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Gerry And The Pacemakers / You’ll Never Walk Alone – Vinyl-Single-Review

Gerry And The Pacemakers / You'll Never Walk Alone

Naja, wenn ein bekennender Liverpool-Supporter zu so einer Besprechung ausholt, dann muss man keinen besonderen Instinkt sein eigen nennen um zu wissen, dass hinter den folgenden Zeilen noch eine andere Motivation steckt als nur Musik.
Der FC Liverpool erwächst aus der Arbeiter-Szene – etwas, was in der heutigen Zeit selbst dort an der Anfield Road nicht mehr umzusetzen ist. Der Kommerz regiert überall. Aber draußen auf der Straße, in den Kneipen und auf der ganzen Welt, da schlagen die Herzen immer noch höher, wenn die rot bekleideten Helden ihre Arena an der Anfield Road betreten. »This Is Anfield«, steht am Zugang des Stadions im Spielertunnel und auch am Zugang zu meinem Wohnzimmer.

Ich bin selbst ein Kind aus einer Arbeiterfamilie, aufgewachsen auch auf der Straße und nur durch das große Glück begleitet, dass meine Mutter nichts anderes als das Wohl ihrer Kinder im Sinn hatte (und ganz nebenbei Kindererziehung erlernt hatte). Papa sah das alles gänzlich anders und hielt den Aufenthalt an der Theke in der Eckkneipe für zielführender, als sich mit seinen Zwergen auseinander zu setzen. Geschweige denn mit seiner Frau.
Das war damals so, die meisten meiner Grundschulfreunde würden nichts anderes berichten, erst sehr spät hab ich gelernt, meinem Vater ein Stück weit zu verzeihen. Er war ein Produkt seiner Zeit und seiner Sozialisation. Und genau so lief das auch in Liverpool. Eine Arbeiterstadt, ganz ähnlich wie Duisburg, wo die Dock-Arbeiter viel zu wenig Geld bekamen, um sich Hoffnungen auf ein gutes Leben zu machen.

Der Fußball gab ihnen Hoffnung, denn der LFC entwickelte sich in den Jahrzehnten nach dem Krieg zum englischen Rekordmeister und einem europäischen Top–Club. Endlich ein Halt, ein Stück Identifikation – etwas, was selbst der nicht so spektakuläre MSV uns immer geschenkt hat, nur nicht in diesem Jahr.

1963 produzierte Manager Brian Epstein, der an erster Stelle die Beatles in seinem Potfolio führte und die eben auch aus Liverpool stammten, diesen Song, der schon 1945 in dem Broadway Musical "Carousel" uraufgeführt wurde und den einst Frank Sinatra als Single auf den Markt brachte. Gerry Marsden adaptierte diese Nummer über Gemeinschaft, Glaube, Hoffnung und landete gleich einen britischen Nummer Eins-Hit. Ich übte mich damals gerade im Aufrechtgehen.

Dass der Song tiefe Wurzeln in aufbegehrender Rockmusik herauf beschwört, wäre eine markante Übertreibung. 1963 waren selbst die Rocker noch nicht besonders rockig, die Nummer lebte von ihrem betörenden, optimistischen Spirit, der in der langsam aber stetigen Steigerung innerhalb der Harmonien seinen Ausdruck fand. Ohne jeden Kontext wäre "You’ll Never Walk Alone" wohl im erweiterten Bereich der Schnulzengefahr gelandet, auch wenn die humanistisch positive Botschaft letztlich zeitlos und hoffnungsvoll daher kommt. Das musikalische Crescendo spielt dabei eine dezent im Hintergrund wirkende, aber überaus mächtige Rolle. Wer die Version vor 'The Kop' wahrnimmt, wenn die LFC-Fans ihren Song interpretieren, wird die dynamische Kraft des Songs erkennen.
Aber das Schicksal sollte dem FC Liverpool einige mehr als extreme Erfahrungen schenken, die man verstehen muss, um zu wissen, warum dieser Verein eben so viel mehr ist als nur ein Fußball-Verein. Er ist das Abbild des Lebens mit all seinen großartigen Höhen und seinen furchtbarsten Tiefen. Etwas, was kaum ein einzelner Mensch oder eine andere Gruppierung derart intensiv und komprimiert im Stammbaum findet.

1985 sollte ein großes Finale gespielt werden auf dem Hügel in Brüssel, dort, wo das Heysel-Stadion steht und das Atomium so stoisch zuschaut. Es wurde eine Katastrophe mit vielen Toten, weil es Stress auf der Tribüne gab, die schon damals nicht mehr sehr modern war. Ich hab den Platz mit meiner Mutter viel später besucht und  es war schwer, sich an all die furchtbaren Dinge zu erinnern, die ich damals während meines Studiums in Mainz am Fernseher mit anschauen musste. Dass das Spiel trotzdem angepfiffen wurde, werde ich nie verstehen.

1989 war ein schreckliches Jahr. Nicht, weil Liverpool am letzten Spieltag die Meisterschaft daheim gegen Arsenal in der Nachspielzeit verlor. Es war April, als der riesige Tross der Reds nach Hillsborough zog, um dem Pokal-Halbfinale beizuwohnen. Unter ihnen ein zehnjähriger Junge, dessen ein Jahr jüngerer Cousin einst ein legendärer Kapitän der Reds sein würde und aufgrund seines zarten Alters zuhause bleiben musste. Der Rest ist bekannt. Ein Teil der Gästetribüne brach damals ein und riss 96 Menschen in den Tod. Auch den kleinen Verwandten von Steven Gerrard. Die Zahl 96, verbunden mit zwei lodernden Flammen, zieren heute noch unsere Trikots direkt unter dem Kragen. Sie sind bei uns bei jedem Spiel. Ich habe einige dieser Trikots daheim im Schrank und trage sie mit tiefer Ehrfurcht. Und ich fühle mich mit jedem verbunden, der diese ebenfalls trägt.

Es war wieder Gerry Marsden, der unter anderem mit Paul McCartney seinen alten Hit "Ferry Cross The Mersey" neu aufnahm und so dem schrecklichen Ereignis ein künstlerisches Mal setzte.

Dass es ausgerechnet Stevie war, der 2014 und fast auf den Tag genau 25 Jahre nach dem Unglück von Hillsborough seine Mannschaft daheim gegen Chelsea auf den Platz führte, kurz davor, seit 1990 endlich wieder den ersten nationalen Titel zu gewinnen, nur um kurz vor der Halbzeit über den Ball zu stolpern und damit das entscheidende Gegentor einzuleiten, ist ein Teil des Dramas. Ich habe Steven Gerrard ähnlich verehrt wie Warren Haynes und es hat mir damals das Herz gebrochen, dass ausgerechnet er diesen fatalen Fehler begangen hat – er, der damals vor allem für seinen toten kleinen Cousin auf den Platz ging. Ich hab das Spiel in Bad Reichenhall geschaut und gehe wahrscheinlich nie wieder in den Club. Stevies großartige Karriere ging gefühlt an diesem Tag zu Ende.

Aber ich durfte 2001 auch etwas Außergewöhnliches erleben – nur, weil meine Mutter mir den Tipp auf verfügbare Karten damals gab. Im Endspiel um den UEFA-Pokal trafen sich im Mai in Dortmund mein FC Liverpool und Alaves aus Spanien, damals eine unglaublich offensivstarke Truppe mit dem Sohn von Johan Cruyff an der Spitze. Genau drei Jahre nach dem Fast-Pokalsieg des MSV gegen Bayern und genau acht Jahre nach der Besteigung meines einzigen Achttausenders im tibetischen Himalaya. Der 16. Mai scheint mein Schicksalstag zu sein. Das Spiel ist Legende und am Ende haben wir 5:4 per Golden Goal gewonnen. Damals dachte ich, dies sei nicht zu toppen, doch dann kam das Finale von Istanbul 2005 in der Champions League. Ich hab es bei meinen Eltern angeschaut und wollte bei Halbzeit heimgehen. Es stand 0:3 gegen uns und auf der anderen Seite stand die beste Abwehr der damaligen Welt. Der AC Mailand. Ich erinnere mich noch, wie ich in der Pause mit meinem Vater durch den Garten spazierte und er sagte: »Junge, jetzt musst Du da durch, da kannst Du nicht kneifen. Wenn wir untergehen, dann gehen wir eben unter.« Mein Papa mochte Liverpool auch sehr gern. Der Rest ist Geschichte. Wir sind zurück auf den Platz gegangen und ich nicht nach Hause. Und in sechs Minuten haben wir drei Tore geschossen.

Am Ende war es das Elfmeterschießen, bei dem ich die meiste Zeit hinter dem Stuhl im Esszimmer meiner Eltern versteckt kauerte und mehrfach verstorben bin. Aber Jerzy Dudeck hat drei Buden gehalten und Stevie den Pokal mit den großen Ohren in die Kurve getragen – zu den Klängen von "You’ll Never Walk Alone".
Und dann kam vor ein paar Wochen das Wunder von Anfield, seitdem weiß ich, dass es immer einen Weg gibt, egal wie weit entfernt der zu sein scheint.

Warum erzähle ich Euch dieses ganze Zeug auf einer Webseite, die mit Fußball gar nichts zu tun hat?
Eigentlich ganz einfach, es geht darum, wie ein eigentlich ganz simples und im Prinzip nicht sehr rockiges, kurzes Stückchen Musik unglaubliche Emotionen erwecken kann, wenn es in den richtigen Kontext gerät. Das bestätigt im Grunde die These meiner Kollegin Andrea und auch meine, dass Musik mit den richtigen Bildern oder anderen Kombinationen völlig neue Sphären erreichen kann. Dass dies in einem emotionalisierten Spielfeld wie dem Fußball besonders einfach ist, liegt auf der Hand.

Auch die B-Seite der Single, "It’s Allright" war damals in England ein großer Hit. Ein Beat, der mich ein wenig an Bossa Nova erinnert hat, aber ansonsten wenig Dauerhaftes in meinem Kopf abgelagert hat.

Wenn dieser Bericht online geht, haben wir hoffentlich den Pokal gewonnen und sind 'Champions Of Europe'.
Ich habe keine Ahnung, in welcher Form ich dieses Erlebnis überleben werde, wenn es denn so kommen sollte, ich hoffe, meine Gesänge werden nicht für die Nachwelt erhalten bleiben. Aber ohne sie wird es sicherlich nicht ausgehen. Doch wir werden mit Würde und Respekt feiern, genauso, wie wir untergehen. Tottenham ist nicht unser Feind, sondern nur unser Gegner. Wenn wir gewonnen haben, hat er uns zum Sieg angetrieben. Für einen großen Sieg braucht es immer einen großen Gegner. Schade, dass hierzulande viele Fans aus Dortmund oder München nicht in der Lage dazu sind, so etwas zu begreifen. Ein wahrer Kämpfer wird immer Respekt haben vor seinem Gegner. Demut und Fairness adeln den Sportsmann, nicht eine große Fresse und dämliche Sprüche beim Fatzebuck.

Und wenn ich am Montag zu Gov’t Mule nach Paris reisen werde, dann könnte es eine Art Triumphzug werden. Vom besten Fußballverein der Welt zur besten Rockband. Warren hat mit Fußball sicher nix am Hut, das ist auch gut so, wir wollen ja alle am Ende authentisch bleiben. So oder so aber können diese Tage welche werden, die mich den Rest meines Lebens begleiten werden.
God bless Liverpool and Jürgen Klopp.


Line-up Gerry And The Pacemakers:

Gerry Marsden (guitar, vocals)
Freddie Marsden (drums)
Les Maguire (piano)
Less Chadwick (bass)

Tracklist "You’ll Never Walk Alone":

  1. You’ll Never Walk Alone
  2. It’s Allright

Gesamtspielzeit: 4:46, Erscheinungsjahr: 1963

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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