Wie sehr doch Musik Stimmungen reflektieren und tragen kann …
Dass mein diesjähriger Geburtstag kein so toller sein würde, da ich meine Mom vor Monaten – am Ende alternativlos – dem überlassen musste, was ich immer verhindern wollte, wird jedem einleuchten, der Menschen hat, um die er sich sorgt. So habe ich im Vorfeld ausdrücklich meine besten Freunde gebeten, von entsprechenden Geburtstagsbekundungen Abstand zu nehmen. Weil ich in meiner bayrischen Wahlheimat, wohin ich mich auch in diesem Jahr wieder zurückgezogen habe, eh nur mein olles Handy zur Hand habe. Aber wo ich vor allem auch Abstand suche zu all dem, was mich in den letzten Monaten, vielleicht zwei Jahren umgeben hat. So richtig feierfreudig macht das nicht.
Und dann liegt an meinem Geburtstag "The Lone EP" von Warren Haynes im Postfach, in 83435 Bad Reichenhall. Nein, ganz zufällig kommt das natürlich nicht, ich hatte kurz vor der Abreise diese, eher seltene CD, im Internet entdeckt und dorthin bestellt. Und an einem Tag, an dem der ruhmreiche Champions League-Sieger FC Liverpool mir ein Geburtstagsvideo hat zukommen lassen (das nenne ich mal Fan-Betreuung!!!), darf ich neuen Klängen meines Meisters lauschen. Meine Herren!
Warren Haynes, allein mit der Klampfe vor seinem Publikum, das ist sicherlich nicht neu für mich. Sein herrliches Album "Live At Bonaroo" steht natürlich daheim im Regal und seine Performance 2018 auf der Bühne von Red Rocks ist mir noch bestens in Erinnerung.
Es ist ein wenig die Kombination aus einer selbstreferenziellen Reflektion an einem Tag wie diesem und die Konfrontation mit dem Menschen, der einen künstlerisch wie sozial auf diesem Planeten am meisten beeindruckt und beeinflusst hat. Ich kann nur schwerlich beschreiben, wie sehr ich Warren und seine Musik verehre und welches Durcheinander das in mir herauf beschwört.
Für diese kleine Scheibe hat er ein geniales Gefühl bei der Zusammenstellung der Songs bewiesen – wie könnte es auch anders sein. Aber wir haben kein durchgängiges Live-Album vor uns, so wie es Gov’t Mule meist produzieren, die Songs sind aus verschiedenen Jahren zusammengestellt und repräsentieren einige der besten unplugged-Nummern, die Warren je gespielt hat.
Alle Stücke, bis auf "Indian Sunset", (geschrieben von Elton John und Bernard Taupin) entstammen der Feder des Meisters, wenn auch für unterschiedliche Abnehmer. So endet diese EP, um einmal das Pferd von hinten aufzuzäumen, mit einer fantastischen Version von "End Of The Line", eigentlich eine höchst energetische Nummer auf dem Allman Brothers-Album Shades Of Two Worlds, bei ABB ein echter Kracher und Abräumer. Wenn Warren mit seiner einfühlsamen Stimme und der geslideten Klampfe über diesem Song reflektiert, erwächst er in einen höheren Orbit, das Universum öffnet sich für puristisch reduzierte, aber geniale Riffs und Lines und einen Gesang, der ohnehin nicht von dieser Welt stammt.
Aber es ist fast ein Sakrileg, den hinreißenden Auftakt nicht als erstes zu erwähnen. "Patchwork Quilt" habe ich schon in verschiedenen Versionen erlebt, sowohl von meinen geliebten Maultieren wie auch von Warren mit seinem Ashes&Dust-Projekt. Und selbstredend auch Solo. Es ist eine Nummer wie auf den Leib geschnitten für den Gefühlsflüsterer, der uns mit seiner rauen, aber so einnehmenden Stimme und seinem unvergleichlichen Gitarrenspiel mitzunehmen versteht. 2016 verbrachte ich meinen Geburtstag mit meiner Mutter auf einer Insel im Chiemsee und abends erklang Warrens damaliges Soloprojekt zu einem unbeschreiblichen Sonnenuntergang. Nein, Musik ist eben nicht nur Musik, es hängen so viele Erinnerungen und Assoziationen daran, dass man manchmal gar nicht mehr weiß, wie man die Wucht all dieser Emotionen in die Reihe bringen soll.
Da passt es perfekt, dass Warren "I’ll Be The One" anschließt. Ein Song, der mich durch viele Mule-Konzerte begleitet hat. Er lebt in seinen ersten Strophen von Warrens eindringlichem Gesang, egal ob vor der Band oder nur mit seiner Gitarre, ein Liebeslied kann man auf vielen Wegen ins Herz leiten. Und wenn Warren den Schlag auf die Saiten nur minimal verstärkt, ergibt sich sogleich ein geheimnisvolles Gefühl von Intensität. So etwas bringt kein normaler Sterblicher zustande, dafür musst du von wem auch immer berührt worden sein.
Aber irgendwie erscheint mir das alles nur eine Art Einstimmung zu sein, bis mit "Indian Sunset", eine scheinbar bislang nicht veröffentlichte Nummer folgt, die alle Hüllen bricht und Emotionen so schonungslos darlegt, dass einem wirklich die Tränen kommen. Der Song lebt zunächst allein von Warrens sehnsüchtigem Gesang und man fragt sich zwangsläufig, ob es Americana schon einmal eindringlicher gegeben haben mag als hier. Die saitentechnische Phrasierung bleibt auch in der Folge ungemein dezent, Warren setzt seine Emotionen voll und ganz in seine Stimme. In solchen Momenten ist er unschlagbar.
Er spielt eine der geilsten Rock-Gitarren aller Zeiten, wenn es an der Zeit ist, aber wenn er ganz leise und bei sich selbst ist, dann nimmt er uns mit auf eine Reise in seine Heimat und in seine Seele, wie es kein anderer tut.
Ob mir da "Fallen Down" in diesem Kontext passt? Aber sicher! Der Track mit seinem irgendwie nach den Grateful Dead klingenden Auftakt passt perfekt in das reduzierte Konzept eines unplugged-Songs. Ich hab ihn im Rahmen meiner Gov’t Mule– und Warren Haynes-Konzerte schon oft und in unterschiedlichen Versionen erlebt.
Was geschieht, wenn Warren zum Schluss das Bottleneck aufsetzt, hab ich schon beschrieben.
Es ist ein verstörend schönes Gefühl, wenn man feststellt, dass egal, in welcher Phase des Lebens, man sich auch immer befinden mag, immer wieder eine Konstante für Glück und Freude sorgt – wenn die Menschen, deren Werke man mit tiefster Zuneigung und Hingabe begegnet, immer wieder deinen Weg kreuzen und dich daran erinnern, wie großartig das ist, dem du da folgst.
Heute denke ich mit Wehmut an Tage zurück, in denen es denjenigen, die ich liebe, sehr viel besser ging. Und es ist wieder einmal Warren, der mich herausholt aus einer vermeintlichen Melancholie. Er, der das Leben besser beschreiben kann, als es das Leben selbst tun könnte. Er ist es, der Trost, Hoffnung, Mut und Erfüllung schenkt.
Hey, und da ich neulich das neue Video zur aktuellen Gov’t Mule-DVD gesehen habe (die CD dazu haben wir ja besprochen), habe ich die Hoffnung, dass über Derek Trucks und Marcus King hinaus die Geschichte der von Warren Haynes beeinflussten Musik immer weiter geht. Wenn das in der Sequenz nach dem unschlagbaren "No Need To Suffer" mal nicht sein Sohn war, der dort schon in sehr jungen Jahren die Gitarre malträtiert. Das Alter passt ja perfekt. Ich bin mir sicher, dass Warren Haynes dafür sorgen wird, dass sein Nachwuchs verstehen lernen wird, was die Welt von ihm ersehnt. Ich habe einst meinen damaligen Nachbarn versprochen, ihren kleinen Sohn irgendwann mit meinen Helden bekannt zu machen, von denen sie auch ohne ausdrückliche Bindung an Rockmusik total begeistert waren. Der Junge ist erst knapp drei Jahre alt und mit Gov’t Mule wird es da allmählich eng, denn Matt ist bereits 66 Jahre alt. Doch wer weiß, vielleicht wird irgendwann Vater Haynes seinen Sohn auf seinen Pfad bringen, so wie er einst Derek Trucks mit elf Jahren die ersten Griffe auf der Gitarre zeigte. Was aus dem geworden ist, wissen wir alle. Es wäre der Touch Down der Generationen und für mich, der keine eigenen Kinder hat, die ultimative Staffelübergabe an Menschen, die mir nahe sind, auf dass unsere Musik niemals untergehen wird.
Was Warren Haynes mir bedeutet, kann man eben nur schwer umschreiben, doch am Ende gilt für mich immer nur eins: Nichts und niemand ist wie Gov’t Mule!
Line-up Warren Haynes:
Warren Haynes (guitar, vocals)
Tracklist "The Lone EP":
- Patchwork Quilt
- I’ll Be The One
- Indian Sunset
- Fallen Down
- End Of The Line
Gesamtspielzeit: 27:27, Erscheinungsjahr: 2003



2 Kommentare
Jürgen aus Bonn
7. September 2019 um 13:01 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hallo Michael,
eigentlich habe ich mir geschworen, keinen Beitrag mehr von Dir zu lesen, da dies für mich stets mit Folgekosten verbunden ist (zuletzt die Kritik über die beiden Mule-Konzerte in Paris und Frankfurt, die ich später bei Muletracks erworben habe).
Und jetzt: "The Lone E.P." Zwar habe ich deren Musik schon seit längerem digital, aber Deine Formulierung "dann liegt [sie] … in meinem Postfach" hat mich daran erinnert, dass ich ein ewig Gestriger bin und Musik bzw. deren Verpackung gerne in Händen halte. Und so habe ich mich auf die Suche nach dieser Scheibe gemacht, für die in Deutschland z.T. hohe Preise aufgerufen werden, und habe sie in den USA sehr günstig und inklusive Versand entdeckt und bestellt. Jetzt liegt das Album in meinen Händen. Die Hülle selbst ist doch stark gebraucht aber noch brauchbar, aber die CD ist in einwandfreiem Zustand. Und der Klang ist natürlich perfekt(er als im Download). Und die Musik passt sehr gut zu meiner Stimmung, da ich derzeit in einer ähnlichen Situation bin wie Du.
Ich werde daher auch weiterhin Deine Beiträge lesen – vielen Dank dafür schon einmal im Voraus.
Michael Breuer
7. September 2019 um 23:30 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hallo Jürgen,
ich Danke Dir sehr für Deinen emotionalen und freundlichen Kommentar. Ich hoffe doch, dass Du uns gewogen bleibst, obwohl ich nicht versprechen kann, dass aus dem maultierischen Imperium demnächst nicht mal wieder was kommen kann, was zu gefährlichen Kaufreflexen führen könnte. Wir sind halt irgendwie Jäger und Sammler. „The Lone E.P.“ hatte ich eigentlich nie vor zu präsentieren, das war ein spontaner Impuls aus der beschriebenen Melancholie heraus. Der Bericht hat mir geholfen, wieder gerade im Kopf zu werden und wenn die Platte bei Dir ähnlich wirkt wie bei mir, dann weiß ich, dass es richtig war, den Text zu schreiben. Ich kann Dir versichern, dass es auch bei uns, hier bei RockTimes, noch mehr Menschen gibt, die ähnliche Situationen bewältigen müssen und mir persönlich hat es Zeit meines Lebens geholfen, wenn ich erkannt habe, dass ich nicht allein bin mit dem, was mich bedrückt.
Das ist ja gerade der Vorzug eines Warren Haynes, der die Menschen und ihre Verletzlichkeit kennt. Er artikuliert für uns in seiner Musik, was man in Worte nicht fassen kann. Darum lieben ihn so viele und darum bleibe ich am Ball, das kann ich Dir versprechen.
Alles Gute, Michael