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Lüül & Band / Fremdenzimmer – CD-Review

Lüül & Band - "Fremdenzimmer" - CD-Review

Man kann wohl ohne Übertreibung behaupten, dass der Berliner Musiker, Sänger und Komponist Lutz Graf-Ulbrich, genannt Lüül, schon so einiges durch hat im Leben. Nach aufregenden Jahren mit den Bands Agitation Free sowie Ash Ra Tempel folgte eine sicher nicht weniger aufregende Beziehung mit der sagenumwobenen Chanteuse und Femme Fatale Nico (die auch am ersten Album von The Velvet Underground beteiligt war), er war Gründer und Bestandteil des Rocktheater Reineke Fuchs und ist (meines Wissens bis heute) Mitglied bei den 17 Hippies. Seit Anfang der achtziger Jahre veröffentlicht Lüül aber auch Soloalben und mir liegt nun sein neuestes Werk vor, auf dem er seine Songs – wie es aus seinem Umfeld heißt – deutlich eingängiger gestaltet hat. "Fremdenzimmer" nennt sich die Scheibe, was ganz alleine schon mal neugierig macht. Ebenfalls am Start sind seine Mitmusiker Daniel Cordes, Kerstin Kaernbach sowie Volker 'Kruisko' Rettmann und selbst wenn man nach dem Lesen des Line-ups staunt – ja, die Scheibe kommt tatsächlich ohne Schlagzeug oder Percussion aus.

Nochmal zum Line-up: Bereits nach kurzem Betrachten dürfte klar sein, dass wir es hier nicht mit einem Rock-Album zu tun haben. Vielmehr ist der Berliner ein sehr interessanter Liedermacher, der nicht nur einiges zu sagen hat, sondern dies auch tut. Seine raue Stimme erzählt dabei – selbst wenn man die Worte nicht verstehen würde – von einem ausgiebig gelebten Leben, in dem es außer den guten Zeiten auch so manche schlechte zu überstehen galt. So berichtet beispielsweise "Nächte und Träume" sowohl von Unerfülltem, als auch inneren Tumulten. Das kurze, aber sehr amüsante "Wankelmut" trifft die Thematik mit seinem Text wie den Nagel auf den Kopf bzw. für jeden ganz erschreckend-wundervoll nachvollziehbar. Das rockigste (fast schon punkige) Stück nennt sich "Schnauze voll" und handelt mit herrlich aggressivem Gesang eben genau davon. Und trotz deutlich wütenden Worten tauchen auch hier sanfte Streich-Instrumente auf. Herrlich! Der Beginn des abschließenden "Schwarz war die See" könnte fast von den Pogues etwa Mitte der Neunziger (bereits ohne Shane MacGowan) stammen. Ein tolles Ende, das sofort Bilder im Kopfkino des Hörers entstehen lässt.

Aber Lüül singt nicht nur über sein eigenes Leben, sondern er vermietet seine "Fremdenzimmer" auch eigenen Beobachtungen und andere Geschichten. Da ist beispielsweise das "Fräulein C.", die sich in einer ausgeprägten Midlife-Krise zu befinden scheint. Keine Lust mehr darauf, immer nur nett und lieb zu sein, entwickelt sie sogar leichte Stalker-Tendenzen, träumt davon endlich abzuhauen, nur um schlussendlich… tja, das offene Ende darf sich der Hörer dann alleine ausmalen. Mit einer guten Portion Humor ausgestattet (obwohl die gesungene Geschichte letzten Endes nicht wirklich witzig ist) kommt "Dumm gelaufen" über einen gewissen 'Held', der mindestens eine schlechte Idee zu viel in seinem Leben hatte. "Einfach so" ist die Story über zwei (bzw. später dann drei) Hauptdarsteller, die ein schnelles Leben leben. Sogar so schnell, dass sie gar nicht merken wie plötzlich die Realität einen einholen kann. Eine Breitseite gegen die moderne Technik stellt das (ebenfalls mit viel Humor, aber nicht klamaukig) gebrachte "Menschvermesser" dar.

"Leben ist gut"… ja, genau! Selbst wenn es mit der altersweisen Einsicht daher kommt, dass es nicht nur da draußen in der Welt, sondern auch im eigenen Land sowie sogar in der eigenen Nachbarschaft immer wieder Dinge gibt und geben wird, wegen denen man sich am liebsten seines Mageninhalts entleeren möchte. Diese Nummer kommt musikalisch wie eine herrliche Pariser Sommernacht mit Spaziergang an der Seine oder wahlweise am Montmartre daher. Ein sanftes Akkordeon, ein sanfter Kontrabass unterstützen sowie karikieren den sowohl wütenden, als auch machtlos-achselzuckenden Text meisterhaft. Und das Theremin von Kerstin Kaernbach? Ja, muss man unbedingt bei der Nummer "Party People" erleben.

Lüül hat mit "Fremdenzimmer" ein hochinteressantes und sehr starkes Album vorgelegt, das gänzlich auf die Drums und meistens auf eine Gitarre verzichtet. Stattdessen agieren hier ein Akkordeon, Streich-Instrumente, ein Kontrabass sowie allgemein eher weniger verwendete Instrumente wie Theremin, Marimba oder die singende Säge.

Ganz dicker Tipp für alle, die auf sehr gute deutsche Texte stehen und in der Lage sind, über den Tellerrand der Rockmusik hinaus blicken zu können.


Line-up Lüül & Band:

Lüül (Piano, Gitarren, Gesang)
Kerstin Kaernbach (Geige, Bratsche, Flöte, Theremin, Singende Säge)
Volker 'Kruisko' Rettmann (Akkordeon, Marimba)
Daniel Cordes (Kontrabass)

Tracklist "Fremdenzimmer":

  1. Nächte und Träume
  2. Fräulein C.
  3. Gut zu wissen
  4. Menschvermesser
  5. Leben ist gut
  6. Dumm gelaufen
  7. Wankelmut
  8. Dreier
  9. Hohe Wellen
  10. Einfach so
  11. Party People
  12. Schnauze voll
  13. Schwarz war die See

Gesamtspielzeit: 45:53, Erscheinungsjahr: 2018

Über den Autor

Markus Kerren

Hauptgenres: Roots Rock, Classic Rock, Country Rock, Americana, Heavy Rock, Singer/Songwriter
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Mail: markus(at)rocktimes.de

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