Eine unerwartete Sternstunde lässt die Sonne scheinen
Strahlender Sonnenschein lacht über der niedersächsischen Nordwestmetropole vor den Toren des Ammerlandes.
Hier shoppen nicht nur die niederländischen 'Nachbarn' der Partnerstadt Groningen (132km), sondern auch jene des Bundeslandes Bremen (Freie Hansestadt Bremen 48km), die eine umfangreiche Fußgängerzone mit hoher und vielfältiger Geschäftsdichte und kurzen Wegen zu schätzen wissen.
Abiball des Sohnes und nichts Vernünftiges zum Anziehen? Kein Problem, das bereits vor 30 Jahren erfolgreich zu Rate gezogene Männermoden-Fachcenter weiß auch heutzutage noch mit Auswahl und Service-Fachkompetenz zu überzeugen. Leider ist die eigene Geldbörse nicht so überzeugt und bricht latent in Tränen aus. Na gut, dann also fein in der Frühlingssonne ein bewährtes Fachkompetenzzentrum für handwerkliche Brauerzeugnisse aufgesucht, um bei diesem Tränenfluss auf andere Gedanken zu kommen.
Oldenburg ist eine urbane Stadt, studentisch geprägt und daher vom Publikum her recht jung. Noch jünger sind die begeisterten Teilnehmer der 3. Oldenburger Bundeskneipenspiele, welche bereits um 15:00 Uhr begonnen haben und für ein feuchtfröhliches Rämmi-Dämmi zur nachmittäglichen Stunde sorgen.
Aber gut, eigentlich ist der Chronist wegen einer ganz anderen kulturellen Begebenheit hier. In Rom steht an zentraler Stelle ein der Jugendlichkeit unverdächtiges Monument der Antike. Im übertragenen Sinne tritt am heutigen Abend in der Oldenburger Kulturetage ebenfalls ein Monument der Antike auf, etwas despektierlich ausgedrückt. Colosseum sind halt ungefähr so alt wie der Chronist, der sich der Ruine in Rom näher fühlt als dem Jungbrunnen der feiernden Kneipenathleten.
Wenn etwas jung hält, dann ist das allerdings Jazzmusik, der älteste aktive Jazzschlagzeuger der Welt ist immerhin 104 Jahre alt (Leo Pearlstein). Und so ist auch heute der unnachahmliche Chris Farlowe zu erleben, der wohl kaum in einer anderen deutschen Stadt so häufig aufgetreten ist wie in Oldenburg. Farlowe ist ’nur' 20 Jahre jünger als Leo Pearlstein, steht immer noch hinter dem Mikrofonständer, treibt mit selbigem punktuellen Schabernack, wie er grundsätzlich nichts von seinem Humor eingebüßt hat und begeistert bevorzugt in den bluesigen Passagen als 'The Voice', wobei der inzwischen fehlende Druck und eine gewisse Brüchigkeit sein Alter nicht verhehlen können.
- Chris Farlowe, Kim Nishikawara
- Nick Steed, Clem Clempson, Chris Farlowe
- Kim Nishikawara, Clem Clempson, Chris Farlowe, Mark Clarke
- Malcom Mortimore, Clem Clempson, Chris Farlowe, Kim Nishikawara, Mark Clarke
Chris Farlowe gehört nicht zu den Gründungsmitgliedern der Band, seine Kollegen Clem Clempson und Mark Clarke auch nicht, aber alle drei sind seit mittlerweile 55 Jahren dabei und somit der heutige Nukleus von Colosseum. In diesen langen Jahren gab es Brüche, bereits im Oktober 1971 die Auflösung, erst 1994 ging es mit gleicher Besetzung weiter, bis im Februar 2015 die vermeintlich letzten Konzerte gespielt wurden, das drittletzte fand in der Oldenburger Kulturetage statt und war ein wehmütiger, aber künstlerisch unvergessener Triumph.
- Malcom Mortimore, Clem Clempson, Chris Farlowe, Kim Nishikawara, Mark Clarke
- Clem Clempson, Chris Farlowe, Kim Nishikawara, Mark Clarke, Malcom Mortimore
- Chris Farlowe, Kim Nishikawara, Mark Clarke
2018 verstarb dann leider der Bandkopf und Mitgründer Jon Hiseman, seine Ehefrau und Nachfolgerin vom 2004 verstorbenen zweiten Bandgründer Dick Heckstall-Smith folgte 2022 nach langer Krankheit, Dave Greenslade nahm und nimmt die Rente ernst, während Clem Clempson und Mark Clarke vor fünf Jahren beschlossen, doch noch weiter unter der Flagge Colosseum segeln zu wollen, um das Erbe Jon Hisemans fortzuführen.
Der Chronist selbst konstatierte vor nicht allzu langer Zeit: »Und auch wenn Colosseum heutzutage immerhin noch mit drei damals beteiligten Musikern unterwegs sind und an guten Tagen die alte Magie aufflackern lassen können … ihr Kopf, Kapitän und Steuermann in Personalunion ist unersetzlich (…)«
Immerhin ruht sich auch diese zweite Reunion, diesmal mit runderneuertem Personal, nicht auf längst vergangenen Lorbeeren aus, sondern produziert und veröffentlicht verlässlich neues Material, welches anschließend konzertant zur Aufführung kommt. Dabei mutet es sensationell an, dass sieben Stücke vom aktuellen Album XI die Setlist zieren. Das unterscheidet Colosseum eklatant von den meisten ihrer noch aktiven Zeitgenossen und gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass hier nicht ein Oldie-Express gen Rom kriecht.
Allerdings könnte der Zielgruppen-Kulturschock zwischen Bundeskneipenspiele und Jazz(prog)rock mit gehöriger Bluesschlagseite größer nicht sein … die Kulturetage ist erstmals bei einem Colosseum-Gastspiel komplett bestuhlt und die im Scheinwerferlicht gleißende Haar(nicht)farbe des Sängers dominiert die sehr gut gefüllten Reihen.
- Zwei Urgesteine in Form
- Malcom Mortimore, Kim Nishikawara, Mark Clarke
- Chris Farlowe, Malcom Mortimore, Kim Nishikawara
- Der Tastenmagier
- Clem Clempson in hervorragender Form
Schnell wird klar, warum die Band auf das brandneue Material vertraut: Es ist bockstark und passt wie Arsch auf Eimer!
Nicht zufällig sind hier als Hauptautoren der ewig verkannte Saitenartist Clem Clempson und der Tastenmagier Nick Steed zu nennen, beide drücken mit ihrer sagenhaften Virtuosität dem Geschehen ihren Stempel auf, ohne je die Bodenhaftung zu verlieren. Bei aller instrumentalen Klasse der Protagonisten sind es doch nachvollziehbare Songs, die zu Gehör gebracht werden, und eben kein Musizieren zur reinen Selbstbefriedigung.
- Malcom Mortimore, Clem Clempson & Mark Clarke haben Bock
- Nick Steed und seine Tasten
- Einer hat das Zepter in der Hand und ist zufrieden mit seinen „Jünglingen“
Auch Saxophonist Kim Nishikawara bereichert mit seinem individuellen, eher melodiös angelegten Stil das Geschehen, welches von Schlagwerker Malcolm Mortimore abgerundet wird, der sehr rockorientiert und gradlinig zu Werke geht. Das ergibt zusammen einen Sound, der zwar hörbar die musikalische Vergangenheit der Band in Erinnerung ruft, gleichzeitig aber eigene Wege beschreitet und damit die Kapelle im Hier und Jetzt verortet, welche zu keinem Zeitpunkt in Gefahr gerät, zu einem Plagiat ihrer selbst zu verkommen. So ist es auch konsequent, dass ikonische Schlachtrösser wie die Valentyne Suite fehlen.
- Nick Steed
- Nick Steed, Malcom Mortimore, Clem Clempson, Mark Clarke – alles andere als eine Oldie-Kapelle
- The Voice hat alles im Griff
Als kleiner roter Faden fungiert der musikalische Bruder im Geiste, Jack Bruce (Cream), denn "Walking In The Park" vom berühmten Colosseum Live-Album (1971) stammt ursprünglich von der Graham Bond Organization (1965) unter Beteiligung des Bassisten, darüber hinaus zieren seine "Morning Story" (1971) und die Zugabe "Theme For An Imaginary Western" (1969) die Setlist. Speziell bei letzteren beiden Stücken brilliert Mark Clarke am Tieftöner und Mikro, ebenso bei seinem neuen Song "Gypsy", was eindrücklich demonstriert, dass Colosseum gesanglich nicht nur von Chris Farlowe leben und die Performance von einem latenten Jack Bruce-Vibe umweht wird.
Das Konzert ist in zwei Sets aufgeteilt und bereits beim dritten Stück ("No Pleasin'" vom 1997er "Bread & Circuses"-Album) wird klar, dass 'Prof. Dr.' Clem Cempson am heutigen Abend einen Sahne-Tag erwischt hat, wie übrigens auch die Soundverantwortlichen in der Kulturetage. Seine Soli sind erfreulich zahlreich, dramaturgisch fesselnd und von einer bestechenden Güte, die seinem Lebensalter Lügen strafen. Dabei kommt – zumindest für den Chronisten – überraschend häufig die Slide-Technik zum Einsatz, was für zusätzliche Würzaromen sorgt.
Nach insgesamt über zweistündiger Nettospielzeit ist zwar die Sonne inzwischen untergegangen, aber sie scheint unweigerlich in den Herzen aller Beteiligten weiter, die bei dieser unerwarteten Sternstunde der Live-Musik zugegen waren.
Unser Dank geht an Frau Bettina Stiller für die freundliche Akkreditierung.
Bildnachweis für alle Bilder (außer Kulturetage-Logo und Tourplakat) des Events: © 2025 | Olaf 'Olli' Oetken | RockTimes























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