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V.A. / KRAUT! – Die innovativen Jahre des Krautrock 1968 – 1979 – Teil 2 – 2CD-Review

V.A. / KRAUT! – Die innovativen Jahre des Krautrock 1968 – 1979 – Teil 2 – CD-Review

Das Warten hat ein Ende: Nachdem wir im März dieses Jahres den ersten Teil der Reihe Die innovativen Jahre des Krautrock 1968 – 1979 vorgestellt haben, liegt nun der zweite der insgesamt vierteiligen Reihe vor.
Widmete sich Teil 1 dem Norden, so treffen wir auf vorliegendem Album auf Bands aus der Mitte Deutschlands. Aber Obacht, es geht um die Jahre 1968 bis 1979, eine Zeit also, in der die Mitte Deutschlands geografisch weiter links und nicht wie heute in Thüringen liegt.

Bei der Gelegenheit muss ich daran denken, wie wohl eine Reihe über die damalige musikalische Ostszene ausfallen würde. Da gab es ebenfalls jede Menge musikalische Leckerbissen. Aber wir bleiben in der Mitte des Westens und ich bin erstaunt, dass es doch so einige Bands auf dem Sampler gibt, die mir erstens unbekannt waren und die mich zweitens umhauen. Wie zum Beispiel Sperrmüll oder Shaa Khan. Dabei befindet sich die letztgenannte Band im RockTimes-Index, auch mit dem Album The World Will End On Friday, dessen Titeltrack sich auf CD 1 befindet.

Die unbekannten Bands zu entdecken ist mit einer Ausgabe des Labels Bear Family ein recht einfaches Unterfangen, denn auch dieses Mal hat Burghard Rausch jede Menge an Informationen im 100-seitigen(!) Booklet zusammengetragen. Ein jeder wird mit Sicherheit jede Menge Neues erfahren. So über das Glück für die deutsche Musikwelt, dass holländische Grenzschützer die amerikanische Band Sweet Smoke aus Brooklyn nicht einreisen ließen. Die Band wollte nach einem dreimonatigen Aufenthalt in der Karibik (dort haben sie jede Woche an sechs Tagen sechsstündige Konzerte gegeben!) nicht mehr in die Staaten zurück, sondern nach Amsterdam, weil die dortige Hippieszene in allen Farben blühte. Es klappte aber, wie gesagt, wegen der holländischen Zöllner nicht und sie landeten in Deutschland.

Dort lebten sie ganz nahe der niederländischen Grenze in einer Kommune und bespielten Festivals sowie die benachbarten Länder. Man darf ihr Debütalbum Just A Poke, das aus nur zwei Stücken besteht, durchaus legendär nennen, denn es zeigt die hohe Improvisation- und Spielfreude der Band, deren Live-Line-up aus bis zu 15 Musikern bestand. Vom Debüt hat man "Silly Sally" auf den Krautsampler gepackt und es ist auch heute noch ein innerer Vorbeimarsch, diese als Ping Pong-Stereo bekannte Nummer zu genießen. 16 ½ Minuten jazzige Psychedelic mit herrlichem Drumteil, welches von einem Stereokanal zum anderen springt.

Musikalisch ist die Ausrichtung der Compilation breit gefächert. So breit, wie es der damalige Output deutscher Bands eben war. Härteren Tunes, wie etwa Lilac Angels, stehen die typisch krautigen Psychedelic-, Progressive- und Art Rock-Bands gegenüber, ergänzt durch Krautfolk von Witthüser & Westrupp oder Hölderlin über den Politikrock à la Floh de Cologne hin zu jazzigem Kraut wie Doldingers Passport oder die genialen Message, deren Platten ich damals vor der Internet-Zeit schwer suchen musste. Deren Mischung aus einerseits progressiven Folkelementen und Dank Gebläse auch jazzigem Touch hatte mich damals fasziniert.

Gerade solche Zusammenstellungen machen einem immer wieder deutlich, wie vielfältig und unterschiedlich die Musiker damals unterwegs waren. Wer sich der Gnade der frühen Geburt rühmen kann, weil er viele der vertretenen Gruppen in deren Blütezeit erleben konnte, wird mir beipflichten, wenn ich behaupte, dass die Gegenüberstellung mit der zeitgenössischen Musiklandschaft eindeutig positiv für die alten Krautrocker ausfällt – wenn das die meisten Spätgeborenen auch (mit dem Recht ihrer Zeit) anders sehen mögen.

Was aber relativ gleich geblieben ist, ist im Vorwort von Burghard Rausch zu lesen, denn schon Ende der Sechziger lehnte sich ein großer Teil der Jugend gegen das Establishment auf, war gegen die »Voreingenommenheit der Medien und gegen die generelle US-amerikanische Vormundschaft«. Es scheint, als ändere sich außer der Musik nicht allzu viel.

"KRAUT! – Die innovativen Jahre des Krautrock 1968 – 1979" ist mehr als ein Stück Musikgeschichte. Es ist vielmehr ein Rückblick auf eine Zeit, die einen eigenen Soundtrack für sich in Anspruch nehmen kann. Einen Soundtrack, dessen zweiter Teil nun verfügbar ist und die Wartezeit auf Teil 3 kurz werden lässt. Wer nicht alle vorhandenen Bands kennt, wird schönes Neues entdecken. Alle anderen dürfen – durchaus auch verklärt – der alten Zeiten gedenken. Wobei, Musik ist zeitlos und die hier sowieso …


Tracklist "KRAUT! – Die innovativen Jahre des Krautrock 1968 – 1979 – Teil 2":

CD 1:

  1. La Düsseldorf: Rheinita
  2. Lilac Angels: Rock ’n' Roll Lady
  3. Message: Turn Over
  4. Sweet Smoke: Silly Sally
  5. Klaus Doldinger’s Passport: Uranus
  6. Conrad Schnitzler: Ballet Statique
  7. Gomorrha: Lola
  8. Streetmark: Eileen
  9. Straight Shooter: Friday On My Mind
  10. Annexus Quam: Osmose I
  11. Floh de Cologne: Fließband Baby (Manchmal träum ich)
  12. Necronomicon: Tips zum Selbstmord
  13. Shaa Khan: The World Will End On Friday

CD 2:

  1. Bröselmaschine: Schmetterling
  2. Sperrmüll: No Freak Out
  3. Triumvirat: Dimplicity
  4. Electric Sandwich: China
  5. Witthüser & Westrupp: Illusion I
  6. Hölderlin: Waren wir
  7. Pell Mell: Toccata
  8. Wallenstein: Braintrain
  9. Epitaph: Outside The Law
  10. Faithful Breath: Autumn Fantasy – 1st Movement – Fading Beauty
  11. Sixty-Nine: Crayfish
  12. Xhol (Caravan): Planet Earth

Gesamtspielzeit: 75:31 (CD 1), 77:02 (CD 2), Erscheinungsjahr: 2020 (1968-1979)

Über den Autor

Ulli Heiser

Hauptgenres: Mittlerweile alles, was mich anspricht
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Mail: ulli(at)rocktimes.de

2 Kommentare

  1. Manni

    "Uranus" von der ersten Passport-Platte ist ein Hinhörer wegen dem anmachendem Schlagzeugspiel von Udo Lindenberg. Der sitzt bei allen Tracks des Albums an den Drums und er hat’s echt drauf!

    Kuriosum: Der Udo hat mit Klaus Doldinger auch die Tatort-Erkennungsmelodie eingespielt…

  2. Michael Breuer

    Hi Ulli,

    tolle Schatzkiste, die Du oder besser das Label da aufgemacht hat. Und hey, Shaa Khan waren bei uns in Duisburg damals Ende der Siebziger ziemlich populär, die klare Nummer 2 nach der Bröselmaschine. Alle meine Kumpels und natürlich ich auch hatten das Vinyl von World Will End On Friday daheim. Auch glaube ich sogar, die haben mal bei uns in der Aula der Schule gespielt.

    Fehlt nur noch Alma Ata, die ein Jahr später mit Dream auch ein schönes Album eingespielt haben, dann hat man Duisburgs historische Rockgeschichte ziemlich umfassend beisammen. Die haben mit ihrem Song Rheinhausen übrigens damals den Stahlarbeitern im Arbeitskampf zur Seite gestanden und Frontmann Dagmar Albert Horn hat nicht nur zum Aufstieg des MSV vor ein paar Jahren vor 15.000 Menschen auf dem Rathausplatz das unglaublich geile Duisburg-Lied intoniert (im Original damals mit den Co-Vocals von Ex-MSV-Stürmer Peter Közle und Bülent Aksen, Torwart von Handball-Bundesligist OSC Rheinhausen aufgenommen), er hat auch Gitarre bei den Silvergreens gespielt, eine Senioren-Rockband aus dem Senioren-Zentrum der AWO, wo meine Mutter bis zuletzt gelebt hat. Was für ein wundervolles Engagement, tiefster Respekt und all meine Empathie für so eine bewegende und wichtige Arbeit.

    In Duisburg hat eben alles ein bisschen mit Herz zu tun, schön wenn Rockmusiker da an vorderster Front voran gehen.

    LG
    Michael

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