Ziguri. Dass das ein Bandname ist, steht fest, denn ich halte deren neues Werk "onetwothreefour" in den Händen. Ein Blick auf das psychedelische Cover und die Tracklist lässt aber die Annahme zu, dass er nicht willkürlich gewählt ist. Mal schnell gegoogelt und dann so Sachen gefunden wie: »Ane übern Ziguri hauen = eine über den Schädel schlagen«, »Gemüseart« oder »Zichorie«, also der Kaffeeersatz aus den Kriegsjahren.
Passt alles nicht, zumal bei der Recherche gerade "Pietra di Bismantova" läuft und ich dabei weder an Gemüse noch an Kaffee denke. Eine Maultrommel oszilliert durch Minuten, bis Percussion zu sphärischem Background einsetzt und weitere Minuten hypnotisch auf mich einprasselt. Unbeirrbar schwingt die elektrische Gitarre minutenlang mit den Fellen und laut Line-up muss da auch irgendwo ein Schneckengehäuse involviert sein. Mittlerweile hat mich der Drive der Nummer erfasst und ich sehe die Felsformation Pietra di Bismantova in den nördlichen Apenninen nebelverhangen vor mir. Selbst Dante Alighieri, der Dichter und Philosoph, hatte diesen mystischen Berg in seiner "Göttliche Komödie" erwähnt.
Das Stück ist abgefahren und so würde ich auch die drei Protagonisten, die dahinter stehen, bezeichnen. Klar, dass die nicht aus Bielefeld oder Klein Krottelbach kommen. Berlin Kreuzberg ist die Heimstatt und ganz ehrlich, nur in diesem Schmelztiegel können solche Kompositionen wachsen. Die drei Künstler kommen aus dem Theater- und Schauspielbereich. In der Vita finden sich u. a. Referenzen zu Can, Ash Ra Temple oder zu dem Theater 100Fleck. Das alles könnt ihr aber bitte selbst in der Bandbio nachlesen.
Gemäß der einen immer noch in tranceartigen Beschlag nehmenden Musik (gerade läuft mit "Radio Blisga" ein Stück über einen italienischen Anarcho Radiosender) muss Zigori eine adäquate Bedeutung haben und richtig, die Band erklärt: » Ziguri <tsiguri>. n. (Tarahumara Sprache) für Peyotl (Nahuatl). Mexikanische Pflanze, wissenschaftlich echinocactus Williamsii genannt. Das Ziguri enthält einen Alkaloiden, das Meskalin, welches die Eigenschaft hat, Halluzinationen hervorzurufen. «
Das passt!
"Skykiss", dieses 15-Minutenmonster setzt dem Ganzen die Trance-Krone auf. Zu einem unbändigen Rhythmusfeuerwerk von Bass- und Schlagzeug gesellt sich eine dezente Trompete. Immer wieder beben die Kalotten, wenn gewaltige Beckenschläge den Lavastrom aufglühen lassen. Eine Nummer, die Tote auferstehen lassen kann. "Skykiss" bedient bei mir ein Klischee, von rundumbetonierten Kellergruften in der Berliner Unterwelt, in denen Trancejünger abgespact ihren Seelen und Extremitäten zum Rhythmus freien Lauf lassen. Allein schon wegen diesem Track lohnt der Erwerb von "onetwothreefour", so man denn bereit ist, der Musik die Kontrolle über Hirn und Zeit zu überlassen.
Der erste Bonustrack stammt aus dem Jahr 1996, aufgenommen im Berliner Allzeit Musik Studio und wird von Roswitha Krell und Ines Burdow in französischer Sprache intoniert. Ebenfalls aus besagtem Studio und auch wieder mit den beiden Damen ist "DiaLekT". Die Lyrics basieren auf dem Theaterstück "Les nègres" von Jean Genet. Der Song ist, wie "Skykiss" gelebte Rhythmik. Es ist unmöglich, sich dieser hypnotischen Dynamik nicht hinzugeben. Trance Rock at it’s best.
An dieser Stelle eine ernstgemeinte Warnung von mir: Bitte nicht morgens auf der Fahrt zur Arbeit hören, denn ihr werdet an der Abfahrt zur Firma einfach vorbeifahren, weil man diese Musik nicht unterbrechen darf, ja, sie nicht unterbrechen kann.
Ein Aprikosenbrandy beendet die Bonusrunde auf "onetwothreefour". Das Stück, aufgenommen 1993 im Berliner Wasserturm Studio klingt sich aus dem rollenden Vorwärtsdrang des Vorgängers aus, beißt in Knie und Seele und wächst (bei mir) erst nach wiederholtem Hören.
Es ist aber auch wirklich keine leichte Kost, was uns Ziguri da stellenweise bieten. Wenn man sich Videos der Band anschaut, wird klar, dass man live eine Menge geboten bekommt. Die persönliche Anwesenheit der drei Musiker sowie deren Performance gibt der Musik eine weitere Dimension. Hut ab für das, trotz erstmal minimal erscheinendem Grundgerüst aus Bass (Dieter Kölsch), Schlagwerk (Udo Erdenreich) und Echogitarre (Günter Schickert), Ergebnis. Einmal eingestimmt auf die nicht alltägliche Kost, können sich neue Horizonte ergeben. Ist halt wirklich kein Kaffeeersatz oder Gemüse.
Unbedingt erwähnenswert ist auch, dass alle Nummern live auf einen Rutsch und ohne Sampling, Loops oder andere elektronische Hilfsmittel eingespielt wurden.
Und, liebe Bielefelder und Klein Krottelbacher, natürlich ist das auch Musik für euch. Einfach mal eine Fete ansetzen, "Skykiss" und "DiaLekT" abfeuern und am Schluss werden die Gäste auch den "Apricot Brandy" zu sich nehmen.
Line-up Ziguri:
Dieter Kölsch (drums, vocals, congas, percussion)
Udo Erdenreich (bass, jaw harp, vocals, percussion)
Günther Schickert (guitar, snailshell horn, trumpet, vocals, percussion)
Zam Johnson (percussion – #6, electronics – #7))
Roswitha Kreil (vocals – #6,7)
Karen Thastum (flutes – #6, vocals – #7)
Ines Burdow (vocals – #6,7)
Tracklist "onetwothreefour":
- Pietra di Bismantova (13:34)
- DOngO moto (05:04)
- Radio Blisga (07:13)
- SUN SONS SANS (06:37)
- SKYKISS (14:48)
- Hotel Babel (05:30) *
- DiaLekT (09:35) *
- Apricot Brandy III (14:16) *
Bonustracks *
Geamtspielzeit: 76:10, Erscheinungsjahr: 2016
2 Kommentare
ulli
14. September 2016 um 9:13 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Stimmt alles in der Kritik. Habs selbst gesehn, gehört und erlebt. Ulli
Dieter Kölsch
27. August 2016 um 14:07 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Sehr schön geschrieben. Mit Herz. Danke.
Grüße
Dieter Kölsch