute wie Chris Robinson oder Derek Trucks selbst im Land der ehemals unbegrenzten Möglichkeiten nicht an jeder Ecke stehen, um abgeholt zu werden. Aber was dieses völlig unbekannte Quintett aus einer vollkommen Metropol-unverdächtigen Gegend hier alleine an Qualitäts-Songwriting in die Rillen ritzt, ist mehr als beachtenswert. Zehn Songs und allesamt Volltreffer … Atmosphäre, Aufbau, melodische Raffinesse, Riffs, ökonomisch eingesetzte Twinguitars, ökonomische Qualitäts-Saitensoli, diverse Slide-Leckerbissen, eine warme und ungemein effektiv eingesetzte B3-Orgel, traumhaft sicherer Rhythmus, angenehmer bis fesselnder Gesang, obwohl es sicherlich unangestrengtere und charakteristischere Kehlen im Business gibt, wunderbar differierende Tempi und nicht zuletzt gleich mehrere Granaten im langsamen Sentimentbereich … das ist schlussendlich für ein Debüt einfach nur extraklasse und Reinhard Holstein für diese Entdeckung uneingeschränkter Respekt zu zollen!

Fazit:
Eine schallende Ohrfeige für alle vermeintlichen Musikfreaks, die der Meinung sind, dass nach 1980 überwiegend nur noch verzichtbares im weiten Feld der Rockmusik erschienen sei.
Ein Freudenfest für alle, die sich an zeitlos guter (Rock)Musik und zeitlos guten Songs erfreuen können … mit Faible für Klänge des US-Südens im Spannungsfeld zwischen Rock’n’Roll, Country-Rock und Blues-Rock.


Line-up Tennessee Champagne:

Chris Kelley (vocals, bass)
Dan Britt (guitar)
Jonathan Grindstaff (guitar, slide)
Tim Hall (organ, vocals)
Bill Cowden (drums)

Tracklist "Tennessee Champagne" (Streaming Portale)

  1. Wicked (4:06)
  2. Thunder In the Mountains (3:03)
  3. Can’t Get Over You (4:29)
  4. Mountains in My Bones (3:54)
  5. Stompin' Grounds (4:46)
  6. Selfish Ways (5:02)
  7. Corn From A Jar (3:41)
  8. Singing To My Broken Heart (4:42)
  9. Shake It (4:20)
  10. Silver Tongue (6:14)

Tracklist "Tennessee Champagne" (Promo-CD)

  1. Wicked (4:06)
  2. Thunder In The Mountains (3:03)
  3. Can’t Get Over You (4:29)
  4. Mountains In My Bones (3:54)
  5. Silver Tongue (6:14)
  6. Stompin Grounds (4:46)
  7. Selfish Ways (5:02)
  8. Corn From A Jar (3:41)
  9. Singing To My Broken Heart (4:42)
  10. Shake It (4:20)

Gesamtspielzeit: 44:40, Erscheinungsjahr: 2020 (Streaming, LP)

Über den Autor

Olaf 'Olli' Oetken

Beiträge im Archiv
Hauptgenres (Hard Rock, Southern Rock, Country Rock, AOR, Progressive Rock)

2 Kommentare

  1. Steffen Nitzsche

    Ein guter Beitrag, eine gute Platte in diesen wirklich "realapokalyptischen Zeiten". Das trifft den Kern. Ein Tropfen auf dem heißen Stein. Leider aber auch mehr nicht. Es weckt trotzdem irgendwie nur Erinnerungen….an bessere Zeiten, alte Zeiten dort wo noch der Mensch Mensch war und Musik (Live)Musik. Wir befinden uns gerade Musikkulturell auf den Tiefpunkt der letzten 40 Jahre. So ist jedenfalls mein Empfinden. Die Songs sind jedenfalls hörenswert und sicher einen Kauf wert. Aber irgendwie kommen mir jetzt die Platten so vor als wären sie von einen anderen Stern importiert. Eine traurige Zeit trotz paar guten neuen Scheiben.

  2. Ralf Siemer

    Hallo Olli,
    du hast mit deiner Rezension nicht zu viel versprochen. Nach dem Durchhören der CD bin ich ebenfalls vollauf begeistert. Vielen Dank für deinen Tipp. Und wer nicht bis zum Erscheinen der CD in Deutschland bis zum März warten möchte, wie ich zum Beispiel, der kann ja direkt auf der Band-Webseite bestellen. Geht ruck-zuck.

    Beste Grüße
    Ralf Siemer

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