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Desperado / Haltet aus! Desperado Kommt… Live! – CD-Review

Desperado / Haltet Aus! Desperado Kommt... Live! – CD-Review

Jesses, was hat Sireena denn da ausgegraben? Es müsste noch viel passieren, damit dieses Album nicht ganz weit vorn in meiner persönlichen 2018er Bestenliste auftaucht.

Ich gestehe, diese Band war mir bis dato unbekannt. Und nun darf ich so ziemlich alle RockTimes-Attribute vergeben, als da wären: 'Zeitreise, Tipp und Vergessene Perle'. Mit vergessener Perle liege ich möglicherweise daneben, da ich vielleicht ganz alleine auf weiter Flur stehe, wenn ich sage, dass Band und Platte kaum noch jemand kennt.
Allerdings ist mir Desperado auch im großen musikalischen Freundeskreis noch nicht über den Weg gelaufen.

Dass die Truppe jemand aus meiner Runde kennt – diese Idee kam mir allerdings nicht beim Titeltrack. Gequälte Stimme, deutsche Sprache, bisschen härter als NDW. Ok, ’ne nette Scheibe. So mein erster Eindruck. Aber diese Gitarrenarbeit … Keine Frickler, aber dieses Spiel, dieses starke, wie im Vorbeigehen spielen. Das hat dann reingehauen. Und es hat auf die kommenden Nummern neugierig gemacht. Auch "Ausgetrixt" schlägt in diese Kerbe. Man spürt den Rock’n’Roll, man spürt den Geist längst vergangener Zeiten. Man spürt den Drive, die Spiellust, man genießt die immer stärker spielenden Gitarren. Breaks bringen langsam Spannung und irgendwann steht die Connection von Hörer und Musik.

Die ersten beiden Titel – ich spiele sie gleich nochmal. Lauter. Nun ist der Funke da und es geht an das dritte Stück. Und nun ist die Band warmgespielt. Psychedelische und krautige Tunes erklingen und Hell yeah, das knallt rein, die Gitarre legt eine Wah Wah-Sequenz aufs Parkett. "El Breito" fährt, wenn auch treibender, ebenfalls auf der krautigen Rockschiene bis "Herzlich Willkommen" herrlich alt rock’n’rollig die Bude zum Kochen bringt. Hochmelodiös und mit wertvoller Patina trabt der Rocker durch meine Gehörgänge.

Was muss da weiland für eine Stimmung geherrscht haben, als Desperado diese Livenummern zum Besten gaben? Die Aufnahmen stammen aus dem Jahr 1977 und wurden bei Shows in München (Theatron/Olympiapark), Cuxhaven (H.A.-Halle) und in der Dietersheimer Festhalle von Petrus Wippel mitgeschnitten. Petrus, selbst Musiker, war im Übrigen aufnahmetechnisch schwer in der Szene tätig, so z. B. für Hoelderlin, Jane, Kraan, Grobschnitt, Guru Guru, Ramses, Anyone’s Daughter, LA Düsseldorf, …

Deperado tourte viel und unter anderem auch mit Guru Guru. Die Verbindung war wohl der Ex-Guruianer Bruno Schaab, der auch bei Desperado im Line-up stand. So auch beim ersten von Mani Neumeier veranstalteten Finkenbach Festival. Die Band, in der mit Carlo Karges ein weiteres Urgestein deutscher Rockmusik spielte (u. a. Novalis), wollte dann vorliegendes Album in Rille pressen, was aber die Plattenfirma ablehnte, bzw. sie bestand darauf, die Sachen im Studio neu einzuspielen. Das lehnte die Band ab, wie sie es auch bei einem weiteren Versuch ablehnte, den Namen zu ändern. So war das anscheinend damals, man kroch auch des eventuellen Erfolges wegen niemanden in den Allerwertesten.

Bandgründer war übrigens Michael 'Mick' Kessler, der die Sache 1975 in Rollen brachte und von Anfang an den unbekannten Gitarristen Reinhold Goosen ins Boot holte. Nach etlichen Besetzungswechseln war mit Mick, Reinhold, Bruno und Carlo das finale Line-up gefunden. Und die vier hatten es wirklich drauf. Dass sie zu dieser Zeit auf Krautiges mit deutschen Texten setzte, ist bemerkenswert. Ihre Stärke sind aber die psychedelisch getränkten Instrumentalpassagen, wie z. B. "Der Schleier-Tanz". Der Odem der Siebziger weht spürbar aus den Lautsprechern. Auch bei "So eine Scheiß-Situation", einem Song über den damaligen Kampf vieler junger Männer gegen die Einberufung.

Die beiden Gitarren sind in ihrem Spiel unheimlich gut, um des Hörers Aufmerksamkeit in Beschlag zu nehmen. Die eine kann das Wah Wah-Pedal malträtieren, während die andere ihre Linien zieht. Gottlob hat man damals nicht nachgegeben und dieses tolle Live-Dokument dann schließlich auf dem bandeigenen Label 'Heisse Rillen' aufgelegt. Sphärisch jammen die vier Musiker nun los, nachdem der Wehrpflichtige anscheinend den General erschossen hat. Was für eine hammermäßige Monsternummer!

Es lief eigentlich gut für die Band, Material für die zweite LP lag vor und wurde auf Konzerten bereits erprobt, aber Umstände traten ein, die zur Auflösung führten. Nachzulesen, wie vieles andere mehr im absolut informativen Booklet. Da hat Sireena sehr gute Arbeit geleistet, denn im Netz ist fast nichts über diese Band zu finden. Und Sireena hat ein weiteres Schmankerl dazugepackt: Die Demos zur zweiten Platte, die Ax Genrich damals in seinem Studio aufgenommen hat. Diese Nummern gibt es nun erstmals zu hören.

Leider können Carlo und Reinhold vorliegendes Album nicht mehr erleben, denn Carlo starb 2002 hochdekoriert als Gitarrist und Komponist bei Nena. Reinhold segnete elf Jahre später das Zeitliche. Ihnen hat Mick diese CD gewidmet.

Interessant ist, dass das Material der geplanten zweiten Platte mehr textorientiert, denn krautig geworden ist. Das ist aber mitnichten ein qualitativer Rückschritt, denn erstens sind die Texte hörenswert und musikalisch schenken sich auch hier die Musiker nichts. Die beiden Gitarren garnieren so zum Beispiel gerade "Die Zombies, Big Brother und ich" wieder auf’s Feinste. Ansonsten gehen die Stücke äußerst angenehm ins Ohr und werden instrumental immer wieder aufpoliert. Es sind nun nicht mehr die krautigen Jams, die begeistern, sondern schöne rockige deutsche Mucke.

Es bleibt im Nachhinein nur absolutes Bedauern, dass Desperado als Band relativ schnell in der Versenkung verschwunden ist. Und so scheint es, als sei der Albumtitel vorausschauend gewählt worden. "Haltet Aus! Desperado Kommt" – ich habe (unbewusst) ausgehalten. Vierzig Jahre lang, bis Desperado gekommen ist.
2000 Exemplare gab es von der Heisse Rillen-Auflage. Also zuschlagen Leute, diese Perle ist ein weiterer Mosaikstein im Regal deutscher Rockmusik aus der 'guten Zeit'.


Line-up Desperado:

Carlo Karges (Gitarre, Gesang)
Mick Kessler (Schlagzeug)
Bruno Schaab (Bass, Gesang)
Reinhold Goosen (Gitarre, Gesang)

Tracklist: "Haltet Aus! Desperado Kommt… Live!"

  1. Desperado
  2. Ausgetrixt
  3. Big Brother halt dich raus
  4. El Breito
  5. Herzlich Willkommen
  6. Der Schleier-Tanz
  7. So eine Scheiß-Situation
  8. El Breito reitet wieder
  9. Freiheit [Demo] (Bonustrack)
  10. Slidefinger Joe [Demo] (Bonustrack)
  11. Wildes But [Demo] (Bonustrack)
  12. Sie ist ein Tier [Demo] (Bonustrack)
  13. Die Zombies, Big Brother und ich [Demo] (Bonustrack)
  14. Der Schnee vom letzten Jahr [Demo] (Bonustrack)

Gesamtspielzeit:59:09, Erscheinungsjahr: 2018 (1978)

Über den Autor

Ulli Heiser

Hauptgenres: Mittlerweile alles, was mich anspricht
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Mail: ulli(at)rocktimes.de

2 Kommentare

  1. Ulli Heiser

    Hallo Ludwig,

    das ist ja eine tolle Geschichte. Warum die Platte so relativ unbekannt ist, kann ich auch nicht nachvollziehen. Auch für mich war das Neuland. Umso mehr freue ich mich über dei Feedback.

  2. Dr. Ludwig Baumm

    Moin,
    danke für die tolle Rezension! Damals kam mein Bruder, mit dem ich in einer Band spielte, mit Mick bei mir vorbei. Er erzählte, dass er bald ins Gefängnis muss. Ich hatte damals als Student nicht viel Geld, aber ich habe ihm gleich 2 Platten abgekauft, eine davon als Geschenk.
    Es hat mich immer gewundert, dass die Scheibe so untergegangen ist trotz der tollen Musik und Carlo Karges, der ja schon bei Tomorrow’s Gift die Gitarre spielte.
    Schönen Gruß aus Hamburg,
    Ludwig Baumm

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