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Pelagic Zone / Latitudes – LP-Review

Pelagic Zone / Latitudes

Als ich vor drei Jahren den damals neuen Studio-Output der Hamburger rezensierte schrieb ich: »Die Musik kommt fast wie live gespielt rüber, wenngleich die Stücke live mit Sicherheit einige Potenzen an Groove, Dauer und Intensität zulegen«. Und ich fragte mich, ob des Live-Feelings, das die Studioplatte verströmte »wie brutal genial müssen die Shows im richtigen Leben sein …?«

Nun, das kann ich jetzt beantworten, denn das neue Werk, zwei edle, blaue Vinylscheiben, live aufgenommen in Hamburg, Hannover und Mayschoss drehen sich seit Tagen ohne Unterlass auf meinem Plattenteller.

Und vorab kann ich sagen, wer auf Jam Rock steht, Jam Rock, der den Geist der Allman Brothers Band, Phish, Umphrey’s McGee oder Widspread Panic atmet, Jam Rock, der auf höchstem Niveau ellenlange Jams (was sonst?) zelebriert, Jam Rock, der Ausflüge in Jazz und Latin unternimmt und Jam Rock, der es schafft, auch die diesbezüglich verwöhnten deutschen Deadheads zu begeistern, der muss diese Hamburger Band, bestehend aus Bernd Ubben (Gitarren, Leadgesang), Peter Urban (Schlagzeug, Gesang), Martin 'Maui' Mundt (Keyboards, Gesang) und Julian Bohne (Bassgitarren, Gesang) einfach auf dem Schirm haben. Und im Regal.

Ich erwähnte die eingeflochtenen jazzigen tunes und auch wenn die Band (zu Recht) schreibt »… doch auch die Altvorderen des Jazz wie Klaus Doldinger oder Herbie Hancock können irgendwann beruhigt das Zeitliche segnen: Sie haben junge Erben!«, so heißt das mitnichten, dass nicht Jazz-affine Jam-Liebhaber nun Ängste bekommen müssen. Herbie und Klaus sind durchaus Rock-kompatibel.

Allerdings ist dieses Live-Jam-Gewitter dermaßen packend, dass ich zum ersten Mal beim Vinyl-Abspielen denke, eine CD wäre jetzt auch nicht schlecht. Man bräuchte nicht aufzustehen und die Platte wechseln, die Show ginge im Wohnzimmer direkt weiter. Dieser Gedanke verflüchtigt sich aber, sobald ich das blaue Teil dann sehe.

Vinyl-Reviews sind anders als CD-Pendants. Beide Medien werden zwar über eine vernünftige Anlage oft gehört (man möchte schließlich auch auf Klang und Dynamik eingehen), aber beim eigentlichen Schreiben einer CD-Rezension sitze ich an einem PC und habe das zu besprechend Teil im CD-Laufwerk. Ich kann dann vor und zurück, kann wiederholen und entspannt schreiben.

Vinyl geht anders, da werden in Echtzeit Notizen auf Papier geschrieben. Beim ersten Hören geht das los. Kein PC in der Nähe, sondern ich, der Sessel, Papier und Stift. NAD, JBL und Thorens sind in Aktion und manchmal muss auch der Rezensent tätig werden, den Stift beiseite legen und sich unter die Musiker (meistens spiele ich dann Luftgitarre) oder Konzertbesucher mischen.
"Latitudes" verlangte beides von mir.

Irgendwann stehen dann erste Gedanken auf dem Papier. Seite 1 der vorliegenden Schallplatte sieht auf dem Notizblock dann so aus:

Startet à la Phish.
Jazziger Grundtouch. Dazu funkige Rhythmussection.
Die Gitarre schiebt sich psychedelisch rein. Psychedelischer Groove nimmt Fahrt auf, ein herrlicher Pianolauf, Wah Wah-Gitarre
Affenstarker Jam
Orgel eröffnet und geht über in einen lateinamerikanischen Monstergroove, um alsbald wieder phishig zu bouncen.
Dann kommt wieder dieser göttliche Allman-Gitarrenlauf.

Das sagt doch bereits alles, oder?

Überhaupt hat Pelagic Zone einen ganz besonderen Stil in ihren Jams. Da ist zum einen immer dieser funkige Groove, der sich zum Beispiel in absolut relaxtem Gitarrenspiel zeigt. Wenn dann wie in "Midst" > "Nurture"  das Wah Wah und anderes Gitarrenzubehör ausgepackt wird, erlebt man die Geburt eines Monsterjams. Alles in im Fluss nach vorne, Gitarre und Orgel spiele sich die Bälle zu, manipulieren den Hörers Gefühlswelt hin zum absoluten Wohlergehen. Über allem schwebt die Mutter Psychedelic und als ob das noch nicht genug wäre nimmt ein Break dramaturgisch äußerst geschickt etwas von der Fahrt, eine tief sägende Gitarre spielt mit einer flirrenden Orgel zu pumpendem Bass und tanzenden Fellen.

Zum anderen sogen die Nummern stets für Abwechslung. Da wieselt mal das Piano durch eine Rhythmuswelle, die Gitarre soliert verspielt und sphärisch zu ruhigerem Fahrwasser…, aber selbst dann kommt das eigene Rhythmus-tretende Bein nie aus dem Takt. Traumhaft ziehen die siebzehn Minuten "Thin Red Line" an einem vorbei und ja, jetzt kommt alles wie aus einem gebrochenen Wasserrohr: Die Allmans, Jerry samt Band, und auch etwas Little Feat schwebt durch den Raum. Aber diese Allman-Gitarre … fantastisch.

"How Up (Do High Knee)" haut einen danach fast von den Füßen (und nun hat die LP eindeutig den Vorteil der kleinen Pause, die beim Umdrehen entsteht). Ein harter, fast brutaler Funk-Bass bläst Mutter Psychedelic fast an den Rand des Universums. Aber einmal auf den dann einsetzenden Groove eingestimmt, steht weiterem Mitjammen nichts im Weg. Eine Dampfwalze ist ein Mimöschen gegen diesen urgewaltigen Drive, Eben hat man Julian den Freischein für seinen Bass gegeben und der macht keinen Hehl daraus, zu zeigen, was er mit den Stahlseiten reißen kann.

Leider ist mit "Void", das sich nahtlos an den Vorgänger anschließt, diese eineinhalbstündige Jam-Sternstunde schon vorbei. Allerdings bringt dieses Stück wieder den Grundtenor ins Spiel, sodass man eigentlich am besten wieder mit Platte eins des Vinyl-Doppeldeckers beginnt. Dann kann man sich nämlich noch eine Premiere anhören, die es auf einer Jam Rock-Platte sicher noch nicht gab: RAP-Gesang!

Ja, auf "Verbs In The Kitchen" wird in diesem Gesangsstil, der anständigen Rockern normalerweise die Fingerknöchel weiß werden lässt, die Band vorgestellt. Stefan 'Taube' Rathjen heißt der Mann und ich denke, dass das nicht sein normaler Duktus ist. Kein Rapper würde sich 'Taube' nennen und den Namen finde ich auch nicht auf den Gangsta-Seiten. Aber das hat was, diesen Sprachgesang im Kontext eines Jams, denn der läuft natürlich während des Rappens. Davon eine ganze Platte und eine neue Schublade wäre zu beschriften: Jam RAP.

Ja Pelagic Zone, die sich übrigens 2009 aus einem Jam-Projekt heraus gründeten (sie trafen sich »regelmäßig Sonntags in einer vom Vorabend noch in Trümmern liegenden Bar in Hamburg-St. Pauli«) kann man attestieren, dass sie den richtigen musikalischen Weg gewählt haben und ihn auch konsequent gehen. Was sich seinerzeit auf der Studio-CD (drei Titel daraus sind auch auf "Latitudes") bereits zeigte, hat sich bewahrheitet. Live ist die Band eine Jam-Bank. Und sie musizieren auch live extrem perfekt  mit hörbarem Spaß am Spielen und wenn sich daran nichts ändert, hat das momentan leidende Prädikat »Made in Germany« zumindest bei dieser Musikgattung höchste Qualität zu signalisieren.


Line-up Pelagic Zone:

Bernd Ubben (Gitarren, Leadgesang)
Peter Urban (Schlagzeug, Gesang)
Martin 'Maui' Mundt (Keyboads, Gesang)
Julian Bohne (Bassgitarren, Gesang)

Stefan 'Taube' Rathjen ("Verbs In The Kitchen" RAP)

Tracklist "Latitudes":

Seite 1

  1. Fragile White Lies (8:19) >
  2. Backwaters (2:44)
  3. Hand Grenades & Harmonies (12:41)

Seite 2

  1. Midst (9:01) >
  2. Nurture (4:15)
  3. Verbs In The Kitchen (10:43)

Seite 3

  1. Free Stationing (6:35)
  2. Thin Red Line (17:03)

Seite 4

  1. How Up [Do High Knee] (10:34)
  2. Void (12:02)

Gesamtspielzeit: 93:57, Erscheinungsjahr: 2016

Über den Autor

Ulli Heiser

Hauptgenres: Mittlerweile alles, was mich anspricht
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Mail: ulli(at)rocktimes.de

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