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Disso!ver / Lagerkoller – CD-Review

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Not macht bekanntlich erfinderisch. Wenn die Not auf den Namen Corona folgt und künstlerischen Ursprungs ist, dann können Tracks schon eigene Wege gehen. So trafen sich im Januar 2020 Michael Drummer von Camera und Roman Biewer von Disso!ver, um in Berlin einige Stücke aufzunehmen. Als die beiden Musiker bis zum späten Abend hinsichtlich Rhythmus, Sounds und dergleichen alles ausprobiert hatten, kam Roman Biewer die zündende Idee, mit Hilfe eines Schraubenziehers, den er durch die Gitarrensaiten gefädelt hatte, ein spezielles Riff aufzunehmen. Das wiederum animierte Michael Drummer zu einem passenden Beat. Soweit der Plan.

Der anschließende erste Lockdown mit einer abgesagten Tour durch Frankreich waren nicht geplant. Der Lockdown führte dazu, dass die Bänder aus der gemeinsamen Session einige Monate schlummerten. Biewer hob nach eigenen Angaben diesen Schatz, begann dazu zu pfeifen und erschuf eine Synthie-Figur, die ihm zum Singen brachte. Freunde halfen ihm, das Material aufzupolieren – mit dem Ergebnis, dass die einzige Textzeile aus den knappen Worten "Du verwechselst mich – mit dem lyrischen Ich" besteht. Für Biewer beginnt hier der Assoziationsraum mit sehr viel Platz für eigene Interpretationen.

Sofort glaubt man zu verstehen, welche Absicht hinter den sieben Tracks des Albums "Lagerkoller" stehen. Welcher Begriff könnte bezeichnender für Corona stehen? Der Name ist hier eindeutig Programm. Neben "Du verwechselst mich" gibt es weitere vergleichbare Stücke, die man getrost der Neuen Deutschen Welle zuordnen könnte. Das treffe aber nicht das künstlerische Niveau, da die vorliegenden Texte mit Witz und Ironie einen anderen Anspruch verfolgen.

Laut Label Barhill Records richtet sich die Musik an Fans von Neo-Krautrock-Bands wie Camera, Die Türen, All Diese Gewalt, Neu!, Tangerine Dream und Can. Textlich stehen nach Angaben der Plattenfirma Düsseldorf Düsterboys, Peter Licht, Hans Unstern, Jens Friebe, Trio und Die Sterne als Wegbereiter. Zumindest gibt es mit Trio ein bekanntes Ensemble aus der Zeit der Neuen Deutschen Welle.

Der Begriff Neo-Krautrock macht die Angelegenheit nicht einfacher, da allein Krautrock regelmäßig unter Musikliebhabern neu erklärt werden muss. Was verdammt ist krautiger? So soll Biewers Musik laut Barhill Records jetzt zunehmend anders klingen.

Unmissverständlich bleibt es eine Nischenmusik für Szenekreise, die Roman Biewer neu geschaffen hat. Er nahm sich der erwähnten Basictracks aus den Sessions mit Michael Drummer, Alex Kozmidi und Henrik Rohde an, fügte neue Instrumente hinzu, arrangierte neu, schrieb Texte, produzierte und mischte. Die Endbearbeitung stammt von Stefan Flad (Die Türen, Die Sterne). Sein Mastering steht dafür, dass die Lieder auf "Lagerkoller" anders klingen als Biewers bisherige Veröffentlichungen. Neben einigen deutschsprachigen Kompositionen gibt es zwei elektronische Instrumentalstücke. Der Opener "Aerosole" fällt dagegen völlig aus dem Raster. Wir hören Elektronisches kombiniert mit experimenteller Musik, dazu Klänge im Stile von Meeresrauschen oder Dschungelweisen mit einem minimalen Tonumfang. Der Schreck von Corona steckt uns angesichts des Wortes 'Aerosole' in den Gliedern. Künstlerische Freiheit steht hier auf sechs Minuten Dauer großgeschrieben.

"Lagerkoller" ist das Debütalbum von Roman Biewer alias Disso!ver. Das gleichnamige Ein-Mann-Projekt der Wahl-Kölners besteht seit 2017. Der Multiinstrumentalist singt und spielt neben Gitarre außerdem Bass und Synthesizer. Gleichzeitig steht er für den gesamten Prozess des Songwriting inklusive Texten, Komponieren, Arrangieren und Produzieren in der Pflicht.

Biewer ist Sänger und Gitarrist der Kölner Indieband The Lo-Fi Fais und war in gleicher Funktion von 1995 bis zu deren Auflösung 2001 bei der saarländischen Metalband The Experience tätig.


Line-up Disso!ver:

Roman Biewer (vocals, guitar, bass, keyboards, programming)
Guests:
Michael Drummer (drums, guitar synths, backing vocals)
Alex Kozmidi (guitar)
Henrik Rohde (guitar)

Tracklist "Lagerkoller":

  1. Aerosole
  2. Keine Parole
  3. Misanthropie
  4. Dysfunktional Funktioniert
  5. Du verwechselst mich
  6. Win Win
  7. Last Exit Ambient

Gesamtspielzeit: 36:37, Erscheinungsjahr: 2021

Über den Autor

Mario Keim

Musikstile: Heavy Rock, Rock, Deutschrock, Hard Rock
Marios Beiträge im RockTimes-Archiv

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