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The Neal Morse Band – Konzertbericht, 29.03.2019, Köln, Kantine

Neal Morse Band in Köln 2019

»Ladies and gentlemen, this is the first time ever,
that "The Great Adventure" comes to Germany.
And it’s also the first time ever in Germany,
that Mr. Neal Morse, the founder of Spock’s Beard, wears a beard.«

So sprach 'Mighty' Mike Portnoy, als gerade der erste Akt des aktuellen Albums, The Great Adventure", in der Kölner Kantine über die Bühne gegangen war.
Wer so flachst hat Spaß und das traf wahrlich auf die gesamte Band zu, es war ihnen aus dem Gesicht zu lesen. Und das Publikum? Das jubelte, grölte, klatschte und tobte vor Begeisterung. Schon jetzt, wo doch erst ein paar Minuten des großen Werks gespielt worden war.
Neal stand fast ein wenig hilf- und fassungslos vor der brodelnden Menge und nahm die frühen Ovationen kopfschüttelnd und lächelnd entgegen.

Schon auf dem Album war die Leistung des Ausnahme-Gitarristen Eric Gillette nicht hoch genug zu würdigen, heute Abend war er der heimliche Star in einer Band von Top-Musikern. »Ich stehe neun Meter vor Eric«, SMS-te ein Enthusiast neben mir an wen auch immer, Ausdruck von Respekt und Verehrung für den Hoffnungsträger des aktuellen Progrock schlechthin.

Aber der Reihe nach …
Wenn Du kurz nach dem offiziellen Einlass-Beginn anrückst, solltest Du einen guten Platz nahe der Bühne erwischen, denke ich mir und verzehre rheinisch passend erst einmal eine Portion 'Himmel un Äd' und ein paar Kölsch, bevor ich raus fahre nach Longerich. Die Kantine liegt für einen Gast, der Eisenbahn fährt, ziemlich weit im Nirwana. Vor Ort angekommen kann ich nur sagen:»Ich hatte einen Plan, doch der Plan war Scheiße.« Die Halle ist bereits jetzt fast bis zum Anschlag gefüllt und es entwickeln sich muntere tropische Temperaturen. An Bieraufnahme ist aber während des Konzerts nicht zu denken. Weggegangen, Platz vergangen, dieses Risiko gehe ich nicht ein und bin froh, dass ich wenigsten gut vorgeglüht habe.

Neal Morse

Neal Morse

Es ist ein großes Glück und Privileg zugleich, nach dem herrlichen Konzert in Aschaffenburg zur 'Road-Called-Home-Tour 2017' heute hier in Köln den zweiten Teil der großen Geschichte aus dem uralten Buch "The Pilgrims Progress" miterleben zu dürfen. Und der wird lauter und aggressiver als sein berühmter Vorgänger.
Schon in der "Overture" greift Neal zu seiner Fender, sie begleitet ihn heute sehr viel häufiger als das Keyboard. Und er agiert wieder – wie einst der Pilger, so nun der Sohn. Er geht völlig auf in der Rolle des Sohnes, wie der all seinen Frust und seine Enttäuschung auslebt, bis hin zum großen Finale. Es wird Neal bis an die Grenzen seiner eigenen Emotionen führen.

Die Virtuosität der Musiker in der Neal Morse Band zu beschreiben heißt Eulen nach Athen tragen, wir haben es mit einer Art Supergroup des Progressive Rock zu tun, die in jeder Position überragend besetzt ist. Allein die gesangliche Unterstützung neben einem so charismatischen Frontmann ist gänzlich außergewöhnlich, Bill Hubauer und Eric Gillette haben zahllose Einsätze auch in ganz entscheidenden Phasen der Geschichte, die sie mit Leidenschaft und Inbrunst stimmgewaltig rüber bringen. Und wer auf einem Basis-Groove der Herren Portnoy und George aufbauen darf, kann sich glücklich schätzen. Die köcheln bereits im ersten Satz einen wilden rhythmischen Paforce-Ritt, über dem die Solisten von der Leine gelassen werden. Die Band rockt wie Sau und bewegt sich in diesen Passagen ausdrücklich im Bereich des Prog-Metal und wenn Eric Gas gibt, dann fliegen die Kühe.

Sehr beeindruckend wirkt wieder, wie schon bei der letzten Tour, das begleitende Filmmaterial auf dem großen Screen im Hintergrund. Perfekt wird der Trip des Sohnes inszeniert, wenn er sich aus Wut, Frust und Trauer über den vorläufigen Verlust des Vaters auf die Reise macht, sein eigenes Leben und seine Bestimmung zu entdecken. Dass im Verlauf dieser Geschichte vermehrt auf gebirgige Motive zurückgegriffen wird, passt perfekt zu der archaischen Geschichte, die manchmal das Epos des "Herrn der Ringe" in sich zu tragen scheint. Und ganz nebenbei erfreut es einen alten Bergmenschen wie mich, der diese Bildsprache nur allzu gut nachvollziehen kann.

Mit dem zweiten Akt beginnt der Trip des Sohnes, die nachhaltig wirkende Melodik und die treibende Dynamik von Songs wie "Welcome To The World" oder "I Got To Run" sind genau das geeignete Material für die Bühne. Ein wenig aggressiver noch als auf dem Album zelebrieren unser 'Fab-Five' ihre Spielfreude und Virtuosität, man spürt, wie sehr die Band den Augenblick genießt. Und dann immer wieder diese genialen Stimmungswechsel, wenn Neal mit hinreißender Einfühlsamkeit den Sohn "To The River" schreiten lässt, wo ein Wendepunkt in der Handlung der Geschichte erreicht ist.

The Great Adventure

The Great Adventure

Zum Titelsong zitiert Neal vorab eine Textzeile:»Anything can happen here«. Genau wie heute Abend. "The Great Adventure" ist wohl der Song mit der meisten positiven Energie in der gesamten Story, bevor die dunkleren Passagen die mitunter beklemmenden Empfindungen des Protagonisten auf der Suche nach seiner Bestimmung ihre musikalischen Schatten voraus werfen.

Spannend, wie die Charaktere der Musiker hier immer wieder zum Ausdruck kommen. Mike, der immer mal eine kleine Sondereinlage zur Schau stellt und für jeden Blödsinn zu haben ist, während Randy  tiefenentspannt in sich ruht. Bill, der sanftmütige, der auch bei seinen Soli völlig bei sich bleibt, eigentlich ganz ähnlich wie Eric, der in erstaunlich zurückhaltendem Understatement agiert. Dabei singt er zum Niederknien und spielt längst die wahrscheinlich geilste Gitarre im progressiven Universum. Aber Neal bleibt immer der Steuermann, egal, ob er selbst die Harmonien gestaltet oder seine genialen Kollegen begleitet. Er ist immer Herr des Geschehens und alle sind auf ihn fokussiert. Live-Musik spielt man auch mit Augen und Ohren – hat mir mal sinngemäß ein Musiker aus dem Badischen erklärt.

In der Pause wage ich mich nicht vom Platz, auch wenn der Flüssigkeitshaushalt dringend nach Nachschub schreit. Ich bin froh, wenn das klassische Interlude den zweiten Teil und damit die Akte 4 und 5 der Geschichte ankündigen. Dort, wo Eric uns erst einmal mit riffigen Eskapaden und diversen Solo-Krachern überfällt und auch Bill vorübergehend mit der klassischen Schweineorgel zum Angriff auf unsere Nackenmuskeln bläst. Ja, die Neal Morse Band dreht mitunter weit mehr auf, als es Transatlantic oder Spock’s Beard je getan haben.

Dass mich die Musik im Verlauf des Albums wie auch des Konzerts immer wieder mal an Genesis erinnert, hängt sicher nicht nur mit einer musikalischen Genetik zusammen. Wenn Neal wie in "Vanity Fair" in Kostümierung und Maskerade schlüpft, dann weckt das selige Erinnerungen an die Zeit, als der große Peter Gabriel noch bei Genesis manch abgefahrene Verkleidung präsentierte.

Vanity Fair - Neal Morse

Vanity Fair – Neal Morse

Erstmals übermannen mich die Emotionen innerlich und sehr versteckt bei "Child Of Wonder", welches durch das Bühnenbild so wunderschön untermalt wird. »The world is in your hand.« Wohlige Schauer, eine große Portion Ergriffenheit und die nun nicht mehr zu kanalisierende Vorfreude auf den Höhepunkt der Geschichte gehen damit einher: "The Great Despair". Das Gitarrensolo sprichwörtlich auf dem Gipfel des Plots, wo der junge Held in tiefster Verzweiflung am Scheideweg seiner eigenen Geschichte anlangt, kulminiert in einer einzigartigen Urgewalt aus tiefstem Einfühlungsvermögen, dramaturgischem Genie und spieltechnischer Weltklasse. Eric selbst führt durch den Song mit seinem großartigen Gesang, der hier mal reziprok von Neal an der Gitarre untermalt wird, hin zum Break, aus dem am Ende etwas herauswächst, was uns David Gilmour in den späten Siebzigern in "Comfortably Numb" beschert hat. Ein Stück Musik fürs ewige Universum.

»Eric, mach uns fertig« grölt jemand im Hintergrund, wenn der junge Amerikaner zu seinem großen Auftritt ausholt. Davon gibt es hier leider keine Fotos zu sehen, denn ich schließe jetzt die Augen, die nun nicht mehr nur vom Schweiß benetzt sind, hole tief Luft und lasse mich von Erics göttlichen Licks davontragen. In so einem Moment öffnet sich für einen Augenblick die Vision eines unendlichen Spektrums aus Friede, Glück und Liebe, der Rock’n’Roll-Himmel heißt uns willkommen. Ich bin eins mit der Musik, eins mit den Dingen, mit mir selbst – und vor allem all den anderen um mich herum. Denn die fühlen das Gleiche, das ist unschwer zu erkennen. Das liegt nahe bei Erleuchtung.

Eric Gillette

Eric Gillette

Dabei bleibt am Ende für Jubelorgien kaum Zeit, da das Werk und damit das Konzert nun in den Moment überleitet, wo Vater und Sohn am Ende einer langen Reise wieder zusammenfinden. Sie tragen diese hoch energetische Nummer, die an "The Battle" vom ersten Album sowohl stilistisch als auch dramaturgisch erinnert, derart intensiv vor, dass Neal sich am Ende des Songs weinend unter seinem Keyboard verkriecht. Dann, wenn Eric ganz sanft und reflektiv aus der Nummer hinaus driftet und danach kurz die Bühne verlässt. Die ungeheure Wucht des Themas mit seinen thematischen, aber auch religiösen und familiären Bezügen überwältigt Neal, den gottesfürchtigen Mann und liebenden Familienvater. Auch in dieser Nummer wird die Szenerie vom tief sensiblen Bühnenbild im Hintergrund ergreifend umgesetzt, wenn vor einem brodelnd glühenden Horizont am Grat eines Berges die beiden Protagonisten sich beidseits eines Abbruchs nähern, die Hände entgegenstrecken und letztlich zusammenfinden.
Ehrlich, wer jetzt nicht mit heult, an dem ist das Leben vorbei gegangen.

Und so versöhnen sie mich heute Abend auch mit dem hymnischen Abschluss "A Love That Never Dies". Die Schönheit der Harmonien habe ich ja nie in Frage gestellt, auf dem Album war es mir halt eine Spur zu bombastisch. Hier und jetzt in der etwas raueren Live-Fassung, mit Erics gänsehauterzeugendem Gesang und seiner kulminierenden Monster-Gitarre, mit all den mitsingenden Freunden ringsum – da durchdringt mich der Geist des Songs und mir wird endlich und endgültig klar, dass "The Great Adventure" seinem Vorgänger ebenbürtig ist. In der Kombination ist es einzigartig und unerreichbar für alle Zeiten.

Wie sehr Neals Musik die Menschen erreicht, habe ich damals in Aschaffenburg wie heute hier in Köln gespürt. Das ist anders als bei normalen Konzerten. Auch Menschen, die mit den religiösen Aspekten in Neals Schaffen nichts am Hut haben – und das dürften sicher die meisten der heute anwesenden gewesen sein – sie spüren doch diese einzigartige Intensität, jene über gewöhnliche Spielfreude und Lust an der Musik weit hinausgehende, tiefe Inspiration, die uns diese fünf unglaublichen Künstler vermitteln. Die Gefühlsausbrüche und Ovationen von Köln waren dafür ein guter Indikator und der verdiente Lohn für Musiker, die sich die Seele aus dem Leib gespielt haben.

Eric, Neal und Bill

Eric, Neal und Bill

Nach so einer eindrücklichen Inszenierung noch einmal weiter zu machen, ist sicher keine einfache Aufgabe. Sie lösen diese perfekt und bringen ein umfangreiches Medley mit Songs aus Neals verschiedenen Solo-Projekten. Bekannte Nummern wie "The Temple Of The Living God" verführen das textsichere Publikum immer wieder zu Gesangseinlagen, es herrscht eine unglaublich liebevolle Beziehung zwischen Bühne und Publikum. Und als der herrlich mitreißende Refrain aus "The Call" angestimmt wird, finden wir eine Reminiszenz an die letzte Tour, wo dieser Song im Zugaben-Block meist den Abschluss bildete. Große Freude schon jetzt. Was ich aber nicht zu träumen wagte wird dann auch noch wahr. Zum Kehraus spielen sie noch einmal das Finale von "The Silmilitude…". Noch einmal bekomme ich es live zu spüren, das einzigartig tiefe und bewegende "Broken Sky/Long Day (Reprise)".

»The son’s coming home.« Hier und heute trifft es doppelt zu und wie sich das angefühlt hat, darüber schreib ich jetzt kein Wort mehr.

Später, an der Haltestelle der Straßenbahn unterhalte ich mich mit zwei weiteren Konzertbesuchern. Und wieder landet das Gespräch bei Eric und seiner irgendwie außerirdischen Spielweise. »Spielt der eigentlich nur in der Neal Morse Band oder macht der noch was anderes?«
Aus tiefer Überzeugung darf ich den beiden Erics Solo-Projekt ans Herz legen, dessen CDs ich daheim habe und mit dem dazu gehörigen T-Shirt ich mich heute Abend ausgestattet hatte.
Eric wird der Star dieser Tour, ich habe es ja geahnt. Und Neal lächelt still, denn er weiß, welches Vermächtnis er den Menschen geschenkt hat. Er, der sich als Werkzeug seines Gottes sieht und der doch so hinreißend menschlich ist. God bless you, Neal Morse.


Line-up The Neal Morse-Band:

Neal Morse (vocals, guitars, keyboards)
Mike Portnoy (drums, vocals)
Randy George (bass)
Bill Hubauer (keyboards, vocals)
Eric Gillette (guitar, vocals)

Setlist:

Overture

  1. The Dream Isn’t Over
  2. Welcome To The World
  3. A Momentary Change
  4. Dark Melody
  5. I Got To Run
  6. To The River
  7. The Great Adventure
  8. Venture In Black
  9. Hey Ho Let’s Go
  10. Beyond The Borders

Overture 2

  1. Long Ago
  2. The Dream Continues
  3. Fighting With Destiny
  4. Vanity Fair
  5. Welcome To The World 2
  6. The Element Of Fear
  7. Child Of Wonder
  8. The Great Despair
  9. Freedom Calling
  10. A Love That Never Dies

Encore:

  1. The Land Of Beginning Again
  2. Reunion
  3. The Temple Of The Living God
  4. The Conflict
  5. Leviathan
  6. It’s For You
  7. Momentum
  8. The Call
  9. Broken Sky/Long Day (Reprise)

 

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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