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Lehnen / Negative Space – CD-Review

Lehnen / Negative Space

Lehnen stammen aus Österreich und ihre Musik erwächst aus dem Spannungsfeld zwischen Post Rock und Ambient, um die Vorstellung der Band knackig kurz auf den Punkt zu bringen. Auch wenn ich jetzt erstmals mit ihrer Musik in Kontakt geraten bin, sind die drei Jungs schon seit fünfzehn Jahren auf dem Markt aktiv und haben in der Vergangenheit bereits vier Alben an den Start gebracht. Im September erscheint nun "Negative Space".

Die Kompositionen vermitteln auf den ersten Blick eine grundsätzlich eher düstere Stimmung, stilvoll vorangetrieben durch wild schrammelnde Wellen repetitiver Gitarrenwände und massiver Klänge, die sich mit den warmen Synthie-Sounds zu messen und zu duellieren scheinen. Allein dadurch werden immer wieder atmosphärisch dichte Klangwelten erschaffen, die durchaus berühren können. Über diesen kompakten Instrumentalschichten kämpft die menschliche Stimme um ihren Platz, oft verzweifelt und monoton, ähnlich wie ein Surfer, der im tosenden Inferno eines Sturms versucht, über Wasser zu bleiben. Tatsächlich beschäftigt sich die Musik auf "Negative Space" mit den Ängsten des modernen Individuums in seiner digitalen und irrationaler werdenden Welt – in Zeiten einer weltweiten Gesundheitskrise irgendwie naheliegend. Doch auch ohne Virus könnte man in einer immer rascher sich verändernden Gesellschaft vor der Zukunft Furcht entwickeln und in dieser ein Stück weit verloren gehen.

Diese Suche nach Halt und Richtung beschreibt die Musik in unterschiedlich ausgeprägten Gefühlen, Saiten und Tasten fungieren zum Teil als Partner, dann wieder als Gegenspieler und Spiegel unserer Seelenzustände. Der Stimmungspegel schwankt hin und her, mal in aufbrausend verzerrten Saitentönen, mal in fast wohlig umschmeichelndem Ambient. Glücklicherweise bietet der Grundtenor des am Ende doch irgendwie tröstlichen Sounds keine morbide Hingabe an Resignation und Untergang, so etwas wie Endzeitstimmung kommt niemals auf, auch wenn in den ersten drei Nummern schon ein hartes Brett aufgefahren wird, wo die Härte des Ausdrucks sich auch in rhythmischen Breaks etabliert, die den Gesang und die Gitarren-Linien gekonnt kontrastieren.

Insgesamt aber sind die sich entwickelten Strömungen bei aller erkennbarer Dunkelheit in der Folge durchaus auch positiv. Durch ihre oftmals vorwärts orientierte Rhythmik, die sich aus zurückhaltenden Klangschichten heraus entwickelt, wird eher die Botschaft vermittelt, dass es immer einen Weg gibt ins Licht, dass es immer irgendwie weiter geht. Sehr schön nachzuhören im Übergang von "You Throw Light" zu "Elephant" mit seinem heftigen Cresceno. Hier entstehen ganz nebenbei sehr eigentümliche und ganz und gar wavige Melodien. Post Rock hat seine Wurzeln halt auch in einem bestimmten Teil der achtziger Jahre. Zu den inhaltlichen Themen der Songs stellt die Band beziehungsweise der Promoter ausdrücklich im begleitenden Infomaterial dar, dass der Mensch und seine Beziehung zur neuzeitigen Welt im Mittelpunkt steht, ohne einen Leitfaden zur Krisenbewältigung geben zu wollen. Ich zitiere: »Vielmehr wirft es (das Album) Fragen auf und blickt in den Abgrund der Depression, wenn auch nur um zu verkünden, dass sich niemand allein fühlen muss.«

Ja, das trifft es sehr gut und beschreibt die Metapher, die wir im ständigen Kontrast zwischen den postrockigen, oft bedrohlich wirkenden Klangtürmen und den sanften ambienten Wogen verspüren, was man besonders stimmungsvoll im Titelsong, "Negative Space", wiederfinden kann. Dabei scheint der beschriebene Raum gar nicht so negativ geladen zu sein, das vermitteln uns die zarten und irgendwie fast Glück verheißenden Synthie-Sounds und die sensible Gitarre an dieser Stelle einfach zu deutlich. Vielmehr scheint hier eine weitere Metapher angeboten zu werden, nämlich den "Negative Space" eher als Chance zu sehen, ihn mit neuem Leben, mit Hoffnungen und Zielen zu füllen. Eine deutlich positive Botschaft.

Das nachfolgende "Curtain" hat passend dazu fast schon hymnische Hooklines und "Obscura" stellt uns wohl im Sinne der Camera Obscura die abschließende Frage, wohin sich die Blickwinkel des Individuums richten. Nach dem Motto, es liegt an uns selbst, Dinge zu erkennen und in die Hand zu nehmen – wenn ich es denn richtig verstehe.

Für klassischen Post Rock sind die zehn Songs auf "Negative Space" eher kurz, keine einzelne Nummer ist länger als gut fünf Minuten. Doch schon beim ersten Anhören hatte ich das Gefühl, dass die Stücke mehr oder weniger ineinander übergeben, einen Flow ergeben. Als wenn man nachts durch eine fremdartige Großstadt wandert, mal verstört, mal befremdet, mal eingenommen – und reizüberflutet. Ein Mosaik aus Bildern und Erfahrungen. Wenn die Geister im Kopf darum ringen, wer die Oberhand behält. Und je mehr ich mich mit diesen psychologisch philosophischen Fragen befasse, die das Album ja wohl ganz bewusst aufwirft, umso mehr wächst die Musik in meinem Kopf und gewinnt eine eigenartige Schönheit. Ein Soundtrack für die eigene Suche nach Antworten. Eine gewisse Beziehung zu bewegten Bildern sagt man dem Post Rock im Allgemeinen eh nach, das Kopfkino ist an dieser Stelle eine gern gesehene Variante.
Ähnlich übrigens, wie bei einigen anderen Post Rock-Bands auch, bedient hier der Schlagzeuger den Synthesizer, das lässt sich auch auf der Bühne recht gut bewältigen.

Eine Anmerkung zur digitalen Welt und der Suche des Individuums nach Stellung und Orientierung kann ich mir dann auch nicht verkneifen, wenn ich durch diese Besprechung schon so eindrücklich auf das Thema gestoßen werde. Überall treffe ich auf Menschen, die ihr Essen nicht verzehren können, bevor sie nicht ein Foto davon geschossen und gepostet haben. Sie können kein Fußballspiel anschauen, ohne sich während des Spiels pausenlos in den sozialen Medien zum Spielverlauf zu äußern – von den Umgangsformen, die da teilweise praktiziert werden, mal ganz abgesehen. Wer unentwegt den Druck verspürt, dienstliches wie privates in einem virtuellen Raum mit oftmals nicht einmal persönlich bekannten 'FB-Freunden' zu teilen, der droht tatsächlich irgendwann verloren zu gehen. Da fragt man sich, leben diese Menschen noch im Hier und Jetzt oder aber in einer Matrix allgegenwärtiger sozialer Medien? Wer sich darin verzettelt, der kann wahrlich die Orientierung verlieren.
Vielleicht war ja das Selfie letztendlich die dümmste aller menschlichen Erfindungen. Der Mensch stellte sich plötzlich selbst in den Mittelpunkt, anstatt sich mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen und startete seinen Feldzug, sich immer und überall positionieren zu müssen, bis er selbst den Überblick verlor.

Ein Mittel gegen diese digitale Entfremdung? Na klar, hier habe ich eine Antwort! Musik hören und ab und zu raus in die Natur.


Line-up Lehnen:

Joel (vocals, guitar)
Matthew (drums, synths)
Steve (bass)

Tracklist "Negative Space":

  1. Hangman
  2. Mute
  3. Lacuna
  4. You Throw Light
  5. Elephant
  6. Thirty One
  7. Playact
  8. Negative Space
  9. Curtain
  10. Obscura

Gesamtspielzeit: 42:55, Erscheinungsjahr: 2021

Über den Autor

Paul Pasternak

Hauptgenres: Psychedelic Rock, Stoner Rock, Blues Rock, Jam Rock, Progressive Rock, Classic Rock, Fusion

Über mich

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